Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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XIV.

Drama im Ofen – Der Verfasser bewegt sich in guter Gesellschaft – Das Coucher der Souveräne – Der Ehrenmann als Schwindler – Zwei Böcke im Lichte der höheren Vernunft.

Ich habe erzählt, daß der brennende Christbaum nur einen mäßigen Eindruck machte. Ja, aber da hättet ihr sehen sollen, wie Heidédes Vater in seiner Wohnung – Heidéde und seine Eltern wohnen in unserm Hause als unsere Zwangsmieter – also: das hättet ihr miterleben sollen, wie Heidédes »Papa« im Ofen seiner Wohnung an jenem Weihnachtsmorgen ein Feuer anmachte! Ja, du großer Gott! Die schweigend und unbewegt glühende Kerze des Christbaumes, die ist ein lyrisches Gedicht, ist ein gar leises Lied; aber Feuer anlegen und dann dies allmähliche Aufzüngeln und Qualmen und Knistern und Lodern und Prasseln und Knacken und Sausen – ja, du großer Gott, das ist Werden, ist Wachsen, ist Steigerung, ist Handlung, das ist ein Drama! Ja, meine Herrschaften, das ist ganz etwas andres! Da ist vor dem Ofenloch noch viel mehr Feuer und Flamme als drinnen! Da gibt's gar keine Augen, die groß genug sein könnten! Da kann man gar nicht so oft »Licht! Licht!« rufen, wie man entzückt ist! Es ist ein großes unverbrüchliches Seelengesetz, daß der Mensch an nichts so sehr einen Anteil nimmt wie am Werden; es gibt keine brennendere Frage für ihn als das Werden, und kein empfänglicheres Publikum hat das Drama des Lebens und der Bühne als das Kind.

Mit vorwitzig gespitztem Finger am Teetopf haben die beiden Buzi gelernt, was »heiß!« und darum mit Respekt zu behandeln ist. Auch vor dem Ofenfeuer wird ihnen mit schrecklichen Gebärden bedeutet, daß es »heiß! heiß!« ist, und in ihr Staunen mischt sich wohltätiges Grauen, und in heiligem Schauder wiederholen sie: »Hei! hei!« Zwar ist es trotzdem gewiß, das erst ihre gebrannten Finger das Feuer scheuen werden; aber sie brauchen nicht verbrannt zu sein. Zwar ist es gewiß, daß man Kinder wagen soll, sonderlich Buben; aber wer die glücklichste Mischung von warnen und wagen findet, der trifft das Richtige.

An jenem Weihnachtsmorgen erschien auch ein Onkel und schoß trotz unserer großen Erfolge bei Heidéde für mehrere Tage den Vogel ab, und womit? Mit einem Kegelspiel. In der Heidéde-Sprache heißt »Eija« 1. Bett, 2. Schlafen, 3. alles was pendelt, 4. Bauholz, 5. alles, was walzenförmig ist, 6. noch einiges andre. Mit Sturmesgewalt macht Heidéde mir Anzeige von dem neuen Geschenk; »Eija! Eija! Unke! Unke!« D. h. »hat Onkel mir gegeben!« Und wenn er mir die Hühner zeigt, die seine Tante Hertha ihm geschenkt hat, ruft er: »Biep! Biep! Tatte! Tatte!« Hört ihr nichts heraus, wenn er bei jedem Geschenk den Geber nennt? Und was sagt ihr dazu, daß er, wenn man ihm, der so gern Schokolade ißt, ein Stück von diesem höchsten Erdenglück reicht, es unverzüglich seinem Vetter in den Mund schiebt, daß er, wenn man ihm ein zweites verabfolgt, es ebenfalls dem Kleinen geben will, daß er es dann, nachdem man gesagt hat: »Das sollst du haben«, es zwar zum Munde führt, danach aber »Mamma!« ruft und es seiner Mutter in den Mund steckt und erst hierauf selbst ein Stück zu sich nimmt? Was sagt ihr dazu, daß er, wenn Rollerolle ihm die Hälfte meines Brillenfutterals, mit dem er doch so gern spielt, weggenommen hat, ihm auch die andre Hälfte reicht, weil Rollerolle ja sonst nichts damit anfangen könnte? Und was sagt ihr dazu, daß Rollerolle nicht nur »Bitte« macht, sondern nach jeder Gabe ganz von selbst auch »Dakke?!« sagt? »Bitte« sagen ist ja keine Kunst; denn dann hat man noch nichts; aber wenn man was gekriegt hat, jedesmal »Danke« sagen, das zeugt von anständiger Gesinnung. Ich kann mir nicht helfen: ich werde das Gefühl nicht los, daß ich mich bei diesen jungen Leuten in guter Gesellschaft bewege.

Natürlich empfind ich das als ein höchstes Großvaterglück und empfind es auch mit einem gewissen Stolz; aber das laß ich niemand merken, und kein Mensch soll glauben, daß ich ihm ein »g« für ein »k« machen und ihm meine Enkel für Engel verkaufen möchte. Ich denke nicht dran. Heidéde z. B., wenn er längst zu Bett gebracht ist – aber halt: da muß ich ja erst den Abendbericht erstatten. Wie bei anderen Fürstlichkeiten das »Lever« eine große Sache ist, so ist es bei diesen das »Coucher«. Es ist ein ganzes, zusammengesetztes, umständliches Ritual. Nach den feierlichen abendlichen Waschungen mit ihren zahlreichen begleitenden Gebräuchen (Aufdrehen sämtlicher Hähne, Ausziehen des Stöpsels aus der Badewanne, Ausgießen der Schale, Belutschen des Waschlappens trotz Verbots usw. usw.) wird Heidéde zunächst zu Rollerolle ins Bett gelegt; das ist Weltordnung. Dann wird Rollerolles spröde Gesichtshaut mit einer Salbe eingerieben. Danach muß Heidédes durchaus nicht spröde Gesichtshaut natürlich ebenfalls eingerieben werden. Und da Rollerolle auch am Arm etwas spröde ist und eingefettet wird, so muß selbstverständlich auch Heidéde am Arm eingefettet werden. Damit dürfte bewiesen sein, daß der Mensch ein Vetter des Affen ist. Hierauf müssen alle, die das Bett umstehen (bei schwachem Besuch 4 bis 5 Personen) untertauchen und dann plötzlich über dem Bettrand wieder auftauchen und dazu den Gesang der eierlegenden Henne ertönen lassen:

»Dockdock dockdock dockdock dark!!«

Das hab ich auf dem Gewissen; ich hab es eines Tages angefangen, und das ist nun der Fluch der bösen Tat, daß wir fortzeugend Eier müssen legen. Nachdem ein Stieg Eier zusammen ist, umarmt endlich Heidéde seinen Vetter aufs zärtlichste, sagt: »Naaach, Bäbi?« küßt ihn und läßt sich in sein eignes Bett tragen.

Also: wenn er längst zu Bett gebracht ist und man ihn im tiefsten Schlafe wähnt, hört ein zufällig am Schlafzimmer Vorübergehender plötzlich laut geschwungene Reden, Gesänge oder Juchezer, und wenn er eintritt, sieht er Buzi den Großen »mit Rednergebärden und Sprechergewicht« steil im Bette stehen. Aber schon im selben Augenblick liegt derselbe Buzi lang in den Kissen, gräbt das Gesicht tief in den Kopfpfühl und sagt »Eija!« Das heißt »Ich schlafe längst!« oder mindestens heißt es: »Ich liege ja, was willst du mehr?« Also Anfälle von Schwindel hat auch schon dieser Ehrenmann.

Ferner muß berichtet werden, daß beide jungen Herren augenblicklich die bekannte Periode der »Bockigkeit« durchmachen. Das ist die Zeit, da der Wille an sich ihnen Vergnügen macht und sie sich unsern Wünschen verschließen, auch wenn die Weigerung für sie von gar keinem sachlichen Belang ist. Heidéde schnappt jetzt allerlei Wörter von unsern Lippen auf; so hat er das Wort »appetitlich« aufgefangen. Ich kann euch auf Manneswort versichern: es ist zum Tollwerden entzückend, wenn sein appetitliches Mäulchen »appetiti« sagt; überhaupt könnte ich stundenlang zuschauen und zuhören, wenn diese Lippen, Zähnlein und Zünglein eines Kindes, diese göttlich feine Werkstatt der Sprache, ihre Arbeit üben; es ist, wie wenn ein Kolibri singt, nur noch viel feiner. Natürlich heißt es nun manchmal: »Buzi, sag einmal ›appetitlich‹« Und dann zeigt sich der Kolibri zuzeiten als Bock. Er will nicht, weil er eben nicht will. In solchen »läßlichen« Dingen macht es nun den allergrößten Eindruck auf Böcke, wenn man sie merken läßt, daß man ohne ihre Geneigtheit sehr gut weiterleben kann, daß es einem in hervorragendem Maße »wurscht« ist, ob sie »appetiti« sagen oder nicht. Gewöhnlich sagen sie's dann bald von selbst. Bei notwendigen Forderungen aber verfährt man genau wie bei den zoologischen Böcken; man hilft durch kategorischen Zuruf oder durch körperliche Überredung nach.

Man braucht nicht erst zu betonen, daß von Böcken nicht lautere Vernunft zu erwarten und somit auch bei Rollerolle und Heidéde dieses Himmelslicht noch nicht zu reinstem Glanze entfacht ist. Daß Heidéde die Hand in eine Vase zwängt, aus der er sie dann nicht wieder herausbringen kann, will ich ihm so hoch nicht anrechnen, auch nicht, daß er, statt sie durch wohlüberlegte Drehung und Massenverteilung wieder zu befreien, klagend zur Tante läuft; aber daß er dann noch fünfmal die Hilfe der Tante anrief, weil er noch fünfmal die Hand hineingequetscht hatte, das find ich für einen Erzieher reichlich unvernünftig.

Ach, da ist noch mancherlei, was mit unserer höheren Vernunft nicht stimmt. Ein Kreisel, der sich tadellos auf der Tischplatte dreht, ist ja ganz nett; aber er darf nicht so lange laufen, sonst muß man eingreifen. Und hübsch ist er erst, wenn er entzwei ist oder richtiger, wenn man ihn entzwei machen kann. Überhaupt: ein Gegenstand, an dem man keine Veränderung vornehmen kann, ist zwecklos, sinnlos und fliegt bei erster Gelegenheit über Bord. Wenn sie ein Spielzeug glücklich entzwei gemacht haben, so halten sie's einem hin und rufen »Heil! Heil!« d. h. »Mach's wieder heil!« Sie verlangen's aber nur mit dem Hintergedanken, es danach sogleich wieder in Stücke zu zerlegen. Neuerdings bedeutet »Heil« bei ihnen dasselbe wie »entzwei«. So vereinigen sie zwei entgegengesetzte Bedeutungen in einem Wort; es ist sprachliche generatio aequivoca.

Und noch immer möchten sie den ganzen Inhalt der Schöpfung in den Mund stecken, wenn's nur immer anginge oder zugelassen würde. Wenn sie sich des Morgens nach dem Frühstück an ihr Tagewerk begeben, das im Verschieben von Möbeln durch sämtliche Zimmer, im Ausbessern von Schlössern, Tischen, Stühlen, Klavieren, Belecken und Abreiben von Spiegeln usw. besteht, dann – das muß ich zugeben – tun sie es mit pflichtbewußtem Ernst und vollkommenster Sammlung; aber selten sieht man sie anders als mit einer Zigarre im Munde, sei es nun Marke »Wäscheklammer« oder »Teelöffel« oder »Hausschlüssel« oder »Bauholz« oder »Badepuppe« oder welche sonst. Was sie leisten, erkennt man am besten, wenn man sie fünf Minuten allein gelassen hat; das Ergebnis ihrer Arbeit kommt dann genau auf das hinaus, was die Studenten einen »Budenzauber« nennen. Übrigens »Studenten«! Neulich beobachtete ich sie bei einem regelrechten Zweikampf; es war eine Mensur auf Eßlöffel ohne Binden und Bandagen, mit richtigen Primen, Terzen und Sauhieben.

Vollkommen abgeschlossen ist ihre »Kinderstube« eben noch nicht, und wenn mir manchmal bei ihrem Anblick »Orest und Pylades« auf der Lippe schweben, so werden im nächsten Augenblick »Max und Moritz« daraus. Seitdem Heidéde zur Weihnacht auch einen kleinen Stuhl bekommen hat, ist er von meinen Trittleitern unabhängig; er kann diesen gradus ad Parnassum durchs ganze Haus schleppen und nimmt mit seiner Hilfe alle zwei Minuten einen »ungeahnten Aufstieg«. Kürzlich ging er gestiefelt und gespornt auf den frischgemachten Betten seiner Eltern spazieren, und zwar auf der besonders delikat gearbeiteten Spitzen-Zierdecke. Natürlich die Schuld seiner Mutter: sie hatte ihn eine ganze halbe Minute aus den Augen gelassen!


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