Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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V.

Heidéde bringt es zum Magister der freien Künste und zum Komödianten, macht krumme Finger und verhilft dem Verfasser zu seinem größten Erfolg.

Schreitet so die rein geistige Ausbildung des Prinzen in erfreulicher Weise fort, so gilt dasselbe nicht minder von seiner künstlerischen. Nicht nur, daß er in den ritterlichen Künsten des Reitens, Hauens und Radaumachens merkliche Fortschritte macht, er hat auch sieben freie Künste und damit Anspruch auf den Titel eines magister artium liberalium erworben. Ich führe die sieben Künste hier an:

1. Er ist ein Virtuos auf der Fensterklappe. Er kann die lange Eisenstange, durch die man die obere Klappe meines Fensters öffnet und schließt, zwanzig-, dreißig-, vierzigmal hintereinander auf- und abbewegen, bevor sein Bedarf gedeckt ist. Die Klappe kreischt dabei nämlich in den Angeln, was seinen Ohren Musik zu sein scheint, wie ich aus dem dankbar-glücklichen Gesicht schließe, mit dem er mich anschaut. Es ist ein Blick, wie meine Frau und ich ihn wohl tauschen, wenn wir zusammen Bach, Beethoven oder Mozart hören. Und da es seiner ahnungslosen Jugend gefällt, dem Alter aber weniger, so kann man es heutzutage ruhig eine Kunst nennen.

2. Er kann »Backe backe Kuchen« machen! Ich gebe zu, das ist nicht das Höchste in der Kunst; aber wenn man dabei die Händchen betrachtet, dann kommt man auf seine Rechnung.

3. Er kann das festgeschlossene Mündchen so plötzlich öffnen, daß es schallt, wie wenn man einen ganz kleinen Pfropfen aus einer ganz kleinen Flasche zieht. Er vollführt diese Kunst mit der Künstlerfreude eines Schauspielers, der den Hamlet spielen darf, und freut sich unendlich über den ungeheuren Erfolg, den er damit bei mir, auch noch bei der zwanzigsten Wiederholung, erzielt. Und jedesmal frage ich mich wieder: Woher kommt bei diesem noch nicht einjährigen Kinde das Schelmengesicht? – Diese drei Künste bilden das Trivium.

4. Wenn man ihn fragt: »Wo ist unser Buzi?«, dann zeigt er auf sich; »Wo ist Tick-tack?«, nach der Uhr; »Wo ist Beier-beier?«, nach der unter der Krone hängenden Klingel, die man beiern lassen kann. Das ist seine Geographie.

5. Seine Rhetorik ist inzwischen zu ganzen Reden fortgeschritten; ich fürchte immer, er könnte Parlamentarier werden; man hat mit solchem Kind schon seine Sorgen. Der nüchterne Mann der Wissenschaft wird freilich sagen: »Wie das Kind alles Tun der Erwachsenen nachahmt, so ahmt es auch ihre Reden nach, aber rein physiologisch, als Gebrauch der Sprechwerkzeuge, als Hervorbringung wortähnlicher Lautverbindungen.« Wer das glauben will, mag es tun; aber wenn die Reden dieses Knaben inhaltlos sind, so liegt die Befürchtung, daß er Parlamentarier werde, nur noch näher; ich indessen höre aus einer Rede Heidédes mehr heraus als aus den Redebündeln ganzer Fraktionen. Was ich daraus verstehe, könnte ich aber auch nur auf Heidédisch wiedergeben, und das versteht ihr ja nicht.

6. Wenn man ihn fragt: »Wie schmeckt es?« patscht er sich auf den Bauch, d. h. eigentlich auf die Brust; aber das ist gar nicht so verkehrt, wie es scheint, weil in seinem Alter das Essen Herzenssache ist und übrigens eine gute Milchsuppe oder Hummermayonnaise in der Tat unserm Gemüt wohltut und nicht dem gefühllosen Bauch. Es kommt freilich auch vor, daß er auf die Frage »Wie schmeckt es?« nicht sich, sondern der ihn fütternden Mutter oder Großmutter auf den Leib klopft. Und das ist in allem Ernst ein Beweis von großem Verstande; denn er zeigt damit, daß er weiß: es kommt beim Schmecken weniger auf das Klopfen als auf die Bauchgegend an. Und immer wieder hat er recht: Wenn es ihm schmeckt, schmeckt es in ihm uns allen.

7. Er kann, wie schon berichtet, »Mumm mumm – kiek!« machen. Er versteckt seinen Kopf hinter der Bettdecke oder hinter einer höchst durchsichtigen Stuhllehne, oder er hält nur die Händchen vor die Augen, und dann erheben wir ein trostloses Klagegeheul: »Ach, wo ist unser Buzi! unser Buzi ist weg!« und nach einer Weile – er läßt uns ordentlich zappeln! – schießt er mit grausamer Plötzlichkeit und mit Augen gleich Feuerrädern hervor und ruft »Tiek!«, worauf wir dann mit maßloser Freude feststellen: »Ach, da ist er ja!« Mit dieser Kunst schließt sich das Quadrivium und damit der Kreis der sieben schönen Künste, mit denen er jetzt schon das Einjährigenexamen summa cum laude bestehen würde.

Und ich werde die Frage nicht los: Woher kommt bei alledem und in diesem Alter das Schelmengesicht? Woher dies lieblich-listige, lauernde Lächeln, das ganz unzweifelhaft sagt: »Jetzt will ich mich mal wieder verstecken, will ihnen bange machen, daß sie weinen, dann will ich plötzlich auftauchen, dann werden sie wieder lachen und tanzen, und alles rings herum wird köstlich sein!«? Schon solch ein Kind produziert sich, führt sich vor, bringt seine Scherze zur Aufführung wie ein Schauspieler, rechnet auf den Erfolg, ja, sucht die Wirkung durch Hinauszögern zu steigern! Ich habe mich schon genug gewundert, daß das Kind im frühesten Alter schon aufnehmenden Humor hat, daß dieser Junge über meine komischen Gesichter oder Kapriolen lachte, sie von meinem ernsten Gesicht unterschied; aber solch ein Kind hat auch schon eigenen, tätigen Humor! Vielleicht hat Heidéde den Humor als Sonderbegabung mitgebracht; aber ich glaube, man findet Ähnliches bei allen gesunden Kindern. Wann entsteht der Humor im Kinde? Ich weiß den Anfang nicht. Ich kann es mir nur so erklären: Der Humor ist auch so etwas wie eine Kategorie a priori. Die Fähigkeit zu lachen und das Bedürfnis nach Lachen wird mit dem Menschen geboren wie Herz und Lunge. Das kleinste Menschenherz schon schnappt nach Lust und Lachen wie der kleinste Mund nach der Mutterbrust; der Mensch braucht sie sowenig zu lernen wie das Atmen.

Damit der geneigte Leser von unserm Künstler auch keine allzu günstige Meinung bekomme, will ich bemerken, daß er auch Künstlerlaunen hat, was bei einem so großen Könner am Ende kein Wunder ist. Doch darf man auch wieder nicht meinen, daß diese Launen aus Selbstüberschätzung und Verwöhnung durch übertriebenen Beifall entsprängen. Wir verhehlen unsere Freude über seine Leistungen nicht; aber wir halten auch weise zurück mit unverhältnismäßigen Lobeserhebungen, weil dieses kleine Köpfchen schon gar vieles versteht und Schmeichelei vom Tadel so gewiß unterscheidet, wie sein Träger ein Mensch ist. Nein, seine Künstlerlaune ist die regelmäßige des Kindes: zehnmal fordert man es auf, »Kuchen zu backen«, und zehnmal bleibt es unseren Wünschen taub, ja lächelt uns wohl gar mit Verschmitztheit an, als wollt es sagen: »Ihr könnt lange zappeln, bis ich mich herbeilasse«; aber fünf Minuten später, wenn kein Mensch mehr daran denkt – dann backt es Kuchen im Überfluß. Eigentlich ist das ja eine vornehme Laune; der Künstler will nicht befohlen sein, sondern aus freier Ergießung geben, oder er rächt sich, wie denn auch Hans v. Bülow, als er in einer Gesellschaft von der Dame des Hauses durchaus ans Klavier geschleift werden sollte, sich endlich hinsetzte und bis drei Uhr in der Früh das ganze »Wohltemperierte Klavier« von Bach durchspielte.

Daß Hoheit überhaupt Launen haben, daß Sie z. B. eine Speise plötzlich aus der eigenen Schüssel nicht mehr nehmen wollen, dagegen aus der Schüssel der Mutter dieselbe Speise zu empfangen sich huldvollst bereit finden lassen, hab ich schon berichtet; daß wir nicht Hofschranzen genug sind, um solchen Launen nachzugeben, versteht sich von selbst. Friß, Hoheit, oder hungere! Hoheit sind aber auch eine Kraftnatur, sozusagen ein ganz klein wenig »Rauhbeinchen«. Wie Hochsie z. B. Dinge, die Hochihnen nicht passen, mit einer einzigen Handbewegung vom Tische fegen, so schlagen Sie wie eine Windmühle um sich und der Mutter den Löffel aus der Hand, wenn Sie satt sind. Das ist nun höchst entschuldbar; es spricht daraus ein entschiedener Widerwille des Gesättigten gegen das Nötigen, und das ist sogar etwas Erfreuliches. In diesem Alter sind die Kinder noch (wie die Tiere!) zu gesund, um sich zu überessen oder zu übertrinken; das Übermaß ist eine Gewöhnung, die erst mit steigender Kultur kommt. Aber Chronistenpflicht zwingt mich, nun auch etwas mitzuteilen, was weniger erfreulich ist. Heidéde bezeigt Lust, nach seiner Umgebung zu schlagen – das könnte noch bloßes, harmloses Kraftbetätigungsverlangen sein – weniger harmlos scheint mir, daß er auch kratzt. Kratzen geschieht mit krummen Fingern, und was krumm ist, ist verdächtig. Ja – ich greife jetzt zeitlich etwas vor – er hat schon seiner Tante, als sie ihm in irgend einer Sache zu widerstehen wagte, die Nägel fest in die Wange gekrallt und dazu ein böses, wütendes Gesicht gemacht. Herbei, ihr Freunde, die ihr sagt »Der Mensch ist gut« – herbei und helft meiner Unwissenheit! Woher kam dies Schlagen, Kratzen und Wüten? Von außen in ihn hinein kann es nicht gekommen sein; denn er kann dergleichen an seiner Umgebung nie beobachtet haben. Er hat nie eine Umgebung gehabt, in der man sich schlägt, kratzt, krallt oder wütende Gesichter schneidet. Nein, das ist nicht in ihn hinein-, das ist aus ihm herausgekommen und muß also von Anbeginn in ihm gewesen sein. Ich sage darum noch nicht: »Der Mensch ist böse«, sage es noch nicht. Denn Heidéde stellt sich nicht vor, daß Krallen wehtut, und beabsichtigt nicht diesen Erfolg. Er gibt nur seinem gesteigerten Willen einen gesteigerten, körperlichen Ausdruck und empfindet dabei das Gefühl des Zornes. Aber hübsch find ich es nicht von ihm; meine Sympathie geht in diesem Falle nicht mit; die seiner Tante auch nicht. Dieses Mädchen, statt die herrliche Gelegenheit zu erkennen, das Kind sich »frei entwickeln zu lassen«, gab ihm einen deutlichen Klaps auf die Hand, daß er sie verblüfft ansah und dann schrie. Dieser Schlag war ein Symbol. Es schadet nichts, wenn solch ein Symbol wehtut; aber es ist nicht unbedingt nötig. Heidéde soll fühlen: Hier ist eine Grenze, hier stoß ich mit dem Kopfe gegen eine Mauer, hier ist ein Wille, der zurückschlägt, und so erspart ihm dieser Schlag vielleicht hunderttausend Schläge des Lebens. Sein Charakter allerdings wurde schon wieder mal »gebrochen«.

Natürlich wird es bei verschiedenen Kindern verschieden lange dauern, bis man ihren »dummen« Willen in seine natürlichen und geheiligten Schranken zurückgewiesen hat, bei starrwilligen und dummen Kindern länger als bei gesundwilligen und klugen. Heidéde versucht wohl noch gelegentlich, trotzig zu schreien und zu heulen; aber da er klug ist, strapaziert er sich nicht unnötig. Er stößt einen Schrei aus, sieht uns mit zwinkernden Augen von der Seite an: »Wie ist die Witterung?«, macht noch einen zweiten, schwachen Versuch und gibt die Sache dann als aussichtslos auf. Sein Seelchen ist schon ein empfindliches Barometer und hat ein feines Gefühl für dicke und leichte Luft. Freilich hatte meine Frau einmal das Pech, daß er, als sie ihn ausschalt, dies für einen prachtvollen Scherz hielt und ihr hell ins Gesicht lachte. Aber das lag nicht an ihm, sondern daran, daß sie eine ganz elende Schauspielerin ist; das ist einer der Gründe, weshalb ich sie seiner Zeit um ihre Hand gebeten habe. Ich dagegen besitze ein großes mimisches Talent; ich kann aus meinen Augen Blitze schleudern und meine Stimme donnern lassen, während ich ihn vor Liebe fressen möchte.

Und nun – ich habe mich ja bis hierher aller großväterlichen Eitelkeit mit catonischer Strenge entschlagen; aber man darf von mir auch nichts Übermenschliches verlangen und erwarten, daß ich das nun Folgende verschweige. Obwohl ich es also immer abgelehnt habe und immer ablehnen werde, bei Serenissimo Buzi I. den Hofmarschall von Kalb zu spielen: als ich kürzlich 6 (sechs!) Tage lang verreist gewesen war, erkannte Heidéde mich bei meiner Heimkehr nicht nur trotz Hut und Mantel sofort wieder, nein, er stieß helle Freudenlaute aus und streckte mir verlangend beide Ärmchen entgegen! Was soll ich euch weiter sagen?! Es war der größte Erfolg meines Lebens. Der Größenwahn, der sich seit diesem Erfolge in mir entwickelt hat, geht immerhin nicht so weit, daß ich mir einbildete, er habe mich in jenen sechs Tagen vermißt. Es ist ja möglich, daß mein Erinnerungsbild ab und zu in ihm aufgetaucht wäre; aber geäußert hat er meines Wissens nichts dergleichen. Und wenn ich niemals zurückgekehrt wäre, so würde er mich bald vollkommen vergessen haben; wir alle, wenn wir aus seinem Gesichtskreise schieden, würden bald für immer in seiner Seele verlöschen. Ein wehmütiger Gedanke. Und seltsam genug, daß das frühe Kindergedächtnis, das doch schon so vieles aufnimmt und bewahrt – wenn wir nach sechs Tagen heimkehren, weiß es sehr genau: mit dem hatte ich schon einmal das Vergnügen – daß dieses Gedächtnis noch so vollkommen vergessen kann, wie wir's im späteren Leben manchmal, und immer vergebens, wünschen. Ich trage mit mir noch Erinnerungen aus meinem zweiten Lebensjahr; aber aus dem ersten klingt wohl in keines Menschen Leben ein Klang herüber.


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