Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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IV.

Heidéde als Dschingiskhan, als Entdecker (wer wünscht sein Autogramm?) – als Südpolfahrer, als Bürokrat, als Dienstmädchenverehrer und als Schneider.

Man darf übrigens nicht glauben, daß Heidéde nur sinnlichen Genüssen zugänglich wäre; seine künstlerische Freude an schönen Gegenständen ist – wenigstens nach erfolgter Sättigung – nicht minder groß. Die neuesten Märchen seiner Anschauungswelt sind die blitzenden Mundtuchringe und die blitzenden Teelöffel. Diese Dinge funkeln nicht nur; man kann die Ringe wundervoll über den Tisch rollen und auf den Fußboden fallen lassen; man kann sie siebenhundertmal aus dem Wagen werfen, so daß die Erwachsenen mit dem Aufheben eine ausreichende Leibesübung haben, und man kann sie mit allerhöchster Genehmigung in den Mund stecken. Kleine Kinder haben nicht nur ein ständiges Bedürfnis zu beißen; sie sind wie die Chemiker, die alles mit der Zunge und vorwiegend mit der Zunge prüfen, ohne Rücksicht auf die Appetitlichkeit der Gegenstände; der Mund ist bei ihnen ein wichtiges Untersuchungsorgan, das Auge, Ohr und Hand unterstützen muß. Ringe und Löffel müssen Heidéde bei jeder Mahlzeit ausgeliefert werden; wenn man sie ihm aber wegnimmt und andere Gegenstände dafür hinlegt, dann fegen Hoheit mit einer einzigen großen Herrscherbewegung alles vom Tisch herunter und sagen auf Heidédisch: »Das Zeug könnt ihr für euch behalten!« In gebührender Rücksicht auf diese Eigentümlichkeit des Monarchen werden ihm neuerdings Gegenstände aus Glas und Porzellan möglichst ferngehalten. O ja, Hoheit machen kurzen Prozeß, und Sie haben Launen, echte Despotenlaunen! Z. B. beim Speisen. Mitten im Essen gefällt es Höchstihnen, den nächsten Löffelvoll nicht mehr von der Mutter, sondern von der Großmutter oder von mir oder von einer Tante kredenzt haben zu wollen. Oder die Mutter muß bei jedem Löffel »Happ, happ!« sagen oder sonst ein Mätzchen machen; dann zeigen sich Hoheit geneigt, weiterzuspeisen. Als vollendeter Herrenmensch aber zeigt er sich, wenn ich nach dem Mittagessen auf dem Sofa liege und er auf meinem Schoße reitet. Nach dem Ritt erhebt er sich, stellt sich auf mein linkes Schienbein und versucht, den schweren marmornen Schiller vom Bord zu holen. Wenn er daran gehindert wird, versucht er dasselbe mit einem schweren Bronzeleuchter. Wenn auch das nicht gern gesehen wird, geht er zu dem anderen Leuchter über und danach zu dem marmornen Goethe. Daß alle diese schweren Dinge mir auf den Leib fallen würden, zieht er offenbar nicht in Erwägung. Dabei bewegt er sich zwanglos von meinem Schienbein über Schenkel, Unterleib, Magen, Brust und Hals in mein Gesicht, allwo er mir mannhaft den Fuß aufs Auge setzt, wie Wilhelm von der Normandie ihn auf Engelland setzte. Er geht sozusagen über Leichen, wie es die unschuldigen Kinder alle tun. Von einem bewußten Nietzscheaner würde ich mir das niemals gefallen lassen; aber über diesen unbewußten muß ich jedesmal so herzhaft lachen, daß er bei solchem Erdbeben den Halt verliert und mir in die Arme fällt.

Immerhin: wenn er sich zum Despoten entwickeln sollte, er wird zweifellos ein aufgeklärter Despot! Man denke: Meine Frau legt ihn eines Morgens auf ihr Bett, und da sie ihm ein Vergnügen bereiten möchte, so dreht sie die elektrische Nachtlampe auf dem Nachttischchen an. Folgenden Morgens legt sie ihn auf dasselbe Bett. Im Nu dreht er das Köpfchen der Lampe zu, streckt das Ärmchen danach aus und macht »Äh! äh!« Er sagt sich: Hier war ich schon einmal, und da gab es Licht! Das muß wieder sein! – Ist das Beobachtung? Ist das Gedächtnis? Ist das Genialität? Aber das ist ja noch garnichts.

Mein Arbeitszimmer hat ein Fenster nach Norden und eins nach Süden. Ich stell ihn auf eine der Fensterbänke, damit er hinausschaue. Jedesmal dreht er sich augenblicks herum und schaut nach der Gegenseite: Da ist noch so ein Fenster! Na? Ist das für einen ¾jährigen eine Leistung? Aber das ist auch noch nichts.

Im Speisezimmer zünde ich mir bei hellem Tag eine Zigarre an. Er schaut selig in die Flamme und dann – neigt er das Köpfchen und blickt von unten her in die Kuppel der elektrischen Krone: Da leuchtet's auch zuweilen so! Licht und Licht verbindet sich ihm zum Begriff. Na?? Ist das etwas?? Nein, das ist noch immer nichts.

Daß das große Ding an der Wand mit dem weißen, kreisrunden Gesicht, dem blanken Hin und Her und dem schönen, tiefen Stundenklang »Tick-Tack« heißt (er sagt »Ti-Ta«), das weiß er. Da sitzen wir beiden einstmals auf dem Fußboden und spielen miteinander. Im Laufe unserer Unterhaltung zeige ich ihm meine Taschenuhr, während ich zwischen ihm und der Wanduhr sitze. Ich halt ihm die Uhr ans Ohr – das Geräusch scheint ihm merkwürdigerweise unangenehm zu sein wie ein Floh im Ohr; er winkt ab – dann laß ich durch einen Druck auf die Feder die Kapsel aufspringen – das gefällt ihm besser. Er nimmt die Uhr in die Hand, betrachtet das Zifferblatt, und dann – ja dann beugt er sich weit an mir vorbei, blickt auf die Wanduhr und sagt: »Ti-Ta!«

Nun, ist das vielleicht eine Leistung, oder ist das keine Leistung? Ist hier nicht vielleicht etwas grenzenlos Gelehrtes vor sich gegangen: die Vereinigung der notae essentiales der Uhr zur notio »Uhr«? Bin ich nicht vordem viel zu hart gegen die Mütter gewesen? Ist es nicht mehr als begreiflich, daß eine unberatene Mutter in solch ein Geschöpf eine Milliarde Eier, einen Gaurisankar von Butter und einen Amazonenstrom von Milch hineinfüttern möchte? Daß ich Autogramme von diesem hervorragenden Manne sammle, ist wohl mehr als begreiflich; wenn er auf meiner Fensterbank steht, laß ich ihn denn auch mit seinen warmen Vorderpfötchen gegen die frischgeputzten, kühlen Fensterscheiben patschen, soviel er will!

Ja, wenn er auf meiner Fensterbank steht! Jedes der zwei gewaltigen Fenster hat mindestens 10 Riegel, Haken oder Klinken. Jeden oder jede dieser Riegel, Haken oder Klinken muß er dann öffnen oder wegschieben oder wenigstens anfassen und daran rütteln; leider sitzt alles fest und ist nicht entzweizukriegen. Jedes Fenster hat auch zwei Läden; sie müssen aus der Wand hervorgezogen und wieder hineingeschoben werden. Wenn das eine Fenster besorgt ist, muß das andere dran; Heidéde schenkt mir keinen Haken, keinen Riegel, keine Klinke, keinen Laden. Für die hochsitzenden muß ich selbst auf einen Tritt steigen und ihn emporheben.

Wär ich nun ein eingebildeter Großvater, so würde ich sagen: »Dieser Knabe wird, wenn er den Südpol entdecken will, vor dem 90. Grad nicht umkehren!« Es ist ja auch möglich, daß es so komme; aber vielleicht handelt es sich auch nur um einen Bürokratismus des Kindes. Das Kind hat noch kein eigenes Urteil, darum ist es Bürokrat und tut bei jeder Wiederholung genau dasselbe, was es früher getan, wie etwa ein Registrator seine Liebesbriefe mit einem Aktenzeichen versieht, weil er's bei all seinen Schriftstücken getan. Natürlich handelt sich's bei meinem Enkel nur um den allgemeinen kindlichen Bürokratismus; daß er im besonderen Anlage zum Pedanten hätte, glaub ich nicht. Ein Pedant liegt stets genau in der Längsrichtung des Bettes, den Kopf auf dem Kopfkissen, die Beine hübsch geradegestreckt, und so bleibt er liegen. Es gibt nichts, was Heidéde peinlicher vermiede als diese Lage; jede andere ist ihm lieber und wird von ihm erprobt. In Stellungen, die man für ausgeklügelte Erfindungen eines Foltermeisters halten sollte, schläft er mit besonderer Inbrunst. Jüngst fand ich ihn am untersten Ende und genau in der Querrichtung des Bettes liegend. Ich machte seine Mutter darauf aufmerksam, daß auf diese Weise in dem einen Bette sieben Kinder Platz hätten. Sie fand das nicht sparsam und winkte lachend ab. Und doch ist es eigentlich die beste Sparsamkeit, dem Vaterlande viele Kinder zu schenken. Der Deutsche der Gegenwart und Zukunft wird mindestens 12 Kinder haben, besonders Söhne.

Mit meinem Großsohn müssen wir noch einmal auf die Fensterbank zurück. Dort fährt nämlich alle 10-20 Minuten die Vorortsbahn vorbei, und für ein Kind ist die Eisenbahn ein so gewaltiges Schauspiel, daß sie schon um dessentwillen erfunden werden mußte. Und nun erst am Abend, wenn sie von hundert Lichtern blinkt und die Leitungsdrähte gelbe und blaue Funken sprühen! Dann gibt es nur eins, was noch schöner – allerdings gleich siebenmilliardenmal schöner ist: das sind die Augen des Buben. »Ba! Ba!« ruft er, wenn sie vorüber ist; das soll »Bahn« heißen und bedeutet, sie solle wiederkommen. Er glaubt nämlich noch, der Fahrplan aller Dinge gehorche unseren Wünschen. Da das bekanntlich und zum Glück nicht der Fall ist, so ruft er lauter und lauter »Ba!! Ba!!«

»Stentorn gleich, dem starken, an Brust und eherner Stimme,
Dessen Ruf laut tönte wie fünfzig anderer Männer.«

Der wird nicht nur den Almaviva, der wird auch den Pizarro und den fliegenden Holländer singen, und die Posaunen Wagners werden ihn nicht überwältigen.

»Ba ....« ist nach »Ti-ta« nun das zweite Wort unserer ärmlichen Sprache, das er spricht; von nun an wird er täglich mehr die Vogel-, Menschen- und Engelsprache Edens verlernen ....

»Ba ....« ist ein leichtes Wort. Außer den Vokalen sind es die Lippen- und Zahnlaute, die ihm am leichtesten fallen: b, m, w, d, t, n, dazu j und l.

Und eines Tages sagt er »Mamma«. Ei, das gab wohl ein großes Fest, und alles lief herzu, am schnellsten die Mutter, um aus diesem Munde den höchsten Titel zu empfangen? Ach nein, sie sieht zu gut und ist zu stark, um voreilig zu glauben. Ohne Zweifel unterscheidet er sie längst zu ihrem Vorteil von anderen Frauen; aber einen Namen hat er noch nicht für sie. Ihre große Stunde ist noch nicht gekommen. Kluge Leute haben gemeint, daß mamma, mamme, mammia usw. das Schnappen der Lippen nach der Mutterbrust sei. Möglich, daß Heidéde nur in solchen Erinnerungen schwelgte, als er »Mamma« sagte. Möglich auch, daß er das Wort nur »prägte«, weil es so leicht von der Lippe fällt. Oder war es noch ein Wort aus besserer Welt?

»Anna Nin«, sagt er eines Tages gedankenvoll. Wer ist »Anna Nin?« War sie seine Braut im Paradiese? Seine Spielgefährtin?

»War sie wohl in abgelebten Zeiten
Seine Schwester oder seine Frau?«

Daß ihm eine angeborene Neigung zum anderen Geschlecht innewohnt, ist immerhin wahrscheinlich und schließlich ja nur erfreulich. Wenn geklopft wird, blickt Heidéde sofort nach einer bestimmten Tür; er weiß, daß sie sich jetzt öffnet und wahrscheinlich eine bestimmte Person eintritt: Else, das Dienstmädchen. Offenbar liebt er Else; er lächelt sie an, solange sie da ist; man kann es geradezu »poussieren« nennen.

»Ein jeder Jüngling hat wohl mal
'n Hang zum Küchenpersonal.«

Else, das Klopfen und der »Herein«-Ruf sind ihm noch eine untrennbare Vorstellungskette. Wenn ich an seinen Wagen klopfe oder »Herein«! rufe, blickt er sofort nach der gewissen Tür. Und wenn die Eisenbahn trotz seines gebieterischen, wahrhaft imperatorischen »Ba!! Ba!!!« nicht kommen will und ihn nach anderer Lust verlangt, wenn er dann an meiner Uhrkette zerrt, um die »Ti-Ta« hervorzuholen und auch diese nicht kommen will, weil sie für solche Taschendiebe zu fest sitzt, statt ihrer aber der am anderen Ende der Kette befestigte Zigarrenabschneider aus der anderen Westentasche rutscht, dann betrachtet er diesen mit Aufmerksamkeit, sieht mich an und sagt »Ti-Ta«. Und dann hält er den Zigarrenabschneider ans Ohr. Alles, was aus der Westentasche kommt, ist »Ti-Ta«. Und das Aneroid-Barometer, der Kompaß, alles, was rund und weiß oder blank ist, ist auch »Ti-Ta«. Wenn der menschliche Geist sich an die Eroberung der Welt macht, umzieht er sie mit weiten Begriffskreisen; aber täglich rückt er den Dingen näher und näher, und täglich zieht er die Kreise enger, um in reifen Jahren wieder den umgekehrten Weg zu gehen. An beiden Enden starrt er in die Unendlichkeit. Ein Schneider würde sagen: er heftet die Erscheinungen der Welt zunächst mit Reihfäden und großen Stichen zusammen, um sie dann mit kleinen und kleinsten Stichen zusammenzunähen. Aber auch der Schneider kommt nicht ans Ende: er kann nicht Loch neben Loch setzen und kann auch nicht alle Dinge der Welt zu einem Gewande vereinigen.


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