Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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VI.

Buzi I. ist kein Huhn, wohl aber ein Eros – »Loddloddloddlloddl!« – »Nein!« – Vorsicht! – Und abermals Vorsicht!

In meinen Aufzeichnungen über Heidéde nimmt die Spalte »Geist« bei weitem den größten Raum ein; danach folgt die Spalte »Wille«, danach »Körper« und erst zuletzt die Abteilung »Gemüt«. Darüber müßt ihr mit mir nicht rechten, sondern mit dem Schöpfer der Menschen, der jedenfalls im frühen Kindesalter die geistige Entwicklung in den Vordergrund gestellt hat. Das Gemüt kommt beim Menschen später; aber bei Heidéde kommt es bald.

Zunächst hab ich wieder vom Geist zu sprechen. Freilich entwickelt sich Buzis Körper in solch harmonischem Gleichschritt mit dem Geiste, daß er für seine tote Umgebung gefährlich wird und diese für ihn. Er wird darum, wenn sein ganzer Hof anderweitig beschäftigt ist und sich ihm nicht widmen kann, auf Stunden in ein Laufgitter gefangen gesetzt, wo er sich dann friedlich beschäftigt wie Christian II. von Dänemark mit der Spinne. Er will sich an den Gitterstangen hochheben und wählt dazu zwei nebeneinandersitzende Stangen. Das geht nicht. Da greift er nach links und rechts weiter aus, wählt also zwei weiter voneinander entfernte Stäbe, und mit diesen verlängerten Hebelarmen geht es glänzend. Ist das Geist? Natürlich kann es sich nicht um ein Überlegen und Erkennen des mechanischen Vorganges handeln, vielmehr waltet hier die Praxis des Instinkts, die in der frühen Entwicklung des Menschen der Theorie vorausgeht; aber Geist ist es jedenfalls, daß er sofort ein anderes Mittel ergreift, nachdem das eine versagt hat. Das Huhn in seiner grenzenlosen Dummheit will zwanzigmal hinaus, wo doch durchaus kein Ausgang ist; der Mensch wählt, wenn ein Weg nicht zum Ziele führt, sofort einen andern, wenigstens, wenn er Heidéde heißt. So hat Heidéde auch einen großen Stoffball mit einer wohltönenden Schelle drin und einem Faden daran; wenn man diesen Ball schwingen läßt, ersetzt er eine ganze Alpenwirtschaft. Diesen Ball will er sich heranholen und versucht, ihn mit den Händchen zu fassen. Das ist beinah so unmöglich, wie wenn der Mensch das Weltall umfassen will. Aber an dem Ball ist ja ein Faden; wenn man den heranzieht, folgt der Ball. Also macht man's so. Hier ist Geist. Man hat sich auch gemerkt, daß durch die bewußte Tür des Speisezimmers nicht nur die anklopfende Else, das Dienstmädchen, sondern auch die »Mamma« kommt, und zwar gewöhnlich mit dem Futternapf. Darum blickt man jetzt nach jener Tür nicht nur, wenn's klopft oder »Herein!« gerufen wird, sondern auch, wenn das Wort »Mamma« fällt. Er weiß jetzt, daß die liebe kleine Frau, die so gute Sachen bringt, »Mamma« heißt; aber sagen kann er's noch nicht. Wenn er früher »Mamma« sagte, verband er noch keine Vorstellung damit; jetzt, da er mit dem Schall »Mamma« eine Vorstellung verbindet, fehlt seinen Lippen das Wort.

»Mamma« ist doch auch die »scharmante Person«, die ihm jeden Tag das unaussprechliche Vergnügen des Bades bereitet. Eros mit den Wellen spielend – das solltet ihr sehen! Nichts gehört so gewiß zusammen wie Wasser und Kind; keine innigeren Kameraden als Kind und Wasser! »Kind ist der Welle lieblicher Buhler«, könnte man sagen. Mir ist immer, als würde das Wasser am Kinde lebendig und spielte und koste frohlockend mit ihm. Kinder sind im höchsten Grade hygroskopisch; wenn sie zwei Minuten mit Wasser spielen, sind ihre Kleider bis auf den letzten Faden mit Wasser gesättigt. Und ihr solltet Eros sehen, wenn er mir berichtet, daß das aus dem Hahn in die Wanne kollernde Wasser »Loddloddloddloddl!« mache und das durch das Abzugsloch gurgelnde Wasser »Rrrrrrr!« (natürlich Hamburger Gaumen-R; Zungen-R wäre auch zuviel verlangt), Berichte, die man natürlich mit brennender Aufmerksamkeit entgegennimmt wie nie vernommene Kunde von unerhörten Naturwundern. Die Augen solltet ihr sehen! Der Bote, der den Sieg von Marathon meldete, kann es nicht wichtiger gehabt haben! Er, nur er hat das Recht, den Stöpsel aus dem Abzugsloch zu ziehen und jenes wunderbare »Rrrrr!« hervorzurufen, und ich möchte keinem raten, statt seiner den Stöpsel zu ziehen! Zuweilen badet ihn auch die Großmutter, und um ihn auch beim Gesichtwaschen und beim Abtrocknen bei guter Laune zu erhalten, hat sie das berühmte Talerspiel mit ihm getrieben:

»Hast 'n Taler,
Geh zu Markt,
Kauf 'ne Kuh,
Kälbchen dazu,
Kälbchen hat 'n Schwänzchen,
Kille kille Hänschen!«

Bei jeder Zeile patscht man in das dargebotene Händchen, bei der letzten aber kitzelt man die innere Handfläche. Ein äußerst spannendes Lustspiel in sechs Akten! Nun machte die Großmutter das Talerspiel auch einmal im Wohnzimmer; da sah er sie plötzlich mit hellem Lächeln an und sagte: »Loddloddloddloddl!« Soll natürlich heißen: »Das haben wir beim Baden gemacht.« Nun heißt das Talerspiel auch »Loddloddloddl!« Mit Frühlings-Marienfäden bindet das Kind die Dinge zusammen – ach, sie zerreißen, bevor noch der Sommer kommt!

Einen Reichtum besitz ich: in meinem Garten und Haus fehlt es das ganze Jahr hindurch nicht an Blumen. Also hat auch Heidédes erster Frühling Blumen. Als ich ihn das erstemal mit Blumen zusammen beobachtete, fühlte er sich gerade einmal wieder als Kraftmensch, und er grapste in den Strauß hinein wie der Bauer in ein Bündel Heu. »O o o!« machte die Mutter, »das tut man nicht!« und dann streichelte sie die Blumen und sagte »Ei, ei, schöne Blumen!« Sogleich tat er dasselbe und sagte »Ei?! Ei?!« Das Zugreifen hat nämlich der Mensch von Natur; aber das Gemüt muß man ihm vormachen. Bei Heidéde ist das Beispiel auf den fruchtbarsten Boden gefallen; er behandelt seitdem alles, was blüht und grünt, mit geradezu ritterlicher Zartheit, liebkost es und riecht daran. Auch das Riechen hat man ihm vorgemacht und hat dazu »Hapischa!« gesagt. Das ist eigentlich eine herkömmliche Dummheit; denn eine Hyazinthe ist doch kein Schnupftabak; aber warum sollten wir gar keine Dummheit machen! Für den Buben hat es den Nutzen gehabt, daß er nun für alle Blumen, Gräser, Kräuter, Sträucher und Bäume einen Namen weiß; sie heißen alle »Ha! Ha!« und an allen riecht er. Eine Künstlerin des Lichtbildes, die ihn liebt, hat ihn im Garten in solcher Stellung erwischt und in ihre Kamera eingefangen. In gespannter Haltung streckt er beide Hände mit gespreizten Fingern nach hinten, und mit dem Näschen erreicht er gerade den Narzissenkelch.

In der Bildung machen wir Riesenfortschritte. Nicht nur das Wort »Ha! Ha!« und die Vorstellung »Mamma« hat man sich zugelegt, man versteht auch, wer »Pappa« ist (der gute, freundliche Mann, der am Morgen so ungeheuer fesselnde Dinge treibt wie Anziehen, Zähneputzen, Rasieren usw.); man weiß, wer Großmutter, wer Tante Irene und Tante Hertha ist, von Else ganz zu schweigen. Wenn er des Morgens nicht an den Frühstückstisch will, weil er lieber spielen möchte, so brauch ich nur zu sagen: »Willst du nicht Ei essen?« und sofort zeigt er Verständnis. »Schokolade« versteht er nicht, aber »–lade«, und für die Praxis genügt das reichlich. Und was besonders ins Gewicht fällt: er weiß, wer mit dem Schall »Großvater« gemeint ist. Mehr als das: durch meine unablässigen Bemühungen um die Gunst Seiner Hoheit ist es mir endlich gelungen, einen Titel zu ergattern. Mein allergnädigster Souverän haben huldreichst geruht, mir den Titel eines »Daddy« zu verleihen, und reden mich damit an. Nach einigen Tagen mußte ich freilich entdecken, daß Hoheit auch andere, namentlich ältere Herren so bezeichneten, und das goß mir allerdings Wasser in den Wein. Was ist ein Titel, den auch andere haben?

Hofgunst ist fast so unzuverlässig wie Volksgunst, und eins ist für ihre Erhaltung besonders notwendig: Anwesenheit. Ein kluger Höfling drückt sich möglichst andauernd im Gesichtskreis seines Herrn herum. Darin hatten es die Eltern Sr. Hoheit, im Vertrauen auf ihre Verdienste um den jungen Herrn, versehen, als sie auf drei Wochen verreist waren. Bei ihrer Heimkehr nämlich stutzten Hoheit einen Augenblick; dann aber entglomm gemach ein Wiedererkennen in Ihren Zügen, und nun benahmen Sie Sich freilich doppelt gnädig und serenissime.

Serenus heißt, wie gesagt, »heiter«; es bedeutet aber auch »hell«, und Heidéde wird, wie man sieht, täglich heller. Und damit steigt langsam ein Schild vor uns auf, eine Warnungstafel mit dem Worte: »Vorsicht!« Vorsicht; denn dies Kind versteht vielleicht mehr, als ihr ahnt; ja, es ist sogar höchstwahrscheinlich, daß ein Kind fast immer mehr versteht, als ihr glaubt. Nun wird Heidéde in seinem Heimathause niemals etwas Schlechtes oder Schlimmes hören oder sehen; aber er könnte zuviel des Guten hören oder sehen, zuviel des Guten über sich selbst. Und nun heißt es, unsere Begeisterung zügeln, unsern Jubel unterdrücken, unser hellstes Entzücken hinunterschlucken. Wie schade ist das und wie schwer! So bleibt mir nun, wenn dieser Frühlingssproß in ranker Kraft und junger Seligkeit durch meinen Garten hüpft, nichts andres übrig als still bei mir zu denken:

»Dir, du weltenweiter Sommerhimmel,
Streck ich unsichtbare Arme aus:
Nimm mit Garbenduft und Wälderklingen
Meinen Jubel in dein heilig Haus!« –

Die Beliebtheit des jungen Mannes beschränkt sich nicht auf unser Haus; wenn er morgens spazieren kutschiert, macht er bei fremdesten Leuten Eindruck. Als meine Tochter kürzlich mit ihm heimkehrte, berichtete sie mir mit den Augen ihres Jungen: »Alle mögen ihn leiden.« Worauf ich ihr in diese Augen sah und erklärte: »Das ist mir unverständlich.«

Heidéde kann von Glück sagen, daß alle Personen seiner Umgebung sich in jener Vorsicht einig sind, wenigstens in dem Vorsatze, Vorsicht zu üben. Aber die Fremden, die fremden Miterzieher, sie verwickeln die Sache! Sie sind zuweilen von einer alles überrennenden Ahnungslosigkeit. Sie sagen solch einem Kinde Dinge ins Gesicht, die für eine Kino-Schauspielerin noch zu dick sind.

Halt: ein wichtiges Wort, das Heidéde verstehen gelernt hat, hätt ich fast vergessen, ein äußerst wichtiges Wort, das Wort »Nein!« Eine Garnrolle laß ich auf seinem Bettrande entlanglaufen, lasse sie entgleisen und in sein Bett plumpsen. Das Stück hat einen ungeheuren Lacherfolg, wird also wiederholt. Auch ein zweites, drittes, viertes – ein siebentes, achtes, neuntes Mal. Dann, da ich noch einen Nebenberuf habe, breche ich ab. Buzi I. verlangt Fortsetzung. »Nein,« sag ich, »jetzt ist es genug.« Buzi schreit, was aber bekanntlich nicht tragisch genommen wird. Ja, wär es nun nicht viel gescheiter und würde sich das Kind nicht sofort beruhigen, wenn ich die Rolle verschwinden ließe und sagte: »Die Rolle ist weg!«? Ich glaube kaum. Ich laß im Gegenteil die Rolle vor seinen Augen liegen und beschränke mich auf ein blankes Nein, ohne Angabe von Gründen. Und erhebe mich wieder einmal zu einer billigen, aber sehr weisen Randbemerkung, zu der nämlich, daß ein Kind in der Regel verloren ist, wenn seine Erzieher nicht »Nein« sagen können. Gerade komm ich von einer Mutter, die den Klavierdeckel zuklappte, weil ihr 2½jähriges Söhnchen nicht mehr auf den Tasten herumhämmem sollte, und die auf sein kraftvolles Begehren nach Fortsetzung erklärte: »Geht nicht mehr, ist kaput.« »Nein! ist nicht kaput,« versetzte das Kind mit merkwürdig kalter und trockner Entschiedenheit und hatte meine volle Sympathie. Auch dieser Junge ist klug; er weiß schon mit 2½ Jahren, daß seine Mutter lügt.

Von nun an, wenn unserm Buben etwas versagt werden muß, hört er ein entschiedenes »Nein« (die Gründe werden viel später nachgeliefert); er schaut einen dann mit vergrößerten, etwas wehmütigen Augen an – er ahnt nicht, wie schwer er's einem macht! – aber er folgt. Ja, gelegentlich beim Spiel spricht er sogar dieses neue, auffallende, unangenehme Wort wiederholt vor sich hin: »Nein?! Nein?! Nein?!«, und mir scheint ein ganz leiser, parodistischer Spott daraus zu klingen; aber das soll mich nicht kränken; die Hauptsache ist, daß er gehorcht. Denn einst muß er hoffentlich befehlen.

Mit tiefem Mitgefühl seh ich immer wieder Eltern, die ihren Kindern »Nein« zu sagen beginnen, wenn es längst zu spät ist, und sehe sie bittere Leiden ernten für etwas, was sie doch, bei aller Torheit, als Liebe gemeint und gegeben haben, oft unter unglaublicher Selbstverleugnung. Laßt euch um Gottes willen nicht irre machen: Kinder lieben niemals Schwächlinge. Mittlerweile hat die Mahnung »Vorsicht!« zu ihrem ersten moralischen Sinne noch einen zweiten, körperlichen bekommen; denn Hoheit Heidéde – empfangt die Kunde mit der geziemenden Achtung! – Hoheit Heidéde beginnen zu laufen!


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