Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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IX.

Altmodischer Goethe – Heidéde erweist sich als Urenkel eines Edelmanns und als Vogel im Winter – Seine Mutter erhält die höchste Auszeichnung – Nächtliche Dämonen.

Ehrfurcht – Autorität! Ich habe darüber so grenzenlos altmodische Ansichten, Ansichten eines Menschen, der bald hundert Jahre im Grabe liegt und Goethe hieß. Dieselbe Mauer, derselbe Baum, derselbe Turm erscheint einem einjährigen Menschen viel, viel höher, als einem zwanzigjährigen. So erscheinen wir Erwachsenen dem kleinen Kinde nicht nur in unserm Körper, nein, in all unserm Wesen viel, viel höher und mächtiger als später. Und so soll es sein, nicht um unsertwillen, um der Kinder willen. Meine Frau und ich sind unseren Kindern immer Autoritäten gewesen und haben uns doch nie darum angestrengt. Und nie hat sich eins unserer Kinder gescheut, uns zu widersprechen, wenn Überzeugung und Gewissen es forderten. Und nie haben sie uns anders widersprochen als mit Ehrerbietung, und niemand hat sich über ihren Widerspruch inniger gefreut als wir. Wir könnten auf den Ruhm verzichten, für Heidéde Autoritäten zu sein; aber für ihn wär's schade, wenn wir's nicht wären. O du mein tiefgeliebtes Heidédelein, wie arm, wie bettelarm, wie verlassen und einsam würdest du dein Leben dahinwandern, wenn du mit zehn, mit dreißig, mit siebzig Jahren kein Wesen mehr über dir erblicktest, wenn du nicht im Tode noch mehr Ehrfurcht hättest als Erkenntnis!

Ist das nun noch Ehrfurcht, wenn er mir schon minutenlang auf das graue Haupt patscht und zwischendurch mit herausforderndem Spitzbubengesicht die Wirkung beobachtet?

»Donnerwetter, Donnerwetter!« schnauze ich im Tone eines schwerbeleidigten Feldwebels.

Und er lacht – er lacht – lacht! – ja still: wie lacht er denn? Wie – – –

Das ist ja ein neuer Fund! Das ist ja – das ist ja das gute Lachen! Was durchbrennt mir denn wieder die ganze Brust und ist so unsäglich beglückend in seiner Glut? Heidéde, was höre ich denn? Du willst ein guter Mensch werden? Unendlich verschieden, unendlich bedeutungsreich ist der Menschen Lachen. »Ich höre dich so gern lachen,« sagte einst ein Freund zu einem herrlichen Mann und Dichter, und das glaub ich; ich habe selbst sein Lachen gehört. Im guten Lachen springt die Herzblume auf bis an den Grund des Kelches und zeigt ihr Inneres rückhaltlos der Welt. Das gute Lachen mußt du mitbringen; du kannst es niemals lernen. Glückselig, wer dies Lachen hat; glückselig, die mit ihm hausen!

Heidéde, so wirst du denn nicht nur eine heitere Seele tragen, sie wird heiter sein, weil sie rein ist? Heidéde, das ist das Heiligste von allen Wundern, die du mir verkündet hast, und heute muß ich glücklich sein, muß es in allem Leid der Zeit.

Mir schrieb ein kluger und treuer Erzieher vor einigen Wochen: »Es gibt Menschen, denen unsereins die Reinheit ihres Lebens schon in der Jugend anmerkt.« Das ist wahr. Wenn ich Heidédes unbewachten Blick sehe, wenn ich sein gutes Lachen höre, weiß ich: hier ist ein adliger Mensch geboren, ein Mensch, der ewig unschuldig bleibt.

So plump werdet ihr mich nicht mißverstehen, daß ihr meint, ich glaubte an Menschen ohne Schuld und Fehle. Aber es gibt Menschen, deren Schuld nie im Herzen wurzelt und ihre Wurzeln nie bis ins Herz hinabstreckt. An ihrem Blick – das Auge lügt nie – und an ihrem guten Lachen erkennt man solche Menschen.

Jedes Lachen Heidédes ist eine Sommerfrische.

»Donnerwetter, Donnerwetter!« schnaube ich. Und er lacht – lacht – ja – still! – – wie lacht er denn? Ich muß in weite, weite Fernen horchen ... Und es klingt aus weiter, weiter Ferne her – das Lachen seines Urgroßvaters – meines Vaters. So lachte mein Vater. Vater, was ist nun der Tod? Jetzt eben bist du lachend auferstanden! Vater, mein lieber Vater, was ist der Tod, wenn dein Lachen unsterblich ist und in deinem Lachen dein gütetrunkenes Herz? Heidéde, ich muß dich an mich pressen, und wenn du schreist, du mein Enkel und du mein Vater!

Es ist hübsch, daß deine Eltern dich nicht nur Gerhard, sondern dazu noch Asmus benannt haben. Es war ein ehrfurchtsvoller Gruß an einen edlen Mann. »Asmus« hieß mein Vater. Nun ist sein Gruß zurückgekommen.

Mein Vater war ein stiller, viel träumender und grübelnder Mann. Sein Urenkel kann jetzt, mit 1¼ Jahren, drei Stunden allein sein und sich mit sich selbst beschäftigen. Paßt auf: trotz aller Radaufreude behalt ich doch noch recht mit dem »stilleren Geistmenschen«!

Womit nun wieder nicht gesagt werden soll, daß der junge Mann sich ununterbrochen geistvoll benehme. Ihr kennt alle das Wiederholungsfieber der Kinder; es kann schlimm sein. Wenn Heidéde etwa ein neues Wort gelernt hat, z. B. »Stiefel«, das er etwas unvollkommen, aber zum Küssen »Sießl« ausspricht (die s-Laute mit etwas anstoßender Zunge), dann ist er mit Vergnügen bereit, es beim Spiele siebzigmal, auch häufiger, vor sich hinzusingen, immer in demselben Intervall der kleinen Terz: »Sießl, Sießl (es-c, es-c) usw.«, bis ein Verzweifelnder sich befriedigt erklärt. Aber selten tu ich ihm Einhalt. In trübsten Winterzeiten meines Lebens hab ich wohl aus meinem Garten einen seltsamen Vogel gehört. Er ist imstande, stundenlang auf demselben Zweige zu sitzen und alle zwei Sekunden lang »Djiip!« zu machen, nichts als »Djiip!«. Es war nicht eben schön; aber immerhin war es Vogellaut im Winter.

Da Heidéde nun einmal mit Menschen wird Umgang pflegen müssen, so muß er natürlich wohl oder übel ihre Sprache lernen; er macht auch Fortschritte darin, zum Glück ohne alle Überstürzung, zumal wir noch immer keine Eile haben. Ein Mann heißt jetzt »Dadda« bei ihm, auch wenn er im Bilde erscheint; sein Vater ist ihm aber doch ein besonderer Mann und hat jetzt seinen langersehnten, rechtmäßigen Titel »Bappa« erhalten, und wenn Heidéde jetzt »Mamma« sagt, so meint er zunächst seine Mutter damit. Zunächst! Denn außerdem preßt er alles, was ihm zutiefst am Herzen liegt, ergießt er sein heißestes Sehnen und Verlangen in dieses Wort. Wenn er irgend etwas recht dringend wünscht, so fleht er »Mamma!« Die alles spendende, immer helfende Allgüte und Allmacht heißt für das Kind »Mamma!« Kann ein Weib, kann ein Mensch reichere Ehre auf seinen Scheitel häufen? Und er spricht es mit Augen und mit einer Weichheit der Tonbildung, daß es einen Stein bewegen kann und man ihm ein Rasiermesser geben möchte, wenn er's verlangte. Mädels, Mädels, die ihr in dieser Zeit geboren werdet, ich sag's euch im voraus: es wird nicht leicht sein, ihm zu widerstehen! Als er kürzlich bei Freunden seinen Antrittsbesuch gemacht und mit einer gleichaltrigen Dame, wie es Respektspersonen zukommt, auf dem Sofa gesessen hat, hat er denn auch unaufhörlich »Eii?! Eii?« gemacht, ihr die Backen gestreichelt und sie endlich beim Kopf gefaßt und geküßt. Allerdings darf man dies nicht allein auf die angeborene Ritterlichkeit Sr. Hoheit zurückführen; er ist überhaupt kinderlieb. Und das ist, im Ernst, etwas Merkwürdiges; man wird nicht allzu oft Kinder finden, die kinderlieb sind. Er freundet sich auf der Straße mit allen Kindern an und nennt sie »Bäbi«, auch die 6- oder 8jährigen. Ja, auch der kleine Beethoven auf dem Schrank im Salon ist ein »Bäbi«, weil er eben klein ist.

Der Humor Serenissimi beschränkt sich nicht mehr darauf, den Durchbruch der Sonne abzuwarten; er macht selbst Sonne. Er foppt uns, sogar den ehrwürdigen »Patriarchen« des Hauses. Er reicht uns ein Spielzeug entgegen, als wolle er's uns schenken, und wenn wir zugreifen wollen, zieht er's rasch zurück und lacht dazu wie ein dreimal destillierter Schelm. Auch das wiederholt er viele Male, und dumm, wie wir sind, greifen wir jedesmal wieder zu. Er jedenfalls setzt in unsere Dummheit ein unbegrenztes Vertrauen.

Und in dies lustige Köpfchen schleichen zur Nachtzeit schon die Angstträume. Ein klägliches Weinen ruft uns an sein Bett; wir nehmen ihn auf, und in seinen doppelt großen Augen lebt noch das Schrecknis, das sie gesehen. Die zärtlichsten und vernünftigsten Zureden der Wachen vermögen lange nichts gegen die Tücke des Dunkels, und auch, wenn die Tränen endlich versiegt sind, durchbebt das Körperchen noch lange ein tränenloses Schluchzen und Seufzen. Die zwei Engel, die das schlummernde Kind sollen weisen »in Himmels Paradeisen«, haben ihren Dienst verschlafen und finstere Geister hereingelassen.

In der Eisenbahn hörte ich jüngst eine Mutter zu ihrem strampelnden Söhnchen sagen: »Wenn du nicht artig bist, kommt der Schaffner und schneidet dir beide Beine ab und steckt dich in'n Koffer!« Eine Eigenschaft der Menschen kann man nämlich nie zu hoch einschätzen: die Dummheit. Zur Ehre der Menschheit sei es gesagt, daß sich ob jener Mutter bei den Mitreisenden »allgemeines Schütteln des Kopfes« erhob.

Solche Dinge hört Heidéde nicht, das wird man mir glauben; also woher kommt ihr, teuflische Dämonen, die ihr nicht warten könnt und schon den Schlaf der Unschuld beschleicht? Bringt der Mensch auch euch mit aus dem Jenseits vor der Geburt? »Träume kommen aus dem Bauche,« tröstet sich Franz Moor, und auch Heidédes Träume könnten wohl, trotz sorglicher Ernährung, einmal aus dieser Gegend kommen. Aber daß nicht alle Angstträume der Kinder daher kommen, ist gewiß.


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