Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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VII.

Ein Trunkener wird nüchtern – 1–7 – Die gefühlsrohe Familie – Schlossermeister und Hundezüchter – Die Papierschere als Ideal.

Natürlich hat auch Heidéde sich erst an den Gegenständen festgehalten und ist an ihnen entlanggelaufen, bevor er freiweg marschierte; aber lange hat er sich mit dieser Vorschule nicht aufgehalten. Wie rührend ist dieses lächelnde Bangen, dies sorgliche Erwägen und Abwägen, dies Ringen ums Gleichgewicht – jeder Schritt ein großes, weitausschauendes Unternehmen, das wohl vorbereitet sein will; wie ergreifend der Triumph, wenn man nach zwei wirklichen, selbstgemachten Schritten in die dargebotenen Hände der Mutter taumelt! Wie anmutsvoll ist dieses Schwanken in der Trunkenheit, die noch vom Paradiese her in Hirn und Augen hängt und nun der geraden Nüchternheit der menschlichen Lebensstraße sich bequemen soll!

Auch die Unsicherheit überwindet Heidéde schnell, und nach zwei Tagen wär's eine Lüge, zu sagen: »Heidéde kann gehen«, nein, Heidéde läuft, läuft Sturm; Heidéde scheint nur laufen zu können!

»Froh, wie seine Sonnen stiegen
Durch des Himmels prächt'gen Plan,
Läuft Heidéde seine Bahn,
Freudig, wie ein Held zum Siegen!«

Ich bin überzeugt, wir hätten ihn auch einen oder zwei Monate früher zum Laufen drillen können, wenn in dieser Anstalt überhaupt gedrillt würde. Statt dessen hat man in dieser Anstalt unsagbar viel Zeit. Der hohe Ehrgeiz: »Er kann schon gehen! Er kann schon sprechen! Er kann schon bis 5 zählen! Er kann schon lesen! Er kann schon Gedichte machen!« – dieser Ehrgeiz geht uns gänzlich ab. Dieser Einjährige ist, von den Moralien abgesehen, durchaus auch Freiwilliger und soll es mindestens noch sechs Jahre bleiben. Die ersten sechs, sieben, meinetwegen noch mehr Jahre seines Lebens soll das Kind schlafen, auch wenn es wacht; Leib und Geist und Gemüt sollen schlafen und nur wachen, wenn sie wollen. Denn viel Kraft muß sich in der Schale sammeln, aus der ein langes Leben trinken soll.

»Ruhe nur! Auf tausend Bäumen
Wachsen Früchte, die dir munden.
Ruhe nur! Noch nicht entsendet
Ist der Pfeil, dich zu verwunden.

Ruhe nur! Schon springt die Quelle,
Deinen Gaumen süß zu netzen.
Ruhe nur! Noch nicht gewachsen
Ist der Dorn, dich zu verletzen.

Ruhe nur! Auf goldner Brücke
Tritt vom Heute in das Morgen.
Ruhe nur! Noch nicht geboren
Ist die Stunde deiner Sorgen.« – –

Platz da! Heidéde kommt! Räumt alles aus dem Wege; freie Bahn dem Tüchtigen! Heidéde hat Kraft gesammelt; darum läuft er wie ein Löwe. Der Löw' ist los, der Löw' ist frei; die Gängelbande riß er entzwei. Jetzt, meine liebe Tochter und mein lieber Sohn, jetzt werdet ihr erleben, was ein Kind heißt. Ein Kind auf dem Schoße haben, das ist keine Kunst; aber an allen Ecken und Enden des Hauses, auf allen Treppen und Fluren, auf allen Stühlen und Bänken, auf allen Tischen und Fensterbänken zugleich ein Kind haben: das ist etwas! Ihr werdet finden, daß dieser Knirps sich durch einen heimlichen Talisman in drei, in sieben Knirpse verwandeln kann, daß er einen Hüter vom Aufstehen bis zum Niederlegen beschäftigen kann, auch zwei. Wenn ihr ihn noch damit beschäftigt glaubt, sich vor dem Schrankspiegel den Schlips seines Vaters um den Hals zu legen, dann wird er sich schon vom Waschtisch dessen Zahnbürste herunterlangen und sie in den Mund stecken; wenn ihr dann das Wasserglas vor ihm gerettet habt, wird er schon ein Kissen aus dem Bette gezerrt haben und sich mit ungemein behaglichem »Eija!« darauf räkeln; solltet ihr daraus auf ein Ruhebedürfnis schließen, so werdet ihr hören, daß er die Stufen zum Nebenzimmer bereits hinuntergefallen ist, und wenn ihr euch dann freut, daß er sich darüber schnell beruhigt hat, dann holt er schon aus dem Nachttischchen – naturalia non sunt turpia – das Töpfchen hervor. Diese Selbstbedienung ist an sich sehr löblich; wenn sie nur mit der nötigen Zielsicherheit verbunden wäre. Das ist sie nicht; aber diesen Mangel ersetzt er durch rasches Handeln. Als die Mutter mit einem Wischtuch aus der Kammer kommt, hat er das Erforderliche bereits mit ihrem Taschentuch besorgt.

Kein Meister fällt vom Himmel, aber ein Lehrling oft auf die Nase. Bei dem Temperament, das diesem prinzlichen Geblüt nun einmal eingeboren ist, liegt er einstweilen fast mehr, als er läuft oder steht. Er fordert darum nicht viel Aufhebens, sondern hebt sich selber auf und zieht aus seinem Sturze nicht etwa die Lehre der Bedächtigkeit. Manchmal tut er sich auch weh, und dann schreit er wohl, und dann stürzt die ganze Familie herbei und ruft: »Ach, du armes Kind, bist du gefallen? Wo tut's denn weh? Wart, wir wollen ein Stück Zucker drauflegen! usw.« – nicht wahr? Nein, die ganze Familie ist dazu viel zu gefühlsroh; sie denkt mit Goethe: »Sehe jeder, wie er's treibe, und wer steht, daß er nicht falle.« Man glaubt nicht, wie bedeutsam diese »Laufbahn« des Buben für die spätere ist. Nur, wenn er einmal einen richtigen »Bums« erlitten hat und mit triftigem Grunde weint, wird er wohl einmal gehätschelt und beruhigt, freilich nicht mit Zucker. Ein Kind soll auch nicht vereinsamen, sondern soll wissen, daß es im Ernstfalle einen Trost und eine Hilfe findet. Sparta wird vielleicht bewundert, aber nie geliebt.

Nehmt die Schlüssel in Acht! Bedenkt überhaupt, daß von nun an nichts, was er erreichen kann, vor ihm sicher ist! Aber eine unbezwingbare Leidenschaft hat Heidéde für Schlüssel. Der Schlüssel ist ihm so anziehend, daß er sich sogleich seinen Namen gemerkt hat. »Lüschl« sagt er, das »schl« mit dem bekannten »Schlick auf der Zunge« zu sprechen. Alle Naselang fehlt ein Schlüssel; die Ursache des Verschwindens ist keinem zweifelhaft. Wenn aber Heidéde einen Schlüssel findet, so stürmt er damit auf ein Schlüsselloch zu; denn er weiß, daß die beiden zusammengehören, und stochert nun eifrig mit dem Schlüssel, in der unverkennbaren Überzeugung, daß er eine wichtige Arbeit verrichte.

Noch kann er nicht die Türklinke erreichen; das beschränkt ihn wenigstens auf einen Raum; wenn er aber mein bei ihm sehr beliebtes Arbeitszimmer zum Feld seiner Tätigkeit wählt, dann ist es für mich kein Arbeitszimmer mehr. Daß er meinen Papierkorb auskramt, daß er sämtliche Kissen vom Sofa holt, daß er dreihundertmal die Tür zum Kamin auf- und zumacht, daß er freie Benutzung meiner Bibliothek beansprucht, daß er auf die Fensterbank will, um einmal wieder sämtliche Riegel und Haken nachzusehen und hundertmal die Klappe kreischen zu lassen, das alles ist selbstverständliche Tagesordnung. Aber es gibt auch Abwechslung. »Hau, hau, hau!« macht er plötzlich in ganz hohem Tone wie ein winziger Schoßhund, wenn er kläfft. Ich weiß anfangs nicht, was er meint: als ich aber seinem Blick folge, merk ich's; er hat weiß Gott, den kleinen zinnernen Hund entdeckt, der oben auf dem Bücherbord steht und höchstens 6 Zentimeter groß ist. »Edá, edá, edá!« stößt er eifrig und mit ausgestreckten Ärmchen hervor; d. h. »gib's mir!« Ich muß also den Hund herunterholen; denn einem Kinde etwas verweigern, was Tier ist, das geht schlechterdings nicht an. »Was sagst du denn?« frag ich. Er patscht hastig ein paarmal die Händchen zusammen, wenn auch ohne Andacht; die nimmt der Hund in Anspruch. Dies heißt nämlich »Bitte bitte!« Ahnungslos liefere ich ihm das hübsche kleine Tier aus. »Und was sagst du jetzt?« Er macht eine tadellose Verbeugung und sagt »Da ki?!« (die zweite Silbe eine Oktave höher als die erste), was »Danke« bedeutet. »Ahnungslos« hab ich gesagt; denn er benutzt den Hund alsbald als Hammer – was benutzt ein Junge nicht als Hammer? – und in wenigen Minuten ist die rassereine Dogge in einen echten, krummbeinigen Dackel umgezüchtet.

Es braucht nicht gesagt zu werden, daß Heidéde außer den zahlreichen Dingen, die er in meinem Zimmer verüben darf, noch einige verüben möchte, die nicht erlaubt sind, die er deshalb nicht weniger gern vornehmen möchte. So liegt z. B. auf meinem Schreibtisch eine große Papierschere, um die er schon seit längerem wirbt. Sie ragt mit dem Griff ein wenig über den Tischrand. Heidéde denkt: »Sie ist zwar verboten; aber einen Versuch kann man immerhin wagen.« Er legt also das Händchen an die Schere und sieht mir forschend ins Gesicht. Ich schüttle den Kopf. Das versteht er vollkommen; aber er denkt: »Kopfschütteln tut nicht weh, und es gibt Beispiele, daß der Alte weich wird.« Er zieht also ein wenig an der Schere, behält mich aber fest im Auge. »Buzi?!« sage ich warnend. »Na, dann also nicht,« sagt sein Gesicht, und er verzichtet.

Aber ein Zimmer, in dem man nicht alles tun darf, verliert, selbst wenn es das großväterliche Arbeitszimmer ist, zuletzt doch seinen Reiz, und so sieht Heidéde auch schon an der Tür und ruft inbrünstig »edá! edá! edá!«, d. h. »Im Namen des Königs, öffnet!« Aber ich darf die Tür nur eben aufklinken; das übrige will er selbst besorgen. Türen auf- und zuklappen ist seine Leidenschaft, und wenn ich manchmal denke, es könne ein Genie in ihm stecken, so ist es mir zu anderen Zeiten wieder, als stecke ein Portier-Talent in ihm, in diesen Zeiten eine unvergleichlich glänzendere Aussicht. Übrigens ist dieser Sturmgeselle so vorsichtig, daß er jedesmal behutsam die Fingerchen aus der Spalte zieht, bevor er die Tür zuklappt, obwohl er sich nie geklemmt hat. Es muß wohl Köpfe geben, die einmal ohne Schaden klug werden.


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