Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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X.

»Beschäftigung, die nie ermattet« – Buzi der Gamsbock plus proficit in litteris quam in aestheticis – Jedoch kein Sklave schnöder Sinnenlust.

Im Bewußtsein wie im Unterbewußtsein der Kinder leben zweifellos Dinge, die sie nicht ausdrücken können, aber ausdrücken möchten. Jedenfalls hat Buzi I. ein wahrhaft stürmisches Ausdrucks- und Mitteilungsverlangen. Ich hatte – merkwürdig genug – schon in seinen ersten Lebenstagen den Eindruck, daß er sich mitteilen wollte, daß seine Augen nach einem Ausdruck rangen. Heute nun gar möchte er tausend Dinge sagen, die er nicht sagen kann; er weist dann in höchster Erregung auf den Gegenstand oder den Vorgang, den er beobachtet hat, hin und stößt schnell nacheinander unartikulierte Laute hervor wie ein Stummer, der sich zu reden bemüht. Wenn es möglich ist, spricht er natürlich durch Lautnachahmung; vom Hund berichtet er mir mit hellem, hohem »Wau! Wau!«; von den Kohlenleuten, die die Kohlen mit großem Gepolter in den Kellerschacht rollen lassen, mit »Chrrrrrrr ....« (Gaumen-r!) und macht Augen dabei, die auch für ein Erdbeben genügen würden. Neben dieser immer regen Mitteilsamkeit, die uns alles gewissenhaft berichtet, was wir selbst miterleben, kennzeichnet ihn »Beschäftigung, die nie ermattet«, auch sie natürlich vorwiegend noch nachahmender Natur. Seine winzig-weißen Zähnchen – hat je eine Frau köstlichere Juwelen besessen als diese Perlenkettchen im Munde ihres Kindes? – will er schon selber bürsten, und zwar mit der Zahnbürste seiner Mutter, und sobald er sich Kamm und Haarbürste vom Waschtisch gelangt hat, bearbeitet er nicht nur den eigenen Schopf, nein, er striegelt die ganze Hausgemeinde, da gibt's kein Entkommen. Da er wächst und immer höher hinaufreicht, so wird die Schlüsselgefahr immer bedenklicher, und wenn ich, ein kluges Opfer bringend, ihm mein ganzes Schlüsselbund zur Verfügung stelle, so probiert er am Bücherschrank nacheinander sämtliche Schlüssel durch, mit dem Anstand eines älteren Schlossermeisters, der gerade noch rechtzeitig gerufen wurde, um eine dringend notwendige Arbeit zu verrichten.

Wenn Hoheit bei mir abzusteigen geruhen und sich in meinem Arbeitszimmer häuslich einrichten, so bedürfen Sie zu Ihrer Ausrüstung mindestens eines Korbs mit Wäscheklammern, einer Fußmatte (auf der Sie zu sitzen geruhen), meines Papierkorbs, einer Zigarrenkiste, einer Streichholzschachtel, mehrerer Bücher und Bauklötze. Es währt nicht lange, so bildet mein Fußboden ein prinzipienloses Mosaik aus diesen Gegenständen, das man, da es nichts ausdrückt, nach Heidédes Absicht auch nichts ausdrücken soll und kann, ganz wohl ein expressionistisches Mosaik nennen könnte. Sobald aber Heidéde feststellen kann, daß ich durch meine Arbeit hinreichend abgelenkt bin, geht er zum Alpensport über. Mein Zimmer ist besonders deshalb so heiß geliebt, weil es zwei kleine Trittleitern enthält, mit Hilfe derer ich zu den höheren Reihen meiner Bücherei gelange. Wenn ich, von einer dunklen Ahnung getrieben, den Kopf von meiner Arbeit hebe, dann hör ich ihn schon siegesjubelnd »Daaa!« rufen und seh ihn frank und frei auf dem höchsten Gipfel der Trittleiter stehen, mit einem Triumphatorgesicht, wie es der gute Humboldt nicht schöner gemacht haben kann, als er den Chimborasso erklommen hatte. »Junge, du verflixter Kerl!« ruf ich erschrocken, was ihm nur einen neuen Freudenschrei entlockt. Heruntersteigen kann er noch nicht; ich heb ihn also herunter, und sofort will er den Aufstieg von neuem beginnen. »Nein!« sag ich mit ernstem Gesicht. Er gehorcht; aber den einen Fuß, den er schon auf der untersten Stufe hatte, läßt er stehen und sieht mich an. Und dies Gesicht sagt ganz deutlich: »Fügen muß ich mich ja; aber ganz gehorch ich dir nicht; einen Fuß laß ich drin in dem verbotenen Gebiet, in meiner Interessensphäre; es ist immerhin etwas, immerhin ein Stück Selbstbehauptung.« Er »wahrt das Gesicht« wie es in der Schwindel-Diplomatie heißt. Dann steh ich in dem schweren Seelenkampf: Soll ich ihn unter meiner Aufsicht klettern und meine Arbeit sausen lassen, oder soll ich mein Verbot aufrechterhalten und wieder an meinen Schreibtisch gehen? Tu ich dies, so zieht er wohl nach einiger Zeit den Fuß vom Tritt zurück und treibt etwas anderes; aber ich weiß sehr gut, daß er ihn bald wieder auf die unterste Stufe setzt und mich dazu mit einem ganz unbeschreiblichen Schalkslächeln anlauert. Dies Gesicht sagt dann: »Ich weiß ja: ich soll nicht; ich tu's auch nicht; aber ich will dir mal ein bißchen bange machen, will dich ein bißchen foppen, will einmal sehen, was du sagst, und vielleicht – ja, vielleicht läßt du dich ja auch erweichen.« Und vielleicht, ja, sogar wahrscheinlich tu ich das dann auch und laß ihn klettern. Ich laß mirs ja auch nicht nehmen, daß der Bengel ursprünglich ein Gamsbock hat werden sollen. Wo für sein Füßchen ein Platz ist und wo keiner ist, da muß er hin. Wenn er einen Stuhl erklettert hat, will er die Lehne ersteigen, und wenn er auf dieser steht, will er in die Luft steigen. Er würde wie Münchhausen das am Mond befestigte Seil abhacken und es unten wieder anknüpfen. Seine Tollkühnheit ist freilich noch gar keine Kühnheit, weil die Vorstellung der Gefahr für ihn noch nicht besteht. Darum, wenn er einmal purzelt und sich weh-, aber keinen Schaden getan hat, freu ich mich jedesmal diebisch: es ist ja der beste, der einzige Unterricht in diesem Falle. Freilich: angeschlagen hat dieser Unterricht noch nicht das geringste; noch weinend über den erlittnen Fall, hebt er den Fuß bereits zu neuem Aufstieg. Ich seh's mit Bangen und mit Lust. Exzelsior, Hoheit, Exzelsior!

Aus verschiedenen Anzeichen wird man schon entnommen haben, daß Heidédes Geist inzwischen nicht stillgestanden ist. Natürlich schaut er gern zum Fenster hinaus; welchen jungen Mann treibt es nicht, die Welt kennen zu lernen?

O mein Gott, da fällt mir ein Mann ein, der sich ein Haus bauen ließ, und, da man ihm gesagt hatte, daß das Licht auf seinem Schreibtisch besser sei, wenn es schräg von oben und nicht auch von der Seite hereinfalle, so ließ er alle Fenster so hoch anbringen, daß wohl er, nicht aber seine kleine Frau und sein Kind hinausschauen konnten. Wenn ihr einen Gemütsathleten sucht, geb ich euch seine Wohnung an. Zweierlei Verbrechen kann ich nicht verzeihen: Verbrechen am Vaterland und Verbrechen an Kindern.

Da draußen bellt ein Hund! »Dira, Dira!« berichtet uns Heidéde mit gewohnter Aufregung. Unsere Wolfshündin heißt nämlich »Dina«; für ihn heißt sie »Dira«, und also heißt nicht nur jeder Hund, sondern jedes Tier »Dira«. Einen bellenden Hund muß man natürlich gesehen haben. Da Heidéde indessen mit seinem Näschen eben an die Fensterbank reicht, so sieht er von der Welt nicht viel mehr als Baumkronen und Himmel. Aber da steht ja eine blecherne Waschschüssel im Schlafzimmer! Wozu wäre die gut, wenn man sie nicht umdrehen, ans Fenster schieben und daraufsteigen sollte? Nun ist »Dira« sichtbar.

Und als ein Brief meines Sohnes vorgelesen wird, in dem er von seinem Söhnchen berichtet und – ohne jede Hervorhebung! – die Worte ertönen: »Unserm Buzi geht es wohl«, da leuchten Buzis des Ersten Augen hell auf; er zeigt auf sich und ruft: »Daaaa!« O ja, unsere Reden sind ihm kein wirrer Schall mehr: er versteht! Also Vorsicht!

Mit der geistigen Entwicklung des Kindes hält seine ästhetische leider nicht Schritt, besonders bei Jungens nicht, und auch den liebevollsten Eltern und Großeltern liegt ein gewisses Wort aus der Zoologie zuweilen vorn auf der Zunge. Daß man den großen Schrankspiegel anhauchen und dann in dem Niederschlag des Atems wunderschön mit dem Finger hin- und herfahren kann, weiß Heidéde natürlich längst. Aber selbstverständlich muß der Spiegel auch mit der Zunge untersucht und eingehend beleckt werden. Davon sag ich noch nichts. Ich sage auch noch nichts davon, daß er den Spiegel beleckt, als seine Zunge reichlich mit Schokolade belegt ist; er bedenkt es ja nicht. Dann wird er irgendwie abgelenkt, und seine Mutter bemerkt vorläufig die neuen Arabesken auf dem Spiegel nicht. Sie wird erst aufmerksam, als sie den feinschmeckerisch begeisterten Ausruf »Lala! Lala!« (Schokolade!) vernimmt, und sieht nun, wie Hoheit Ferkel die Schokolade vom Spiegel wieder sorgfältig ablecken. Ich bitte um Entschuldigung – Heidéde ist im allgemeinen ein sehr appetitliches, sauberes Bürschchen – aber »es bleibt ein Erdenrest, zu tilgen peinlich«.

Schokolade ist nun einmal eine Haupttriebfeder des menschlichen Lebens, obwohl man von Heidéde wiederum nicht sagen kann, daß er ein Sklave seiner Sinnlichkeit wäre. Er ißt z. B. zwar im ganzen mit gutem Appetit; aber wie etwa ein Forscher über einer schwierigen Inschrift oder ein leidenschaftlicher Spieler über dem Baccarat Essen und Trinken vergißt, so kommt es auch vor, daß dieser Forscher und Spieler um einer Streichholzschachtel willen Speise und Trank verschmäht. Im allgemeinen soll man Kinder zum Essen und Trinken nicht nötigen oder gar zwingen, dies vielmehr ruhig dem »besten Koch« überlassen; aber in solchem Falle ist eine Nachhilfe doch angebracht. Da ist es sehr wertvoll, daß auf dem Grunde von Heidédes Schüssel zwei Hühner zu erblicken sind, die er außerordentlich schätzt und »Biep Biep!« nennt. Wenn er nun nicht essen will, fragt ihn seine Mutter: »Willst du denn nicht ›Biep Biep‹ sehen?«, und dann regt sich in der Tat das ideelle, das Gemütsinteresse an einem Wiedersehen so stark, daß er bis auf den Grund der Schüssel dringt.

So auch, wenn er nach dem Mittagessen mich »schlafen legen« soll (ein von seiner Mutter mit warmer Hand ihm verliehenes Erbe), wobei es dann öfters, obschon nicht immer, etwas Schokolade absetzt, kommt es vor, daß er nicht erscheint, weil irgend ein Spiel oder Schauspiel ihn stärker lockt als meine Näscherei. Nun wohl, mein Sohn, »du darfst auch da nur frei erscheinen«. Materielle Genüsse um ideeller willen verschmähen, zeugt nur von Vornehmheit. Wenn er mich aber hingestreckt hat und auf meinem Schoße reitet, so kann es vorkommen, daß er nach dem ersichtlich letzten Stück Schokolade mit dem unverkennbaren Gesichtsausdruck: »Ich erachte damit mein Geschäft hier für erledigt«, mir den Mund zum Schlafwohl-Kuß hinhält und dann vermittels Abrutsches verschwindet. Ich kann daraus ganz deutlich entnehmen, daß meine Gesellschaft in diesem Augenblick keine stärkeren Reize für ihn hat. Und weit edler als Sarastro, zwing ich ihn nicht nur nicht zur Liebe, ich geb ihm auch die Freiheit. Tät ich's nicht aus Liebe, so tät ich's schon aus Klugheit. Ihr Eltern und Großeltern, erzwingt und erbettelt von den Kindern keine Zärtlichkeiten; ihr kommt dann besser auf eure Rechnung, glaubt es mir!


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