Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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XII.

Keiner ein Parricida – Musik, Anstandslehre, Ethik, Sprachstudien – Ach jau wi babu wafa – Umsturz oder negative Baukunst – Erstürmung der Großmutter – Zwei Töpfe voll Flöhe – »Löbbl löbbl!!!«

Im ganzen vertragen sich die beiden Vettern ausgezeichnet; auch bei Rechtsstreitigkeiten überzeugen wir sie gewöhnlich leicht davon, daß ein magerer Vergleich besser ist als ein fetter Prozeß, und selbst einem gebieterischen Schiedsspruch fügen sie sich so gut wie immer, ohne Berufung einzulegen. Nicht einmal Futterneid kennen sie, was allerdings wesentlich darin begründet sein kann, daß keiner zu wenig bekommt. Für Heidéde stehen noch immer die ideellen Interessen in erster, die sinnlichen in zweiter Linie; Augen und Gedanken wandern gern irgendwo im Blauen, wenn er sich den Löffel in den Mund schieben läßt. Das Wölfle aber hat einen Wolfshunger; er ist ganz bei der Sache, klopft sich bei jedem Löffelvoll auf die Brust, selbst beim Lebertran, und macht dazu Mm-m-m-m?! im echtesten Tone eines Feinschmeckers, der mit allerhöchstem Beifall eine Austernpastete kostet. Eifersucht zeigt sich bei ihnen bisher nur in einer ganz milden, harmlosen Form. Wenn wir nämlich über den einen besonders ausgiebig lachen oder ihn loben, dann macht der andere durch irgendein Räuspern oder sonst eine erstaunliche Leistung darauf aufmerksam, daß auch er noch da sei, wovon wir dann natürlich freudig Kenntnis nehmen. Alles in allem können demnach der kleine Saupreuß und der kleine Saubayer vielen Großen zum Vorbild dienen.

Daß es so ist, das muß man aber, wenn man gerecht sein will und solange eben Rollerolle noch so unentwickelt ist, vorwiegend seinem Gönner Heidéde zuguteschreiben. Rollerolle hat noch viel unbeherrschtes Temperament; wenn man ihm irgendwie entgegen ist, schleudert er, was er gerade in den Händen hält, mit Wucht und Wut in die Umgegend (was man bei Heidéde kaum noch erleben wird!); wenn man ihm etwas mit Entschiedenheit verweist, murrt er in längeren Ausführungen dagegen, aus denen man deutlich heraushört: »Wenn ich das nicht 'mal soll, dann pfeif ich auf den ganzen Verkehr!« ja, er schlägt auch gelegentlich nach dem, den er in erreichbarer Nähe hat. Dieser ist dann immer so sehr Reaktionär, daß er reagiert und ihm praktisch verkündet, Druck erzeuge Gegendruck.

Buzi der Große – welchen neuen Titel er allerdings nur dem Umstande verdankt, daß ein noch kleinerer da ist – hat denn auch aus dem berechtigten Gefühl überlegener Reife heraus den Unterricht Rollerolles in die Hand genommen. Dieser Rollerolle kann noch nicht einmal »Bitte bitte!« machen! Sprechen kann auch Buzi der Große das Wort nicht, trotz seiner Reife; aber er kann »Bitte bitte« machen, indem er seine Puttenpätschchen dreimal zusammenklappt. Er läßt sich also herab zu dem Kleinen, hockt vor ihm auf dem Fußboden, faßt mit seinen seraphischen Pfötchen die seraphischen Pfötchen des andern und patscht sie gegeneinander. Doch ist er ein zu guter Pädagog, um denselben Gegenstand ungebührlich lange zu traktieren; er geht also zur Musik über. Er läßt sich vor seinem Schüler auf ein Knie nieder, bläst ihm auf der Mundharmonika vor, hält sie dann ihm an den Mund und sagt »Tuuut tuut!« Das alles soll man mitansehen und nicht Menschenfresser werden! Wirklich gelingt es dem Kleinen, einen Ton hervorzubringen, und nun will er das köstliche Instrument haben. So weit geht aber Heidédes Reife nicht; er will es unzweifelhaft behalten. Da man einem Schüler Gelegenheit zur Übung geben soll, so entscheide ich, daß nun einmal Rollerolle die Harmonika haben solle. Heidéde ist sofort einverstanden, obwohl das Spielzeug sein Eigentum ist. Aber Kinder in diesem Alter haben noch keinen Eigentumsbegriff. Wenn ein Gegenstand sie lockt, wollen sie ihn haben, ihn besitzen und genießen, sie halten ihn eine Weile fest; aber von einem dauernden Recht an einer Sache weiß Heidéde noch nichts. Hochauf lacht mein Herz, wenn er, am Kaffeetisch sitzend, mit nicht zu überbietender Selbstverständlichkeit in die Zwiebackdose langt, sich einen Zwieback herausholt und krachend hineinbeißt. Die Rechtsfrage ist für ihn nicht vorhanden.

»Herein zum Saal klein Roland tritt,
Als wär's sein eigen Haus;
Er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt'
Und trägt sie stumm hinaus.

Es stund nur an eine kleine Weil',
Klein Roland kehrt in den Saal;
Er tritt zum König hin mit Eil'
Und faßt seinen Goldpokal.

»Heida, halt an, du kecker Wicht!«
Der König ruft es laut;
Klein Roland läßt den Becher nicht;
Zum König auf er schaut.«

Und gerad mit solchen Augen schaut Klein Buzi der Große mich an, wenn ich erstaunten Blickes frage: »Darfst du denn das?« Warum sollt er's nicht dürfen? – Und doch kann das nicht so bis ins Greisenalter weitergehen.

Den Anstandsunterricht kann ich vertrauensvoll ganz in die Hände Heidédes legen. Schon vor einem halben Jahr hat er beim Fettwarenhändler Sensation und einen großen Kuchen dadurch erzielt, daß er, in den Laden tretend, die Mütze zog, eine kavaliermäßige Verbeugung machte, und »Ta-a-a-g?« sagte, und ein beleibter Nachbar, den er auf der Straße so begrüßte, hätte beinah einen fröhlichen Erstickungstod davon genommen. Er bringt es jetzt seinem Vetter und Schützling bei; wenn der in die Tür tritt, faßt er ihn beim Genick, beugt ihm den Oberkörper nach vorn und sagt »Taaag??« Und Rollerolle zeigt sich merkwürdig gelehrig; er grüßt schon mit einer Vornehmheit, die jedem spanischen Hofmann zur Ehre gereichen würde.

Danach mag es wohl geschehen, daß Buzi der Große den spanischen Granden darauf untersucht, ob er sich naß gemacht habe – denn der spanische Grande und kleine Saubayer kann sich noch nicht ans Ansagen gewöhnen – und wie nun auch der Befund ausfallen mag, der besorgte Erzieher holt jedenfalls die Puderquaste und pudert ihn, ja, ich habe auch wohl beobachtet, daß er ihn aufs Händchen patschte, wie ers von der Mutter gesehen und erfahren. Doch sah ich mit größter Bestimmtheit, daß darin nichts von einer Ahndung oder Züchtigung war – sonst hätt ich's ihm verwiesen – es war die unschuldvollste und lächerlichste Nachahmung von der Welt: man tut halt alles, was die Großen tun, und man ist groß.

Bei Rollerolles Temperament ist es begreiflich, daß ihm zuweilen der Unterricht nicht paßt – ein wirklich modernes Kind braucht ja eigentlich überhaupt nichts zu lernen, wie unsere alten Idiotengenerationen das noch nötig hatten – und daß er gelegentlich die schuldige Ehrfurcht gegen seinen Erzieher weit genug vergißt, um nach ihm zu schlagen oder an seinen Wangen Kneif- und Kratzversuche zu machen. Dann faßt der wahrhaft Große die drohende Hand, führt sie wiederholt über die eigene Wange und sagt zärtlich »Eiii – eiii!« und schon ist Rollerolle so weit gezähmt, daß er lächelnd darauf eingeht, sich »gewöhnt zu sanften Sitten« und die krummen Waffen streckt. Und zwischendurch fällt Heidéde immer einmal wieder über seinen Zögling her wie ein Räuber über einen arglos ruhenden Wanderer, umschlingt ihn, quetscht ihn, küßt ihn und ruft mit alles verstehender, alles verzeihender, schwärmender Liebe: »Bäääbi! Bäääbi!«

Kein Zweifel, das Beste eines Erziehers ist da: die Liebe; aber auch seine geistige Berechtigung erweist sich mehr und mehr. Das Wörterbuch Heidédes schwillt fast mit jedem Tage an. Es umfaßt außer den schon erwähnten Vokabeln die Wörter »Tasche« (das ist alles, was, wie die Handtasche der Mutter, einen Henkel hat, also auch der Brotkorb, die Fruchtschale, der Wassereimer usw.), »Bümpe« (Strümpfe), »Bufi« (Buzi), »Eija« (alles, was pendelt), »Ei« (ovum), »Schatzi« (dies Wort spricht er mit einem ahnungsvollen Lächeln nach, als wenn er gemeint sein könnte), »Schüscher« (Süßer, desgleichen), »Dicker« (desgleichen), »Naach?« (Gute Nacht!) und »Licht«, zu dem er nun auch vorgedrungen ist. Zuweilen nimmt er ein Inventarium seines Geistes auf und sagt unaufgefordert seinen ganzen Wortschatz her, gewissermaßen als Bildungsprotz. Außerdem aber spricht er den Namen seiner Flamme: »Else«. Doch müßt ihr nicht glauben, daß er es so spräche, wie es hier steht. Ihr müßt schon selbst kommen und es euch anhören; es lohnt sich. Wenn er das »s« sprechen will, formt er erst bedächtig seine Zunge zu einer röhrenförmigen Schaufel und streckt sie dann halb zum Munde hinaus. Könnt ihr die Konsonanten s, f und b gleichzeitig sprechen? Das könnt ihr natürlich nicht; aber er kann es. In der Sprache der Kinder gibt es Laute wie in manchen anderen Sprachen, z. B. im Russischen, die wir gar nicht aussprechen können. Noch ein anderes neues Wort hat er, nämlich »Unke«. »Unke« bin z. B. ich. Mir anfangs sehr überraschend, da ich mir bewußt bin, etwas durchaus Gegenteiliges von einer Unke zu haben. Aber bald begriff ich, daß ich ein »Onkel« sein solle. Er hat mich aber nur zwei- oder dreimal so genannt und dann niemals wieder. Offenbar fühlt er, daß da gewisse feine Unterschiede zwischen den Männern, die man Onkel nennt, und mir bestehen, daß es sich hier doch wohl um innerlichere Beziehungen handelt. Natürlich weiß er, daß ich der »Großvater« bin; aber an das Wort wagt er sich nicht heran. So bin ich vorläufig namenlos.

Mehr und wichtiger als das alles ist aber, daß er uns kürzlich erzählt hat: »Mamma Licht!« Das heißt: »Mama hat Licht gemacht«. Sein erster Satz! Wenn auch vorher seine meisten Wörter als Sätze gedacht waren, so hat er doch jetzt zum ersten Male Subjekt und Aussage sprachlich zusammengefügt, zwei Begriffe ausdrücklich aufeinander bezogen. Natürlich bestehen seine Sätze vorläufig nur aus Dingwörtern.

Die Sprache, in der er sich am häufigsten bewegt, ist aber noch immer das Heidédische. So sagte er noch kürzlich, wieder einmal fleißig mit der Ausbesserung eines Schrankschlosses beschäftigt, vollkommen fließend und verständig wie ein alter Handwerksmeister:

»Ach jau wi babu wafa, jau wiwi uijeje. Ubinauji – aachwabi buti, aschi jawa! – Ooouum neija chralli chralli, ui njammi auuu wuff!« wozu dann Buzi II. etwas stereotyp, aber doch nicht unpassend bemerkte:

»Rollerollerolleraddlraddlraddl!«

In der Somatologie ist Heidéde soweit gefördert, daß er ohne Irrtum zeigt, wo seine Nase, sein Mund, sein Auge, sein Ohr, sein Hals, sein Haar zu finden ist. Auf seinen Spazierfahrten weiß er genau, wo es zur Eisenbahn um die Ecke gehen muß, selbstverständlich auch, wo es zum freundlichen Fettwarenhändler mit dem Kuchen geht und wo die Gartenpforte zum Vaterhause ist.

In den technischen Fächern hingegen ist er noch nicht ganz auf der Höhe. Zwar, wenn er mit mir am Tische sitzt, wenn ich dann unvorsichtiger Weise meine Streichholzschachtel sehen lasse und er sie selbstverständlich sofort mit dem gebieterischen Rufe »Licht! Licht!« anfordert, dann zieht er mit kundiger Hand zunächst die Schachtel aus der silbernen Kapsel hervor; danach schiebt er mit zielbewußtem Rosenfinger die Lade aus dem Schachtelrahmen heraus, hiernach packt er mit zwei gespitzten Fingern sämtliche Hölzer aus, und wenn sie alle heraus sind, packt er sie wieder hinein. Wenn aber nicht alle wieder hinein wollen, weil verschiedene quer oder schräg liegen, dann versucht er es mit brutaler Gewalt und mit Entrüstung, ganz wie manche Erwachsene. Daß es in der richtigen Lage und mit Ruhe besser geht, weiß er noch nicht. Aber er weiß seit kurzem etwas anderes und brachte mich damit in einen schweren tragischen Konflikt. Mit dem zierlich gespitzten Händchen nahm er ein Streichholz auf, mit dem linken Fäustchen ergriff er den Schachtelrahmen und drückte das Hölzchen gegen die Reibfläche. Er hielt aber das verkehrte Ende gegen die Fläche, und so mochte es gehen. Danach indessen drückte er ein Hölzchen mit der Zündmasse gegen die Reibfläche, und nun mußte die Behörde schweren Herzens eingreifen. Wenn man solch ein herzbezwingendes Vorderpfötchen sieht, solch ein flammenbegieriges Auge, solch ein offen erstarrtes Mäulchen – glaubt es mir, es ist eine Tat, da als Spielverderber einzuschreiten. Wie gern hätt ich ihm die lichte Lust gegönnt; aber mit dem Brandstiften wollen wir doch lieber noch ein wenig warten.

Heidéde, Rollerolle und meine Wenigkeit sitzen auf dem Fußboden und errichten Monumentalbauten aus Bücherkapseln. Wie gesagt, die Richtungsbegriffe »schräg«, »senkrecht« usw. haben sich in Buzi I. noch nicht recht entwirrt; sie liegen noch bunt durcheinander wie wahllos verstreute Balken; bei Buzi II. ist es natürlich noch schlimmer, ist er doch nicht nur sieben Wochen jünger, sondern auch im Verhältnis weniger fortgeschritten. Sein »Bauen« besteht noch einzig darin, daß er die Quadern nebeneinanderstellt. Heidéde schichtet sie schon aufeinander, aber oft mit einem bedenklichen Vertrauen auf das Schiefwinklige. Ich greife also unterstützend und beratend ein, und es gelingt mir, das stürmisch-schiefwinklige Talent der beiden soweit zu zügeln, daß der Bau unter Dach kommt. »Vollendet das ewige Werk!« – »Ewig?« Ich sehe, was aus euer aller Mienen lächelt. Was ist das Köstlichste an diesem Walhall, an dieser Gralsburg? Geraten: daß man sie umschmeißen kann! Lange bevor in diesen beiden Jünglingen ein Ahnen von baulicher Kunst und Schönheit auch nur aufgedämmert ist, haben sie schon die tollste Lust am Zerstören. Sie können's nicht wieder aufrichten; aber zertrümmern können sie's und tun's. Jaja, sie bewahren sich schon ihre Kindlichkeit, die Großen, nur immer am verkehrten Fleck.

Ich habe vordem gesagt, daß Rollerolle, abgesehen von seiner großen Jugend, gegen seinen Vetter auch im Verhältnis um etwas zurück sei; aber deshalb soll man nicht glauben, daß er etwa stillstände. Er denkt nicht daran. Sein neuester Fortschritt reicht bis zu den Schlüsselbeinen seiner Großmutter. Wenn sie ihn unter den Armen festhält, ist er imstande, über ihren Magen und ihre Brust emporzusteigen und endlich auf ihren Schlüsselbeinen Fuß zu fassen; dann blickt er mit einem Siegerlächeln um sich: »Hier bin ich, und hier bleib ich!« und lädt uns, stolz auf die Erstürmung seiner Großmutter, zur allgemeinen Bewunderung ein, die wir servilen Schranzen ihm denn auch in überschwänglichem Maße zollen. Und wenn man seiner Großmutter in die Augen sieht, dann muß man zugeben: er hat sie erobert. Anfänger müssen ermutigt werden, auch bei Gehübungen auf dem Fußboden. In wenig Tagen wird auch Buzi II. einen selbständigen Lebenswandel beginnen. Nur mit dem blanken Parkettfußboden unterhält sein Sitzfleisch noch häufig unmittelbaren Verkehr; aber das schadet nichts; auch auf dem Parkett muß ein Jüngling sich bewegen lernen, und das Schwere macht Mut. Manchmal, wenn er liegt, liegt es auch daran, daß er dem pfeilgeraden, pfeilgeschwinden Siegeslaufe seines Vetters im Wege stand –

»Liege, wer will, mitten in der Bahn –
Über seinen Leib weg muß ich jagen,
Kann ihn nicht sachte beiseite tragen.«

Anfangs nahm Rollerolle solche Rempeleien äußerst sentimental; das ist schon ganz anders geworden. Die Erfolglosigkeit seiner Tränen und die holsteinische Küche haben seine Männlichkeit merklich gefördert. Und ein Mann steckt auch in diesem Daumenlutscher, daran ist gar kein Zweifel, ein Mann mit einem ganz eigenen Kopf. Schon in München haben wir alle lachen müssen, wenn er einen Kuß geben sollte und nicht wollte. Er küßte gern und reichlich; aber wenn er nicht wollte, dann wollte er eben nicht. Dann schüttelte er den Kopf, sagte kalt und überlegen »Na na!« und wandte sich ab, wie »Ausgeschlossen. Mach dir keine Hoffnungen.« Und in solchem Falle wird sein Charakter natürlich nicht gebrochen. Vielmehr sag ich mit jenem Preußenkönig: »Ich liebe eine gesinnungsvolle Opposition«, und wenn ich in dieses unschuldige Spitzbubengesicht schaue, sag ich mit einem noch viel größeren König bei Goethe:

»Von allen Geistern, die verneinen,
Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.« – –

Nun können also beide laufen, und das ist für uns gewiß ein großes, anstrengendes Glück. Als die schwierigste aller Aufgaben bezeichnet man gern diejenige, einen Topf voll Flöhe zu hüten. Diesen Topf ersetzt eigentlich Heidéde schon allein; aber Rollerolle bringt ihm Verstärkung. Zwar ist er noch nicht so gefahrdrohend wie der »Große«; aber das liegt nur an den geringeren Kräften; der gute Wille ist da. Wenn sie in meinem Arbeitszimmer Quartier nehmen, dann kann ich eigentlich nicht sagen, daß sie mich nicht zur Arbeit kommen ließen; nur zu meiner eigenen Arbeit komm ich nicht. Und wenn die beiden sich in ihrem Programm noch einig wären! Aber nein, sie wollen meistens sehr Verschiedenes zu gleicher Zeit. Jetzt will der eine die große Kamintür geöffnet haben, um durch die Löcher mit mir »Kiiik« zu machen, während der andre Kuno Fischers Geschichte der Philosophie lesen will; jetzt wünscht der eine auf meiner Schulter zu reiten, während der andere die Schreibmaschine zu bearbeiten wünscht; jetzt soll ich für Rollerolle die elektrische Krone andrehen und ihn jede Lampe andachtsvoll betasten lassen, während Heidéde gerade wieder einmal vom Tritt herunterfällt. Wenn ich mich trotzdem einmal vergesse und »auf des Denkens freigegebenen Bahnen mit kühnem Glücke schweife«, werde ich mitten auf meinem Gange durchs Zimmer angehalten wie ein ertappter Schmuggler und dringend ersucht, mir die Schuhe ausziehen zu lassen. Heidéde hat ein Paar Stiefel herbeigeschleppt; ich soll die Schuhe aus- und die Stiefel anziehen. Es liegt nicht der geringste Grund dazu vor; aber er hat mich gelegentlich das Fußzeug wechseln sehen, und das möchte er wiedererleben. Die Schuhe laß ich mir ausziehen; das Weitere lehn ich ab. Heidéde verzichtet nachsichtig, klopft aber mit der Hand eifrig auf einen Stuhl und ruft dringend »Da! da! da!« Das heißt, ich soll mich setzen. Nachdem ich das getan, klopft er auf den Ledersessel; das bedeutet, ich soll mich auf den setzen. Ich bin ja nicht ungefällig und willfahre ihm. Sobald ich sitze, klopft er aufs Sofa, alles nach dem bekannten Grundsatze

»Denn der Großvater, der ist meine;
Den kann ich huppen lassen, wie ich will.«

Schwerlich werdet ihr im Bezirk der Erde ein Kind finden, das nicht die Neigung zur Willkür mitgebracht hätte; nicht umsonst findet sie sich hernach bei den Erwachsenen so allgemein.

Kinder schlafen bekanntlich nicht gern allein; die Mädel nehmen ihre Puppe mit zu Bett, die Buben irgendein Spielzeug, das sie als Kamerad in die Nacht begleitet und das man ihnen so gern mitgibt, auf daß noch ihr letzter, entschlummernder Gedanke Liebe und Glück sei. Heidéde braucht drei Schlafkameraden: der erste heißt »Haph« und ist eine scheußlich-gelbe künstliche Blume; aber er liebt sie; der zweite heißt »Eija« und bedeutet in diesem Falle ein Bauholz; der dritte heißt »Löbbl löbbl« und ist eine Garnrolle. (Alles, was rollt, ist »Löbbl löbbl«). In einer Nacht erwachte seine Mutter von dem wilden Sehnsuchtsschrei »Löbbl löbbl!!« Sie sagte sich sofort, daß Löbbl löbbl aus dem Bett gefallen sei, stand auf, ging ins Nebenzimmer, gab Löbbl löbbl seinem Freunde zurück und ging wieder zu Bett. Sie hatte noch keine zwei Minuten gelegen, als sie hörte, wie Löbbl löbbl wieder zum Bette hinausflog und ihr Söhnchen schmerzensvoll rief: »Löbbl löbbl!!!« Was soll eine Mutter tun, wenn sie nicht will, daß ihr Mann erwacht – sie gab den Spielkameraden abermals zurück und mahnte liebevoll zur Ruhe. Sie lag noch nicht wieder, als der arme Löbbl löbbl schon wieder auf den Fußboden sauste, und als sie jetzt zauderte, dem Befehl zu gehorchen, machte Buzi I. bedeutenden Krach, weil seine Mutter nicht apportierte. Da brachte seine Mutter ihm noch einmal die Rolle, schalt ihn aber mit unterdrückter Stimme, versenkte ihn mit Nachdruck in die Kissen und deckte ihn tatkräftig zu. Indessen Buzi der Große fühlte sich als Iwan der Schreckliche; er setzte Löbbl löbbl ein viertes Mal an die Luft und machte, als nichts darauf erfolgte, noch viel bedeutenderen Krach. Da indessen erhob sich sein Vater, nahm ihn aus den Kissen, brach seinen Charakter wiederholt von der Rückseite und befahl Ruhe im Baß. Das wirkte wie Morphium; in zwei Minuten schlief Iwan.

Das Ganze war eine schreckliche Schicksalstragödie nach Werner, Müllner und Houwald. Genau vor zwanzig Jahren hatte Iwans Mutter als »Appelschnut« in eben diesem Zimmer, ja, an genau derselben Wand ihr Bett gehabt, hatte sich als »Semiramis des Nordens« gefühlt und viermal kurz hintereinander in einer Nacht den elektrischen Knopf in eben dieser Wand gedrückt, weil auf dieses Zeichen eine besorgte Mutter oder ein besorgter Vater hurtig im Hemde herbeisprang.

»Erynnien, seid ihr's?
Oh, es ist wahr, Ihr habt den leichtsten Schlaf!«

Sie hatten nicht geschlafen; sie schrien »Löbbl löbbl!«


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