Otto Ernst
Frieden und Freude
Otto Ernst

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Rückkehr zur Freude

Das Geschlecht der Mucker ist weiter verbreitet und mannigfaltiger geartet, als man gemeiniglich annimmt. Gewöhnlich denkt man bei dem Worte Mucker an Frömmler, d. h. an Menschen, die religiöse Gedanken, Empfindungen und Übungen gar zu reichlich und oft an falschem Orte zeigen und deren Kundgebungen mit ihrem eigentlichen, innersten Denken und Fühlen und ihrem verborgenen Handeln nicht übereinstimmen. Das letzte Merkmal gehört aber nicht notwendig zum Begriff des Muckertums; ein Mucker muß nicht unbedingt ein Heuchler, ein Tartuffe sein; es gibt jedenfalls ernste, fanatische, in ihrer Art ehrliche Mucker, wie man ja auch den Führern jener Königsberger Pietisten, von denen das Wort »Mucker« seinen Ursprung hat, ein Verschulden an den geheimen Sünden ihrer Anhänger keineswegs nachweisen konnte. Selbstverständlich ist nur, daß der Schritt von einer übertriebenen, ungesunden und schaustellerischen Frömmigkeit zur Heuchelei immer nur ein kleiner Schritt ist.

Mit der religiösen Muckerei pflegt die sittliche eng verbunden zu sein; es gibt aber auch eine besondere sittliche Muckerei, die vom Religiösen unabhängig auftritt, ein Moralprotzen- und Moralphilistertum. Diese Art der Muckerei wirft sich mit besonderer Wut auf das Gebiet des Ehe- und Liebeslebens und vergißt in ihrer Lehre und in ihrem Leben, daß der liebe Gott zehn Gebote gegeben hat und nicht nur das sechste. Ich habe vielfach Leute beobachtet, die über dem sechsten Gebot namentlich das siebente und achte vollständig vergessen hatten. Unsere Geschlechtsmoral ist von solchem Muckertum stark durchseucht. Daß man »vor keuschen Ohren nicht nennen darf, was keusche Herzen nicht entbehren können«, ist ja bis zu einem gewissen Grade nur gut und recht, wenn diese Gepflogenheit nur nicht gar so leicht in die übliche Erscheinung der Prüderie ausartete und letzten Endes in die wohlbekannte Heuchelei mündete.

Und da nun Venus nach dem geflügelten Worte erfriert, wenn Ceres und Bacchus sie nicht ernähren, da überhaupt dem Mucker jede Art von Freude an den guten Gaben der Welt verdächtig ist, so wendet er sich endlich mit zerstörendem Haß gegen den Lebensgenuß und die Lebensfreude überhaupt, soweit sie nicht aus den von ihm anerkannten Quellen fließen. Ich habe seit langem und wiederholt den Eindruck gewonnen, als wenn das Muckertum die Zeit des Krieges und die Zeit nach dem Kriege für seine gute Zeit erachte und die Gelegenheit günstig finde, der Lebensfreude Hand- und Fußschellen anzulegen. Wenn man ihm glauben soll, so ist in diesen ernsten Zeiten jede unbefangene, offenherzige Freude an den Sonnenseiten und Sonnentagen des menschlichen Lebens – Sonne, Blumen, Frühling und Vogellieder kehren ja auch in diesen Zeiten immer wieder! – eine Schande und ein Verbrechen. In jeder Stunde und Minute sollen wir danach der Leiden unserer Mitmenschen, sollen wir des Ernstes der Weltlage eingedenk sein.

Wie sollen wir uns zu dieser Forderung verhalten?

Ich glaube, die Haupt- und Grundantwort lautet wie in allen Lebenslagen: Wir sollen wahr sein. Ich will darzustellen versuchen, was ich unter diesem »Wahr sein« verstehe.

Wenn man in der Öffentlichkeit steht und, obwohl man Künstler ist, gewisse Beziehungen zur Gesellschaft hat, kommt man jedes Jahr ein paarmal in die Lage, an einer Bestattung teilnehmen zu müssen, die einem nicht zu Herzen geht. Irgend ein mir menschlich gleichgültiger Schulze oder Müller ist gestorben, dem ich anstandshalber die letzte Ehre erweisen muß. Wenn ich dabei eine durchaus ernste, ja feierliche Haltung bewahre, so folge ich nicht nur einem Gebot der Erziehung und guten Sitte, es hat auch seine guten seelischen Gründe. Denn der Tod eines Menschen ist immer ein ernstes Ding; ich halte es für eine gute Sitte, vor einem Leichenwagen den Hut zu ziehen; denn im Leben des Vorbeifahrenden war sicher auch ein gutes Stück Leid, und Leid verdient Ehre. Und wenn ich den Hinterbliebenen mit einem Händedruck mein »Beileid« ausspreche, so lüge ich nicht; denn die Trauer der Nachbleibenden steht mir lebhaft vor der Seele. Den Erschütterten jedoch spiele ich nicht. Statt dessen habe ich zuweilen furchtbare Lachanfälle zu überwinden, wenn ich den Obmann der bezahlten Leichenträger, der die Honneurs macht, mit wunderbarer Tüchtigkeit den seelisch Zusammengebrochenen, für immer Vernichteten markieren sehe. Er ist mir das unbezahlbare Vorbild der bezahlbaren Nächstenliebe.

Wenn ich am Sarge eines Verblichenen spreche, so werde ich schon etwas wissen, was ihm zur Ehre gereicht; vor allem suche ich alles zusammen, was die Hinterbliebenen aufrichten und erquicken kann. Aber »Er hatte keine Fehler« sage ich nicht. Als das ein Herr sagte an der Bahre eines wackeren Mannes, der so zweifellos Fehler hatte wie ich, da wurde mir körperlich übel. Man zählt am Sarge eines Menschen nicht seine Fehler auf; denn man ist nicht die Weltgeschichte; aber als anständiger Mensch sagt man nicht: »Er hatte keine Fehler.« Man ist wahr.

Wie zu Begräbnissen, so muß man zuweilen zu Jubiläen, goldenen Hochzeiten, Rangerhöhungsfestlichkeiten und dergl. gehen und Glück wünschen, ohne daß man von den Verdiensten der Gefeierten unbedingt überzeugt wäre. Ich lüge nicht, wenn ich einem Jubilar Glück wünsche; denn eigentlich wünsche ich allen Menschen Glück. (Wenn ich dem einen oder andern gelegentlich eine Tracht Prügel wünsche, so ist das auch nur zu seinem Glück gemeint, und wenn er ihr entgeht, so grolle ich deshalb nicht mit dem Schicksal.) Soll ich auf den Gefeierten reden, ohne daß ich ihm etwas Gutes sagen könnte, so erkläre ich, daß für diese Aufgabe weit würdigere Männer in Betracht kämen. Wenn du bei solchen Anlässen redest, lieber Leser, dann sollst du wissen, daß du dem Gefeierten mit gutem Gewissen etwas Freundliches sagen kannst. Sage es ihm auf die freundlichste und angenehmste Weise; aber datiere nicht, wie es üblich ist, von seinem Auftreten die Weltwende zum goldenen Zeitalter hin, das noch gar nicht da ist; sage nicht, daß er die Verdienste und Eigenschaften Julius Cäsars, Martin Luthers, Goethes, Hindenburgs, Beethovens und Justus Liebigs in sich vereinige. Ich will um Gottes willen nicht sagen, daß du an Feiertagen mit einem Rezensentengesicht unter den Menschen einhergehen sollst, oder mit dem Gesicht eines Schulpedanten, der fest überzeugt ist, daß er zu bestimmen habe, ob seine Mitmenschen 2–3 oder 3–4 oder 5 verdienen. Ich habe es schaudernd miterlebt, wie ein aufgeblasener Literaturprofessor am 70. Geburtstag eines Dichters in dessen Gegenwart eine »Festrede« hielt, die im Grunde darauf hinauslief, daß mit dem Gefeierten nicht viel los sei. So ist das »Wahr sein« nicht zu verstehen. Er konnte sich seine Kritik für seine Vorlesungen sparen; auf einem Feste hatte er die Pflicht, wahr und liebenswürdig zu sein. Gewiß: Das findet sich nicht oft zusammen, aber es muß ja auch nicht oft geredet werden.

Ich glaube, nun deutlich gemacht zu haben, was ich unter dem »Wahr sein« verstehe. Wie ist das Gesagte auf unser heutiges Betragen anzuwenden? Wie wir uns zu den gegenwärtigen Leiden unserer Mitmenschen, zu den Schicksalsfragen dieser Zeit stellen sollen – ich glaube, darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Wie dürften wir auf den Namen »Mensch«, auf den Namen »Deutscher« Anspruch erheben, wenn wir diese Leiden nicht fühlten, den Ernst dieser Fragen nicht begriffen? Das häßliche Wort »Abstumpfung« findet auf uns keine Anwendung. Das Verhältnis unseres Herzens zu dieser gewaltigsten und elendesten Zeit der Menschheitsgeschichte kann sich nicht ändern. Unser Mitleid ist stiller, aber darum nicht tatlos, unser Ernst, unsere Begeisterung für Deutschlands Zukunft sind gefaßter, beherrschter, aber darum nicht matt und müde geworden. Wahr aber ist, daß ein ununterbrochener Ernst, ein unausgesetztes Leidgefühl eine seelische und körperliche Unmöglichkeit sind. Wahr ist, daß neben dem strengen Ernst die Heiterkeit, neben dem schwersten Leid die Freude, neben der tiefsten Trauer der Frohsinn ein unverlierbares Naturrecht hat. Dieser Rhythmus des Herzens ist so natürlich wie der Rhythmus der Atmung, des Pendels, des Kolbens im Zylinder, wie der Rhythmus Frost und Wärme, Tag und Nacht. Und zu dieser Tatsache sollen wir uns wahr verhalten und sollen sie nicht heuchlerisch verleugnen. Es ist ein tragisch-komischer Mangel des Deutschen, daß er das nicht recht begreift und fühlt. Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß der Deutsche recht gern lacht; er muß ja lachen, wie er essen muß; aber er schämt sich des Lachens. In breiten Schichten unserer Nation herrscht mehr oder weniger das Grundgefühl, daß der Mensch eigentlich immer ernst sein müsse und daß Heiterkeit, ausgelassene Lustigkeit gar, im Grunde genommen eine unerlaubte, alle sieben Jahre allenfalls einmal entschuldbare Ausschweifung sei. So kam ein Goethe dazu, seine Deutschen »düstere Bestien« zu nennen. Ich sehe ganz ab von den überzeugten Pessimisten, denen das Weltenspiel in seiner Ganzheit eine unzweifelhafte Tragödie ist. Sie allerdings dürften nach ihrem System eigentlich nicht lachen, wie sie auch eigentlich nicht essen dürften. Aber selbst sie lachen und müssen lachen, und in ihren Systemen können sie des Humors nicht entbehren. Wieviel mehr haben die ein Recht zum Lachen, denen die Welt trotz aller Weltkriege ein Drama mit gutem Ausgang, zum mindesten mit gutem Ausblick ist, wenn nur der Blick Jahrtausende, Jahrhunderttausende überspannt?

Was sollen wir also den Leuten sagen, die unser Land und Volk, die die ganze Welt vermuckern möchten um unseres Unglücks willen? Zunächst dies: Schaut zurück in die Zeit des Krieges! Was taten unsere Krieger in den Kampfpausen, wenn sie Ruhe, Sicherheit, Erholung genossen? Sie scherzten, lachten, sie gingen ins Theater, sie sangen und tanzten. Weil sie's nötig hatten, weil sie's mußten, weil sie nach Leid und Schrecken die Freude so notwendig brauchten wie das Ausatmen nach dem Einatmen. Vielleicht wendet man uns ein: Ja, die hatten auch ein Recht zur Freude, weil sie Ungeheures leisteten. Aber ich denke: die Last, die wir im Lande trugen, der Kampf, den wir kämpften, sie waren nicht so gering, daß wir verdienten, mit Entziehung des Lichtes bestraft zu werden.

Weiter werden wir sagen: Tod und Wunden sind nicht das tiefste und schwerste Leid des Lebens; die Welt des Friedens hat wohl stillere, aber nicht geringere Schrecken als die des Krieges. Das Leid dieser Zeit ist nicht größer als das Leid der Welt. Wenn ihr denn so tief und lebhaft mit Welt und Menschheit fühlt, so dürft ihr auch in sogenannten »guten Zeiten« nicht fröhlich sein. Denn das ist doch gewiß: Wer sich in jedem Augenblick seines Lebens mit ganzer Kraft lebendigen Gefühls vorstellte, was die Welt an Leid und Schmerzen birgt, der könnte niemals froh sein, der müßte unaufhörlich weinen. Augen, die unaufhörlich weinen, erblinden zuletzt, so sagt man. Soll die Menschheit erblinden? Gottlob, daß dagegen gesorgt ist.

Gottlob, daß der Mensch mit Federkraft begabt ist, die jede Last einmal abwirft und jedem Druck mit Gegendruck antwortet. So gewiß das Pendel nach links geht, nachdem es zuvor nach rechts gegangen, so gewiß kehrt das Menschenherz vom Leid zur Freude zurück. Nur im Tode ist es anders.

An seichten, albernen, schlüpfrigen, rohen Späßen sich vergnügen, ist schon in guten Zeiten des Menschen unwürdig, und ist es in schlimmen sicherlich noch mehr. Das darf man zugestehen, ohne Mucker zu sein. Aber ist z. B. auch der Tanz ein unwürdiges Vergnügen? Scheltet nicht, wenn unsere Jugend wieder tanzt, ist doch der Tanz die eigentliche Gangart der Jugend! Und um der Jugend willen ist's ja vor allem, daß wir das Recht auf Freude verlangen! Eine Jugend ohne Freude ist eine Mannheit ohne Wärme, ein Alter ohne Abendrot. Denkt euch doch ein Mädchen, das in seinen Frühlingstagen nie getanzt hat! Von der Freude der Kindheit und Jugend ernährt sich unser ganzes Leben. Aus dem Leiden kommt die Kraft zur Freude; aus der Freude kommt die Kraft zum Leid. Freilich: wenn Deutsche tanzen und feiern in diesen Zeiten, so sollen sie es tun mit dem Schwert an der Seite und dem Helm auf dem Haupt.

Wenn ihr die Welt bis in den Grund vermuckern wollt, so verbietet im kommenden Frühling und Sommer den Sonnenschein, weil er nicht zum Ernst der Zeiten passe. Angenommen, euer Verbot hätte Erfolg, so würdet ihr im Herbst kein Brot haben. Und ihr werdet kein Brot haben, wenn ihr die Freude verbietet.

Und wenn ihr nicht Brot habt, werdet ihr keinen Sieg haben.


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