Otto Ernst
Frieden und Freude
Otto Ernst

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Der Kuchen, der Pfirsich und das Mädchen ...

Ich soll die schönste meiner Kindheitserinnerungen erzählen? Das ist grenzenlos schwer. Welches ist denn die schönste? Ich weiß es nicht. Soll ich von den österreichischen Soldaten erzählen, die mit Musik durch unser Dorf zogen, oder von den Weiden, die über den Dorfteich ihre Zweige senkten, oder von Pfannkuchen mit Heidelbeeren, von denen man eine herrlich tiefblaue Zunge kriegte, so daß man noch halbe Tage lang vor dem Spiegel sein Vergnügen daran hatte, oder von dem großen Glasmarmel, der sechzig gewöhnliche Marmel wert war, oder von dem ersten Zigarrenstummel, den ich meinem Vater entfremdete und auf heimlichen Heckenwegen rauchte und der dann freilich auch eine sehr schwermütige Kindheitsstimmung nach sich zog, oder von meiner Krankheit, als ich zu Bette lag und meine Mutter mir mit Tränen in den Augen leise übers Haar strich? Von solchem Glück ist meine Kindheit und Jugend zum Bersten voll, und eines war immer schöner als das andere. Ich will einen Entschluß fassen und von der frühesten meiner schönsten Erinnerungen erzählen, oder doch von einer der frühesten; denn ob sie die allerfrüheste ist, weiß ich auch nicht.

Es war damals, als ich noch das neutrale Kleidchen der kleinen Kinder trug – man hat mich aber nie für ein Mädchen gehalten – und als mein Vater, wenn er mit mir ausging, mich an seinem Mittelfinger führte und ich zur Umklammerung dieses Fingers noch meine ganze Hand brauchte. Mit meinem Vater ausgehen, das war schon immer ein Fest für sich; er lachte mich immer so freundlich an oder auch so recht in sich hinein, wenn ich plauschend neben ihm herlief; er machte nur immer zu große Schritte, besonders wenn sein Gedankenschwungrad ins Sausen kam, und dann mußte ich unaufhörlich Trab laufen, bis er sich wieder auf mich besann. Und diesmal gingen wir nach der Flottbeker Chaussee und an die Elbe. Diese Gegend war damals ein einziger, viele Stunden langer Garten und war der Garten Eden meiner Kindheit. Und das ist er noch heute, und wenn ein Cherub mit flammendem Schwert mich daraus vertreiben wollte, so würde ich ihn auslachen und sagen: »Versuch's doch!« Man sagt, daß Kinder im allgemeinen noch wenig Sinn für die Landschaft hätten; ich weiß nicht, wie weit das zutrifft; von mir aber weiß ich, daß mir schon als kleinem Kinde, wenn ich auf diesen Fluren ging, die Welt als fleckenlos schön und als aller Wünsche vollste Erfüllung erschien. Kinder reden nicht viel über die Eindrücke der Natur. Wir stiegen auf einen Baum und blickten weit umher und sagten, wenn wir redselig waren: »Hier ist es fein!« (denn wir wohnten nicht weit von England, wo fine noch »schön« bedeutet) und diese vier Wörtlein umschlossen eine Flut von Empfindungen.

Nun stieg an dieser Chaussee aus weit und breitem Rasen eine weiße Villa und blickte über Strom und Straße wie eine weiße Königin auf grünem Thron. Und der Herr dieser Villa hatte einen Gärtner, und der war meines Vaters Bruder. Den wollten wir besuchen.

Die Begrüßungsfeierlichkeiten, der Onkel, die Tante – sie sind meinem Gedächtnis längst entschwunden. Ich erinnere mich aber eines freundlichen kleinen Zimmers, in dem ein Kaffeetisch gedeckt war, und daß man mich auf einen hohen Stuhl setzte und mir einen Kuchen gab, der so dick war, daß mein Mund ihn nicht umspannen konnte. Und das war das Köstliche an dem Kuchen. Einen Kuchen hatte ich wohl auch zu Hause einmal bekommen, obschon nur selten; aber ein Kuchen, der so dick war, daß ich – ich mochte das Mäulchen noch so weit aufreißen – nicht überhapsen konnte, das war ein überwältigendes Erlebnis! Später gab man mir dann einen Pfirsich, und als ich hineinbiß, lief mir der Saft zu beiden Seiten des Mundes hinunter. Und das war wiederum das Herrliche an diesem Pfirsich. Auch daheim hatte ich wohl einmal einen Apfel oder ein paar Kirschen genossen; aber eine Frucht, die so duftete und deren Saft man auch beim besten Willen mit einem Munde gar nicht bewältigen konnte – das war ein unerhörtes Begebnis. Und nun kam hinzu, daß mir das alles gereicht wurde von einem Mädchen, das genau so war wie der Kuchen und der Pfirsich. Sie wird wohl 12 oder 14 Jahre alt gewesen sein und war so schön, daß ich sie mit meinen Augen, ich mochte sie noch so weit aufreißen, nicht bewältigen konnte, und während sie mich bediente und mich im Garten schaukelte, war sie von solcher Freundlichkeit und Heiterkeit, daß mein Herz auf einmal so viel Güte nicht fassen konnte und in einem fort überströmte von Glück.

»Und klar auf einmal fühlt ich's in mir werden:
Sie ist es, oder keine sonst auf Erden!«

Ich verliebte mich sterblich in das holde Mädchen, und als man mir beim Abschied Kuchen und Pfirsich und eine Puppe, die mir gefallen hatte, mitgab, da hielt ich es für selbstverständlich, daß man mir auch das Mädchen mitgebe.

»Komm!« sagte ich mit der Schlichtheit eines großen Gefühls, als mein Vater und ich aufbrachen. Aber die unmenschlichen Eltern verweigerten sie mir, natürlich aus den bekannten philiströsen Versorgungsgründen, und sie – sie lachte! Damals empfing mein Herz die erste Wunde. Ich soll dann sehr wenig Beherrschung meiner Affekte gezeigt haben; ich weiß es nicht mehr. Aber nach späteren Analogien kann ich mir schon denken, daß ich die Rechte der Jugend gegen das tyrannische Alter mit großer Lebhaftigkeit vertreten habe.

Jene Wunde ist vernarbt und ist nur ein Mal neben vielen anderen Malen meines narbenreichen Herzens; aber die Erinnerung an das Mädchen, den Pfirsich und den unüberwindlichen Kuchen werde ich mit ins Grab nehmen. Mein Onkel und sein Weib sind längst gestorben, und von ihrer Tochter weiß ich nichts; aber das kleine Gärtnerhaus steht noch heute, und so oft ich schon daran vorübergeschritten bin, noch immer ist es mir wie ein Zauberhaus im Walde, das aus lauter Kuchen und Pfirsichen und Schönheit und Güte gebaut ist. Und immer fühle ich mich versucht, bei den fremden Bewohnern anzuklopfen und mir von ihnen die Stätte zeigen zu lassen, wo ich zum ersten Male herzhaft hineinbiß in die Frucht meines Lebens und ihre Überfülle mir Mund und Herz überströmte.


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