Otto Ernst
Frieden und Freude
Otto Ernst

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Jung ist nicht alt

Als ich einmal am Morgen von Heiligabend in das Wohnzimmer meines Nachbarn und Freundes, eines berühmten Gelehrten und wundervollen Menschen, eintrat, sah ich ihn mit tiefer Kniebeuge wie einen Frosch um den Tannenbaum, mit dessen Aufputz er augenscheinlich beschäftigt war, herumhüpfen. Auf meine erstaunte Frage, was er denn mache, erwiderte er:

»Ich putze den Tannenbaum, und das muß man doch aus dem Gesichtspunkt des Kindes machen; die Kinder sehen doch den Baum nicht aus gleicher Höhe wie wir, sondern von unten!«

Ich gestehe: ich war beschämt. Ich hatte auch immer den Weihnachtsbaum für die Meinen geputzt; aber auf diese zartsinnige Rücksicht war ich nicht verfallen. Sie sah ihm ganz ähnlich, meinem Freunde.

Als ich von ihm fortging, bewegten mich mancherlei Gedanken. »Der Gesichtspunkt des Kindes!« Wie oft nehmen wir auf ihn Bedacht? Wie oft lassen wir ihn außer acht? Eine liebe Frau erzählte mir einmal, sie habe als Kind sehr oft an einer sehr hohen und langen Mauer entlanggehen müssen; diese Mauer sei ihr immer besonders gewaltig, ja unheimlich erschienen. Als sie dann später, als erwachsenes Mädchen, die Mauer wiedergesehen habe, da sei es eine ganz gewöhnliche Mauer von mäßiger Höhe und Länge gewesen. Ist es uns allen nicht genau so ergangen? Das Kind empfindet alle Dinge größer, gewaltiger, schöner, bunter, süßer, duftiger, glänzender, aber auch drohender, schrecklicher, trauriger, bittrer als wir. Das Kind ist leichter befriedigt, leichter erfreut als wir – »Kinderhände sind leicht gefüllt« – es sei denn, daß es das traurige Schicksal des verwöhnten, überreizten und abgestumpften Kindes erleidet; es ist aber auch leichter geschreckt, betrübt und entmutigt. »Kindermaß und Kälbermaß müssen alte Leute wissen«, sagt ein Sprichwort – auf das Kälbermaß verstehen sie sich oft besser als auf das Kindermaß in Freude und Leid.

Schmeckt einem von euch der Apfel oder die Kirsche noch so wie in Kindertagen? Mir nicht. Die Äpfel waren saftiger, die Kirschen süßer. Ich weiß wohl: es ist ein Segen des Verkehrs, daß das beste Obst ins Ausland oder irgendwohin, weit wegwandert und die Leute dort, wo die schönsten Früchte gedeihen, das »Köterzeug« verzehren müssen; aber auch an der Tafel von Fürsten und Börsenkönigen hat mir keine Frucht so geschmeckt wie die Äpfel und Pflaumen, die ich mir halbepfundweise von der Karre kaufte und aus der Mütze verzehrte. Es wird bei euch genau so sein. Findet ihr, daß die Kuchen noch so schmecken wie früher? Ich weiß: Kuchen werden – und wurden schon vor dem Kriege – vielfach aus Ersatzeiern, Ersatzmilch, Ersatzbutter, Ersatzmehl, Ersatzzucker, Ersatzmandeln, Ersatzrosinen, Ersatzzimt usw. bereitet – man sollte diese Kuchen dann auch »Ersatzkuchen« nennen; ein Törtchen dieser Art dient mir schon seit Jahren als Federwischer – aber auch wenn der Kuchen in meinem eigenen Hause von meiner eigenen Tochter mit roten, heißen Wangen und aus lauter echten Zutaten gebacken wurde und mir vorzüglich schmeckt – so wie damals, als ich drei Jahre alt war und eine Tante mir einen Kuchen in den Mund stopfte, der so dick war, daß ich nicht überbeißen konnte, so gut schmeckt kein Kuchen mehr.

In Mannesjahren mußte ich einmal pflichtgemäß die Lederstrumpfgeschichten lesen – so herrlich und so schauerlich kamen mir Indianer und Wildtöter bei weitem nicht mehr vor wie einst. Ich bin noch jetzt einigermaßen pünktlich und pflege Verabredungen innezuhalten, wenn es sich auch nur um einen Spaziergang handelt; aber so früh und mit so erregtem Pflichtgefühl bin ich nirgends zur Stelle wie damals, als es sich uns darum handelte, die Jungen des Nachbardorfes zu verhauen. Ich war immer dafür, daß es beim Spielen streng nach Gesetz und Regeln zugehe, besonders wenn sie zu meinem Vorteil waren; aber so fanatisch würde ich jetzt auch bei der wichtigsten Schachpartie nicht streiten, daß ich mir ein Auge blau schlagen ließe. Ich bin noch heute ein gutes Theaterpublikum; aber so himmelschön und seliggroß erscheint mir die Welt der Bühne nicht mehr wie damals auf meinem Puppentheater, oder wenn ich als 10-, als 12 jähriger in einem richtigen Theater saß, ihre Helden nicht mehr so unmeßbar herrlich, ihre Frauen nicht mehr so erdenthoben schön, ihre Schurken nicht so unbegreiflich furchtbar, so unaussprechlich gemein. Ich kann jetzt schlafen, wenn ich »Die Räuber« gesehen habe; damals konnt ich's nicht. Auch bin ich noch immer ein guter Lacher; aber so kann ich nicht mehr lachen wie als Junge, da meine Explosionen die Aufmerksamkeit des ganzen Publikums auf mich lenkten und ich mich plötzlich mit schrecklicher Beschämung als Mittelpunkt einer besonderen Heiterkeit empfand.

Ach ja, so vieles, so vieles ist kleiner und schwächer, nüchterner und schäbiger geworden als einst, ist nicht mehr so schön, so leuchtend, so gewaltig, so prächtig. Aber vieles ist dafür auch nicht so schrecklich, so traurig, so beängstigend, so bedrückend mehr wie vor Kinderaugen und im Kinderherzen. Wenn der Schriftleiter eines Blattes mir schreibt: »Sie müssen mir bis zum 13. Ihren Beitrag schicken; denn das haben Sie versprochen!« dann nehme ich das zwar ernst und lasse mir etwas einfallen, wenn es will; aber so bange bin ich nicht mehr wie vorzeiten, wenn ich meine täglichen fünf Bibelsprüche nicht gelernt hatte. Mir sind einmal 20 000 Mark gestohlen worden, und das war viel Geld für mich; aber der Ärger, den mir dieser Verlust verursachte, war ein Vergnügen zu nennen gegen den Schmerz, mit dem ich einen heiß und innig geliebten Kreisel auf Nimmerwiedersehen in einem Straßensiel verschwinden sah. Ich habe noch heute vor dem deutschen Schutzmann den allgemein bekannten deutschen Respekt; aber ich fürchte ihn auch nicht annähernd so tief mehr wie als Vierjähriger, da ich meinte, der Polizist, der hin und wieder in den Gassen unseres Dorfes auftauchte, beschäftige sich unaufhörlich damit, zu seinem Vergnügen Kinder und große Leute einzufangen, mit seinem dicken gelben Bambusrohr schrecklich durchzuprügeln, ins Gefängnis zu werfen, ihnen dort vergiftete Klöße zu essen zu geben und sie, wenn es ihm Spaß machte, zu köpfen. Auch den Schornsteinfeger seh ich bei weitem ruhiger an als damals.

Und das ist wohl die lichte Seite an dieser Änderung der Perspektive: Vieles, gar vieles, das uns drohte oder zu drohen schien, sehen wir ruhiger, gelassener an; viel Schweres, Schwarzes, Schreckendes wird leichter, lichter, kleiner, wenn wir größer werden, und namentlich wenn wir innerlich immer größer werden, wird gar manches Übel der Welt immer kleiner und kleiner, oft so klein, daß wir lachen, wo wir als Kinder weinten.

Es gibt Menschen, die die Welt viel zu lange aus der Kinderperspektive betrachten und die Menschen und Dinge noch im höheren Alter viel zu groß sehen; es ist auch eine sehr schmerzliche Wandlung, die Menschen kleiner sehen zu müssen als man möchte. Eines aber ist mir nicht kleiner geworden und wird es nicht werden, solange ich lebe: die Natur. Sie sehe ich immer größer, je älter ich werde. Nicht im einzelnen: die Blumen und Schmetterlinge scheinen mir nicht mehr so tief gefärbt, die Bäume und die Pferde nicht mehr so groß wie einst. Nur als ich einmal eine himmelsweite Alpenweide in vollster Juniblüte sah, da war es mir, als sah ich die Blumen meiner Kindheit wieder. Das Ganze der Natur aber wächst höher und herrlicher vor mir und in mir empor mit jeglichem Besuch. Immer tiefer wird mein Staunen, immer froher und frömmer meine Bewunderung; niemals enttäuscht sie mich, nein, immer überbietet sie noch mein Hoffen und Erwarten, und das ist gewiß ein erhabener Trost; denn in ihre Arme sinken wir doch einst zurück; in ihren Schoß kehren wir doch einmal zurück.

Und das ist vielleicht ein Rat, wenn uns die Menschen und Dinge der Welt zu klein werden: Laßt uns nach immer größeren Menschen und Dingen, nach immer größeren Gedanken und Aufgaben, nach immer größeren Bildern der Hoffnung suchen! Dann werden wir, je größer wir selber werden, um so Größeres finden. Die jüngsten Zeiten haben uns ja gelehrt, daß der Mensch unendlich klein, daß er aber auch unendlich groß sein kann.

Wenn aber nun die Weihnacht wiederkehrt, so wollen wir an den Gesichtspunkt des Kindes denken. Wir feiern eine bescheidnere Weihnacht als ehemals, bescheidner in Gaben und Genüssen – wie klein wären wir, wenn wir darin ein Unglück sähen! Der Handel hatte, wie so oft, uns und unseren Kindern Bedürfnisse eingeredet, die wir nicht hatten. Er hatte uns mit Puppenstuben und Gutshöfen und Eisenbahnen und Kramläden versorgt, die mit allen Einzelheiten, allen Verfeinerungen und Modernitäten ausgestattet waren, und hatte uns versichert, das seien köstliche Spielzeuge für Kinder. Man hatte dabei nur das Eine vergessen, daß das Spielzeug des Kindes nicht außer ihm ist, sondern in ihm. Sein Spielzeug ist nicht das Ding, das es in der Hand hat; sein Spielzeug ist seine Phantasie. Nicht was das äußere Spielzeug ist, sondern was das Kind daraus macht, das ist seine Freude. Die drolligen Einzelheiten und Kleinigkeiten eines vielfach zusammengesetzten Spielzeugs machen ihm – vielleicht – Spaß für einen Tag; was es aus dem einfachsten Gegenstande erschafft, das zeugt durch Wochen, Monate und Jahre mit jedem neuen Tage neue Wonne. Und wenn euer Kind mit geringer Phantasie begabt ist, dann gebt ihm um so weniger ein Spielzeug, das es der Einbildungskraft überhebt, gebt ihm um so mehr ein einfaches Ding in die Hand, das seine Phantasie herausfordert. Sie könnten unsern Kindern zum rechten Glück werden, diese bescheideneren Weihnachten, zum Glück in mehrfacher Hinsicht.

In trüber, schwerer Zeit bekam ich einmal gar nichts zu Weihnachten, keinen Tannenbaum und kein Spielzeug. Aber ein Freund unseres Hauses gedachte meiner und brachte mir am Weihnachtsabend ein paar alte, halb vergilbte Bilderbogen, für die er dem Karrenantiquar wohl einen Groschen bezahlt haben mag. Der verwöhnte Bücherliebhaber, der für 50 000 Mark oder ich weiß nicht wie viel eine »Mazarin-Bibel« erworben hat, freut sich nicht so, kann sich auch nicht annähernd so freuen, wie ich mich damals gefreut habe. Ich legte den Schatz bei meinem Bett auf den Stuhl, und als ich ihn am Morgen wieder hernahm und auf meiner Decke ausbreitete, saß ich mitten in einem innigen, goldenen Weihnachtsmorgen.


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