Otto Ernst
Frieden und Freude
Otto Ernst

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Das Leben nach dem Abreißkalender

Mein Freund Eberhard Stierholz – die Freundschaft ist etwas einseitig entwickelt – ist ein sogenannter »ernsthafter«, aber schon ein sehr ernsthafter Mensch. Er hat den gewaltsamen Überernst der Unreifen, obwohl er sicher schon seine 30 zählt. Er ist ein braver Kerl, der so edel und klug und tüchtig wie nur möglich werden möchte und sich zu diesem Zweck – wie man so sagt – die Beine ausreißt; aber er meint, daß man immer ernst sein müsse, wenn man ein ernsthafter Mensch sein wolle. Er begriff es einfach nicht, wie man einen Richard Wagner parodieren könne, und als ich ihm erzählte, daß Richard Wagner selbst über eine Tannhäuserparodie Tränen gelacht habe, da machte er ein Gesicht, als wäre ihm der Erdball unter den Füßen weggerutscht.

Solche Leute sind immer unbeugsame –ianer oder –isten, unbeugsam auf Monate. Z. B. Vegetarianer. Eine Zeitlang nannte er ein mürbes Beefsteak nicht anders als »ein Stück faulenden Kadavers«, was glücklicherweise meinen Appetit, da ich kein ernsthafter Mensch bin, nicht störte. Nicht einmal Eier und Milch, überhaupt nichts Tierisches, es sei, was es sei, wollte er als menschenwürdige Nahrung gelten lassen. Als ich ihn fragte, ob er auch den Säuglingen die Muttermilch verbiete, maßen diese Milch doch zweifellos ein tierisches Produkt sei, da meinte er stotternd, das sei »etwas anderes«. Aber seine vegetarische Weltanschauung war von Stund an sichtlich erschüttert, und eines Tages ließ er sie fallen und wurde Friedensfreund oder, wie das schreckliche Wort für eine schöne Sache lautet: »Pazifist«. Friedensfreund bin auch ich, aber anders als Stierholz. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß man für ein Ideal auch dann kämpfen soll, wenn seine Verwirklichung noch fern ist; Stierholz wollte sofort den Weltfrieden haben, jetzt in der Minute. Er hielt es für eine bloße Bosheit oder doch Beschränktheit der Fürsten und Kabinette, wenn sie den Weltfrieden nicht heute noch kontraktlich festlegten, und glaubte offenbar, wenn die Kaiser, Könige und Präsidenten sich einig wären und »Sßt! Ruhe!!« riefen, daß dann die menschlichen Leiden- und Aktiengesellschaften nicht mehr mucksen würden. Als ich ihm sagte, daß ich auch dann Anhänger der Friedensbewegung sein würde, wenn ein radikaler Erfolg erst nach hundert, zweihundert, dreihundert Jahren eintrete, da war er empört über so viel Schlappheit; er setzte seinen Namen mit unter einen flammenden Appell an die Balkanvölker, sie möchten doch das Schwert in der Scheide ruhen lassen, und als das bekanntlich nichts fruchtete, wurde er Impfgegner und Naturmensch. Er schlief nur noch in Zugluft, legte Wert auf gefrorenes Waschwasser und hängte vor dem Schlafengehen seine sämtlichen Kleider, nachdem er ihr Inneres nach außen gekehrt hatte, an den Fensterhaken ins Freie. Wenn dann am Morgen die steifgefrorenen Hosen an seinen Beinen auftauten, dann hatte er das Gefühl: Das ist gerade gesund. Er war plötzlich ein fertiger Mediziner und wußte ganz genau, daß der Krebs nur durch Prießnitz-Umschläge zu heilen sei, und zwar todsicher. Die Todsicherheit gab ich ihm zu. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß er die »ruchlose Verpestung der reinen Gottesluft durch Tabakgestank« mit den furchtbarsten Flüchen belegte. Wenn man einem Hund, sagte er, nur ein winziges Tröpfchen Nikotin unter die Kopfhaut spritze, so sterbe er sofort. Ich bemerkte ihm, daß kein Mensch verpflichtet sei, sich Nikotin unter die Kopfhaut spritzen zu lassen. Da wurde er mir böse, und jahrelang kam er mir nicht mehr zu Gesichte.

Ich erfuhr gelegentlich, daß er inzwischen Sozialist, Antisemit, Nietzscheaner, Monist, Spiritist, Alldeutscher und Philosemit gewesen sei und alles »ganz entschieden«, ja, daß er sich mit dem Gedanken getragen habe, zum Islam als der »einzig wahren Religion« überzutreten. Ganz unerwarteter Weise rannte er mir eines Tages im Gewühl der Hauptstraße gegen den Bauch.

»Oh – verzeihen Sie! Guten Tag!«

»Guten Tag. Wie geht es Ihnen?«

»Ach – – – nicht gut. Darf ich Sie mal wieder besuchen??!« rief er plötzlich mit großer Vehemenz.

Ich erlaubte ihm das gern, und am Abend des nächsten Tages saß er mir gegenüber in meinem Arbeitszimmer und »verpestete die reine Gottesluft durch den Gestank« meiner besten Havanna. Aber er rauchte nervös, ohne Sammlung und Genuß, paffte nur hin und wieder achtlos zwischen zwei Worten eines Satzes, wo gar keine Atempause hingehörte, und ließ die köstliche Rolle schändlich verkohlen. Er schien vollkommen aus dem Leim.

»Sie wissen, daß ich das Leben ernst nehme, und ich habe mir gesagt, es ist schändlich und unwürdig, ohne Plan und Ziel in den Tag hineinzuleben wie das liebe Vieh. Man sollte, so sagte ich mir, jeden Morgen einen guten und großen Gedanken lesen und ihn sich den ganzen Tag vor Augen halten, damit das Leben einen rechten Sinn bekommt. Und so kaufte ich mir einen Abreißkalender, hängte ihn in meinem Schlafzimmer auf, riß Morgen für Morgen das fällige Blatt herunter und prägte mir den Spruch, die Sentenz, den Aphorismus des Tages ernstlich ein. Da las ich z. B.:

»Vieles Gewaltige lebt, und nichts
Ist gewaltiger als der Mensch.«

Ein solches Wort spannt die Brust ganz außerordentlich. Aber ein paar Tage später stand da:

»Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht,
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.«

Wieder ein paar Tage später las ich:

»Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche;
Er unterscheidet,
Wählet und richtet,
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.«

Und einige Blätter weiter hieß es:

»Wir armen Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Hirngespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.«

Da schleicht man mutlos und geknickt zu seiner Tagespflicht.

Weiter:

»Leichtsinn ist die Quelle alles Unglücks, das uns bedroht.«

heißt es auf dem einen Blatt, und auf einem anderen steht:

»Wir Menschen werden wunderbar geprüft;
Wir könnten's nicht ertragen, hätt' uns nicht
Den holden Leichtsinn die Natur verlieh'n.«

»Bitte!« Er hatte die Blätter alle mitgebracht und legte sie nacheinander vor mir auf den Tisch.

»Hier:

»Einsamkeit macht stark!«

und hier dagegen:

»Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach, der ist bald allein!«

Dafür steht hier wieder:

»Der stärkste Mann ist der, der allein steht'

und etwas weiter hin:

»Die Menschen meidet nur, wer sie nicht kennt.«

Nun frage ich Sie!

Hier steht:

»Erst wäg's, dann wag's!«

hier aber:

»Wer allzuviel bedenkt, wird wenig leisten.«

Wer soll sich denn da auskennen? Wie kann ich wissen, was zu viel und was zu wenig ist? Bitte:

»Geiz ist die Wurzel alles Übels«

und da:

»Wenig und oft füllt den Beutel unverhofft.«

Hm? – Weiter:

»Sich über das Kleine erhaben machen,
ist die Schule zur Größe.«

Da geht man mit großzügigen Vorsätzen in sein Bureau und sieht bei seiner Arbeit über alle Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten mit Verachtung hinweg. Natürlich kommt gerade der Vorsteher und revidiert; man kriegt einen Anschnauzer, wird am folgenden Ersten nicht im Gehalt aufgebessert und liest denn auch richtig am folgenden Morgen in seinem Kalender:

»Kleine Ursachen, große Wirkungen.«

Oder man liest:

»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«,

und da freut man sich seines Weibes und seiner Kinder, um kurz darauf zu lesen:

»Welcher heiratet, der tut gut,
welcher nicht heiratet, der tut besser.«

Nun bitte ich Sie! Da wird man doch stutzig! Der Apostel Paulus war doch ein kluger Mann!«

»In diesem Falle hat er trotzdem unrecht,« sagte ich. »Nur bei Lotteriegewinnen ist es gut, daß der Mensch allein sei.«

»Nun ja,« fuhr er fort, »ich habe ja auch nach dem alten Testament gehandelt, hab ein liebes Weib und hab acht liebe Kinder, darunter zweimal Zwillinge. Mein Kalender sagt denn auch wahrhaft trostreich:

»Wo Gott Zähne gibt, gibt er auch Brot.«

Da beruhigt man sich und sagt sich: Es wird schon gehen. Leider steht schon am übernächsten Tage da:

»Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.«

Ja, du lieber Gott, den Trost kann ich mir selber machen. Ich hätte ja eine Frau mit etwas Vermögen haben können; aber mein Kalender befestigt mich in dem Gefühl, daß ich recht daran getan habe, nur mein Herz zu befragen.

»Wer Geld gefreit, hat's oft bereut«,

sagt er. Die Freude dauert nur nicht lange; denn auf einem der nächsten Zettel heißt es:

»Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde«

und das ist leider wahr; ich hatte dieser Tage den ersten Wortwechsel mit meiner Frau, und warum? Um das Hausstandsgeld. Nun, was soll man machen, man faßt sich in Geduld und harrt und hofft, daß es besser werde. Und viele schöne Sprüche bestärken einen darin.

»Hoffnung läßt nicht zuschanden werden!«

und

»Geduld überwindet alles«

und

»Wer ausharrt bis ans Ende, wird gekrönt«

und

»Leichter trägt, was er trägt,
wer Geduld zur Bürde legt«,

so leuchten sie ermutigend von der Wand; sie wechseln nur leider regelmäßig ab mit solchen Sätzen wie:

»Hoffen und Harren macht manchen zum Narren«

und

»Was bringt in Schulden? Harren und Dulden«

und

»Hoffnung ist ein langes Seil, an dem sich viele zu Tode ziehen«

und

»Es ist leicht, geduldig sein, wenn's einem wohlgeht.«

Ist es da ein Wunder, wenn man schließlich schwankend wird?«

Der arme Teufel machte ein gottserbärmliches Gesicht.

»Mein Gott, man verlangt ja nicht viel vom Leben,« fuhr er fort, »und man stimmt ja freudig zu, wenn man liest:

»Armut schändet nicht«

oder

»Nichts bedürfen ist göttlich«

oder

»Dürftigkeit mit frohem Mut, das ist Reichtum ohne Gut;«

nur müssen einem dann nicht immer Worte dazwischen kommen wie:

»Armut ist schlimmer als Begrabensein«

oder

»Armut ist zwar kein Laster, aber mehr als dieses verachtet«

oder

»Wo nichts ist, da kommt nichts hin«

usf.

Trotzdem strebt und rackert man ja fort und fort, und der Kalender treibt einen an mit den Worten:

»Zeit ist Geld«;

»Aufschieb ist ein Tagedieb«;

»Morgen, morgen, nur nicht heute,
sagen alle trägen Leute«;

»Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan«

und man hetzt sich ab, daß einem die Zunge aus dem Halse hängt; plötzlich eines Morgens starrt man ganz verblüfft auf das neuerscheinende Kalenderblatt; denn da steht:

»Eile mit Weile«;

»Morgen ist auch ein Tag«;

»Sorget nicht für den kommenden Tag«.

Ja, da könnt' man doch eine Wut kriegen nicht wahr? – Ich arbeite gewiß von Herzen gern und bedarf nicht der Mahnung meines Kalenders:

»Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen«;

aber noch viel weniger sollte da stehen:

»Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, und euer himmlischer Vater nähret sie doch.«

Bitte: beides steht in der Bibel! Soll man da nicht konfus werden?

»Wer viel gastiert, hat bald quittiert,«

können Sie auf diesem Zettel lesen. Ach du lieber Himmel, das ist eine überflüssige Warnung! Wir schränken uns auf alle erdenkliche Weise ein, und an Gastereien könnten wir zu allerletzt denken. Nichtsdestoweniger steht auf diesem Zettel die Offenbarung:

»Tages Arbeit, abends Gäste,
Saure Wochen, frohe Feste,
Sei dein künftig Zauberwort!«

Ja, hat sich was mit frohen Festen! Und dabei hab ich das Gefühl, daß der Mann recht hat! So sollte man leben! Es ist doch von Goethe, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Na ja, Goethe war doch gewiß ein kluger Mann!«

Ich konnte es nicht leugnen.

»Woran soll man sich denn schließlich halten? Sehen Sie, derselbe Goethe sagt auf diesem Blättchen:

»Nur die Lumpe sind bescheiden.«

Solch ein Wort kratzt einen auf, man fühlt sich mal wieder; man gibt den Menschen zu verstehen, daß man doch nicht so ganz wertlos ist. Natürlich: Die Vorgesetzten haben das nicht gern; bei erster bester Gelegenheit fahren sie einem über den Mund, und zum Trost erhält man von seinem Kalender die Weisheitslehre:

»Demut ziert in allen Dingen.«

Ach Gott, ich bin wahrhaftig nicht anmaßend; ich bin höflich und zuvorkommend gegen jedermann, und es ist eigentlich ganz nach meinem Sinn, wenn hier steht:

»Sei freundlich gegen jedermann,
Dann seh'n dich alle freundlich an.«

Aber dann heißt es mit einemmal wieder:

»Mache es wenigen recht, vielen gefallen ist schlimm,«

und das sagt Schiller! Ja, wem soll man denn noch folgen, wenn nicht einem Schiller! Da! Hier! Das ist auch ein Wort von Schiller, ein herrliches Wort:

»Unbilliges erträgt kein edles Herz!«

Danach hab ich einmal gehandelt – oh – oh! Wie ist mir das bekommen! Meine Stellung hat es mir beinah gekostet! Ich konnte froh sein, daß ich mit einem blauen, recht blauen Auge davon kam. Ich beruhigte mich bei dem schwachen Trost, daß Gewalt vor Recht geht, und las auf meinem Kalender mit ingrimmigem Kopfnicken:

»Der Wurm hat beim Hahn immer unrecht«.

Ja ja, dacht ich, so ist es. Aber der Kalender kannte noch einen anderen Wurm, und von dem hieß es:

»Auch einen Stachel gab Natur dem Wurm,
Den Willkür übermütig spielend tritt.«

und das war wieder von Schiller. Und die Bibel trat hinzu und versicherte:

»Recht muß Recht bleiben«,

und ein anderes schönes Kalenderblatt rief mir zu:

»Nur die Sache ist verloren, die man aufgibt.«

Da bäumte sich wieder alles in mir auf; ich beschloß, meine Sache trotz allem durchzufechten, und ich hätt' es auch sicher getan, wenn ich nicht am Morgen des Tages, als ich den endgültigen Vorsatz dazu faßte, gelesen hätte:

»Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand rennen.«

Sehen Sie: so kommt man nie zur Ruhe.«

»Ja,« bemerkte ich teilnehmend, »leider gilt noch immer das Wort:

»Das Recht ist stark nur in des Starken Hand,«

»Steht hier, steht hier!« schrie er und hielt mir einen neuen Zettel unter die Augen. »Und hier steht groß und deutlich:

»Gott ist auch in dem Schwachen mächtig.«

Nachgerade wurde auch mir schaukelig zumute.

»Ich bin kein Streber,« fuhr er fort; »eigentlich müßte ich ja längst Bureauvorsteher sein; aber darauf hab ich längst verzichtet. Solche Zettel wie

»Zufriedenheit ist Reichtum«

und

»Zufriedenheit macht Wasser zu Wein«

sind mir eigentlich ganz aus der Seele geschrieben. Wenn es nur bei solchen Zetteln bliebe! Aber da haben Sie andere, die meinen

»Stillstand ist Rückgang«

und

»Wer mit wenigem zufrieden ist, dem gönnt man auch das nicht.«

Aber verzeihen Sie: ich spreche immer nur von mir und meinen kleinen Interessen; das muß Sie langweilen!«

Ich bestritt das ehrlich und entschieden; der Mann war mir gar nicht langweilig.

»Doch!« meinte er. »Man soll nicht immer nur an sich denken; man soll nach Höherem streben. Aber das ist ja das Schreckliche: in den höheren Dingen und Fragen des Lebens geht es genau so; man sitzt immer auf der Wippe. Was gibt es höheres als die Wahrheit? Und nun hören Sie!

»Wer die Wahrheit weiß und sagt sie nicht,
Der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht!«

»Wahrheit ist die feinste Diplomatie.«

»Wahrheit besteht, Lüge vergeht.«

»Wer die Wahrheit wollte begraben,
müßte viele Schaufeln haben.«

»Mit der Wahrheit kommt man am weitesten.

Nicht wahr, da schwört man sich's im stillen zu, immer die Wahrheit zu sagen, ob sie nun wohl- oder wehtut. Jawohl! Es kommt wieder anders!

»Wahrheit findet keine Herberge.«

»Kinder und Narren reden die Wahrheit.«

»Wer die Wahrheit geigen will, dem wird mit dem Fiedelbogen auf's Maul geschlagen.«

»Wer die Wahrheit sagt, darf nicht im Lande bleiben«,

und so gehts weiter. Die Ermunterungen zur Wahrheit sind nicht so zahlreich wie die Warnungen.«

Ich hatte schon auf der Zunge, zu sagen: »Wenn man um der Wahrheit willen aus dem Lande muß, so stimmt es doch, daß man mit ihr am weitesten kommt« – aber ich wollte ihn nicht wieder durch einen Scherz erzürnen wie damals beim Nikotin.

»Ich habe immer nach Bildung und Wissen gestrebt und meine freien Stunden immer zum Lesen und Lernen benutzt; ich konnte darin nie genug kriegen. Und natürlich sagt der Kalender:

»Bildung macht frei.«

»Wissen ist Macht.«

»Wissen bringt Ehre.«

Na schön. Er kann aber auch anders:

»Wer viel weiß, vergißt viel.«

»Viel Wissen macht Kopfweh.«

»Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod.«

Das ist wieder Schiller!

»Unser Wissen ist Stückwerk«,

das ist die Bibel! Also – da möchte man ja lieber garnicht erst anfangen. – Man möchte doch so gern, daß die Menschen besser würden, nicht wahr?«

»O ja, man möchte schon!« sagte ich.

»Nun, hier steht denn auch:

»Man säet das Laster, wenn man es nicht tadelt.«

Das habe ich denn auch gelegentlich getan; aber es ist mir schlecht bekommen. Was hat man mir gesagt? »Jeder kehre vor seiner Tür«, und das sagt der Kalender auch. Er sagt auch:

»Was dich nicht brennt, das blase nicht.«

Übrigens: etwas sehr Komisches!« unterbrach er sich. »Gleich am Tage darauf steht da:

»Das denkt wie ein Seifensieder!«

Was soll das bedeuten? Das hat so doch gar keinen Sinn!«

»Das soll sich wohl auf die Sentenz vom Tage vorher beziehen,« meinte ich.

»Sie müssen nicht etwa glauben, daß ich selbstgerecht bin und mich für einen Tugendbold halte. Ich weiß sehr wohl, daß wir alle Ursache haben, zu vergeben und zu vergessen.

»Der Siege göttlichster ist das Vergeben.«

Das ist ein schöner Kalenderspruch. Als ich ihn gelesen hatte, ging ich zu meinem einzigen Feinde, dem widerwärtigsten Kerl auf unserm Bureau, und reichte ihm die Hand zur Versöhnung. Prompt am Tage darauf erklärte mein Kalender:

»Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.«

Nicht einmal seine Kinder kann man nach solch einem Kalender erziehen! Heute heißt es:

»Was sich soll klären, das muß erst gären«,

morgen dagegen:

»Das Bäumchen biegt sich,
doch der Baum nicht mehr«;

übermorgen dann wieder:

»Zu weit getrieben, verfehlt die Strenge ihres weisen Zwecks«,

da wirft man den Rohrstock in den Ofen; übermorgen aber heißt es:

»Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen«,

da holte man ihn gern wieder heraus. Kurz: man kommt nie zu einem Ende, nie zu einem Entschluß; immer bleibt man auf halbem Wege stehen, und als wenn der Kalendermacher – der nach meiner Überzeugung ein ganz gewissenloser Mensch sein muß – als wenn er den Leser zum Schluß recht gründlich verhöhnen wollte, sagt er am 30. Dezember:

»Nichts halb zu tun, ist edler Geister Art«

und am 31. Dezember:

»Medio tutissimus ibis«

das heißt nämlich auf Deutsch: «Der Mittelweg ist der sicherste.«

Ich dankte durch eine leichte Verbeugung.

»Ich könnte noch stundenlang so fortfahren –«

»Nein,« sagte ich, indem ich ihm sanft die Hand auf den Arm legte, »nicht nötig; ich bin orientiert,« was insofern gelogen war, als ich mich ausgesprochen drehkrank fühlte.

»Ich halt diesen Zustand nicht mehr aus!« rief er, nervös vom Stuhl aufspringend, »ich fühle mich hundeelend und komme ganz von Kräften, auch körperlich!«

»Und was soll ich dazu tun?« fragte ich.

»Ich wollte Sie um einen Rat bitten. Sie sind doch immer so tatkräftig –«

»Ja,« sagte ich, »ich mache von Zeit zu Zeit eine bemerkenswerte Dummheit, und darin kann man, wenn man freundlich ist, ein Zeichen von Tatkraft erblicken. Ich fürchte mich nämlich nicht davor, Dummheiten zu machen, und das ist gut; denn ich habe beobachtet, daß die Menschen, die sich beständig davor fürchten, zwar nur eine einzige Dummheit begehen, aber eine lebenslängliche. Sie leben nämlich gar nicht. Sie gleichen dem Tier, das zwischen zwei Heubündeln verhungert, weil es sich für keines entscheiden kann. (Ich sagte aus Höflichkeit ganz allgemein »Tier«.) Ich beiße immer an, auf die Gefahr hin, das schlechtere Heu zu erwischen. Sie sind seekrank.«

»Seekrank?« fragte er mit einem vollkommen seekranken Gesicht.

»Ja. Und zwar leiden Sie an angeborener Seekrankheit. Es gibt Leute, die niemals seekrank werden – die sind selten –; es gibt andere, die auf ihren ersten Fahrten von diesem trostlosen Übel befallen, danach aber seefest werden, und es gibt endlich solche, die es immer wieder kriegen, und wenn sie hundert Fahrten machen und mehr. Das letztere ist Ihr Fall. Sie sind für das Land geboren und sollten nicht auf's Wasser gehen,«

»Ich verstehe nicht ganz,« meinte er.

»Ich werde mich deutlicher erklären,« sagte ich. »Bei einem Seesturm ging ich in die Kajüte hinunter, verzehrte eine Portion Spiegeleier und stieg wieder aufs Deck. Es waren die unentschlossensten Spiegeleier, die ich jemals kennen gelernt habe; sie wußten nicht, ob sie herauf oder hinunter wollten. Damals lernte ich die Qual der Unentschlossenheit kennen, lernte sie hassen und lernte sie meiden. Dasselbe sollten Sie tun.«

Ich schwieg; er sah mich nachdenklich an, und ich fuhr fort:

»Sie geben eigentlich zu Unrecht Ihrem Abreißkalender schuld; die Schuld liegt, wie gesagt, bei Ihnen. Sehen Sie da: ich habe da auch einen Abreißkalender hängen – was steht denn heute drauf?

»Arbeit ist des Bürgers Zierde.«

Bravo! Wenn ich Lust zur Arbeit habe, nick' ich meinem Kalender lustig zu und sage: Ja, das ist ein wahres Wort! und arbeite wie ein Pferd. Wenn ich aber Lust zum Faulenzen habe, dann ignoriere ich Schiller ganz einfach und gehe bummeln. Und sehen Sie, das gewinnen Sie nicht über sich. Und darum rate ich Ihnen allerdings: Werfen Sie Ihren Kalender in den tiefsten Abgrund und hängen Sie nie wieder einen auf. Sie sind ein gesunder, braver, mit Verstand begabter Mann: richten Sie sich nach dem Abreißkalender in Ihrer Brust. Der reißt sich jeden Morgen in aller Frühe von selbst ab und zeigt die Forderung des Tages. Ganz klar und deutlich sagt er Ihnen, wenn Sie hinhorchen, was Sie an diesem Tage tun müssen, um gesund, gut und verständig zu bleiben. Wenn Sie aber auch einen Leitstern haben wollen, der über den Tag und über das Jahr hinausleuchtet, dann wählen Sie sich ein großes, schönes und klares Wort, ein einziges, und heften es an die Wand Ihres Zimmers oder, noch besser, an die Innenwand Ihres Herzens, z. B.

»Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!«

oder

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«

aber nur eins! Das sind zwar hohe Forderungen, die wir bei weitem nicht erfüllen; aber der Mensch ist so ein Lump, von dem man viel fordern muß, um wenigstens etwas zu bekommen. Richten Sie, sobald Sie eines Leitsterns bedürfen, Ihren Blick immer auf dieses eine Wort; Sie werden dann ganz sicher auch Dummheiten machen, aber nicht die eine, die riesengroße, die grenzenlose, die ununterbrochene, die man nicht wieder gutmachen kann, weil man dann schon tot ist.«

Stierholz lächelte; der furchtbar ernsthafte Stierholz lächelte; er schien sich immerhin erleichtert zu fühlen, dankte mir vielmals und ging. Ob mein Rat bei ihm dauernde Frucht gezeitigt hatte, konnte ich lange nicht feststellen, da ich ihn viele Monate lang nicht sah. Dann aber sah ich ihn wieder.

Auf der Straße rief mich jemand mit heller, fröhlicher Stimme an. Ich blickte auf und sah einen Feldgrauen mit Flinte und Helm, in voller, feldmarschmäßiger Ausrüstung. Ich blickte schärfer hin und erkannte Eberhard Stierholz. Es war Krieg geworden und Stierholz zog hinaus als Freiwilliger.

»Freiwillig fort von Weib und Kindern –? Das nenn' ich einen Entschluß!« rief ich.

»Entschluß?« wiederholte er lachend. »Kann man das einen Entschluß nennen, was selbstverständlich ist?«

Ein anderer Lehrmeister hatte meines Freundes Erziehung in die Hand genommen, einer, der mehr Autorität hat als ich.


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