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Die Ahnen des Hauses

Ziegelstein an Ziegelstein mit Kalk und Schweiß geklebt –
Rote, weißgefugte Mauer über Mauern strebt –
Winden knirschen – Hände heben, fassen –
Axtschall – roher Dachstuhl – Richtfestbier –
Tür und Fensterglas ward eingelassen –
So wuchsest du in dieser Straße hier:

Kummergraue, fünfstockhohe Mietskaserne.
Achtzigfensterbreite, mit dem Gärtchen schmal davor,
Mit dem Eisentor, der trüben Flurlaterne –

Du Haus, das Jahr um Jahr vom Sonnenprall bemalt,
Von Hagelschnee und Regensturz beträuft, bestrichen,
Von Dämmerung umrauscht, von Winternächten überschlichen,
Vom Mond, von Gaslaternenschein bestrahlt –
Von Wagenfahrt erschüttert und von Straßenbraus,
Von Kinderschrei, von Werkstattlärm durchzittert,
Von Sterbezimmerschweigen schwül durchwittert –
Du, des kleinen Lebens und des großen Todes Haus.

Wer hat nicht diese Dielen, diese Schwellen schon beschritten,
Hinter diesen Türen Sorge oder Liebe schon gelitten,
Am Küchentisch das karge Brot gebrochen,
Aus Zeitungen von Krieg und Politik gesprochen –

All des Alltags Wandrer, die hier eingezogen:
Arbeitsmann und junges Weib;
Rentnerpaar, verarmt, vom Leben nur betrogen,
Mit stillem Sinn, erloschnem Leib;
Handwerksmeister mit den sieben lauten Jungen;
Schreiber, Händler, Lehrerstochter, die so gern gesungen – –

Wieviel schwarze Särge sah man auch hinunter schleppen.
Wieviel neue Mieter, neue Menschen kamen;
Trugen Möbel, stiegen über diese Treppen,
Andere Familien, andere Gesichter, andre Namen.
Von deren Glück und Fluch und dringlichem Gebet
Der Schatten noch in diesen Räumen weht.

Geist der Väter, die hier feierabendlich versammelt waren,
O Geist der herben Mütter, die in diesen Wänden Kinder einst gebaren,
Kleinkindergeist ins graue Licht der Not gezwängt –
Beschirmt uns unter diesem Dache, da wir wohnen,
Die wir, wie ihr auch einst mit Schweiß und Kraft der Arbeit fronen;
Seid Ahnengeist, der mit Zufriedenheit beschenkt
Und tiefe Schlummernächte nach dem schweren Tage senkt.

Und segnet uns das Brot, das heiß erworbene,
Ungekannte, fortgezogne, still verstorbne
Menschengeister dieses Hauses.


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