Sven Elvestad
Der kleine Blaue
Sven Elvestad

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IX.

Die Jagd übers Meer

Es war eine wahnwitzige Fahrt in der Dunkelheit.

Der Heizer warf unaufhörlich Kohle in den glühenden Feuerrachen der Lokomotive, und die gewaltigen, dicken Rauchsäulen ringelten sich wie ein ungeheurer Kometenschweif der dahineilenden Maschine nach.

Es dauerte nicht lange, so konnte der Lokomotivführer melden, daß man bald an der Stelle angelangt war, wo Barra sein rätselvolles Attentat gegen den Eisenbahnzug verübt und die Goldsendung geraubt hatte.

Krag befahl ihm, stehenzubleiben.

»Halten Sie sich fest!« rief der Lokomotivführer. Er ließ den Zug mit voller Geschwindigkeit zu der kleinen Haltestelle sausen, um keinen Augenblick zu verlieren, und setzte dann den ganzen Bremsapparat in Gang.

Mit einem heftigen Ruck machte die Lokomotive halt und blieb pustend und stöhnend auf den Schienen stehen.

Asbjörn Krag und der andere Polizist sprangen ab.

An der kleinen Haltestelle herrschte große Bewegung. Der Detektiv sah in der Dunkelheit Laternen hin und her schwingen.

In der Nähe auf einem Seitengeleise stand der Waggon, den Ingenieur Barra von dem Zug abgekoppelt hatte.

Krag lief hin. Ein paar Polizisten aus Moß und der Amtmann des Ortes waren schon in voller Tätigkeit und untersuchten den Wagen. Als Krag hinzukam, wurde er mit offenen Armen empfangen.

»Da sind Sie endlich!« rief der Amtmann, offenbar sehr erfreut, daß die Verantwortlichkeit der wichtigen Untersuchung ihm nun abgenommen wurde.

»Haben Sie etwas gefunden?« fragte Krag.

»Absolut nichts.«

»Und man hat nichts irgendwie Auffälliges an dem Wagen entdeckt?«

»Nein, es ist ganz unverständlich, wie der Verbrecher ihn abkoppeln konnte.«

»Aber der betäubte Wächter?«

»Ist noch nicht zum Bewußtsein gekommen.«

»Wo ist er denn?«

»Im Stationsgebäude. Der Arzt hat ihn eben untersucht. Es ist nicht lebensgefährlich, meint er.«

Krag nahm eine rasche Untersuchung des Waggons vor, aber auch er entdeckte nichts Besonderes, nur daß die Scheibe eines der Fenster in Stücke geschlagen war. Auch zeigte es sich, daß der Bremsapparat in höchstem Grade benützt worden war – vermutlich so stark, daß die Radspeichen Feuer gefangen hatten. Natürlich um den Wagen zum Stehen zu bringen, nachdem er glücklich von dem übrigen Zuge losgekoppelt und auf das Seitengeleise gekommen war, dachte Krag.

Er eilte dann zu dem kleinen Warenschuppen, der als eine Art Stationsgebäude diente. Auf einigen Baumwollballen lag eine totenbleiche Gestalt. Der Bankdiener. Der Arzt bemühte sich um ihn.

»Hat er etwas gesagt?« fragte Krag.

»Ja, er hat allerhand gesprochen, aber ohne Zusammenhang,« erwiderte der Arzt. »So hat er mehrere Male einen kleinen, rotbärtigen Mann mit zwei furchtbaren Augen genannt.«

Krag nickte.

»Sonst hat er sich über nichts ausgelassen, woraus man auf das Vorgehen der Verbrecher schließen könnte?«

»Nein, absolut nichts. Aber er hat mehrere Male einen Namen genannt.«

»Was für einen Namen?«

»Einen Frauennamen, Anna. Paßt auf die Anna auf, hat er gesagt. Vermutlich ist es der Name seiner Frau, denn ich sehe, daß der Mann verheiratet ist. Er hat wohl geglaubt, daß er sterben muß, der arme Kerl.«

Krag überlegte einen Augenblick.

»Wird er sich erholen?« fragte er.

»Unbedingt. Aber er hat eine leichte Gehirnerschütterung von einem heftigen Schlag auf den Kopf.«

»Ich sehe aber keine Wunde.«

»Nein, der Schlag ist mit einer Guttaperchakeule oder etwas Aehnlichem zugefügt, wie sie die internationalen Verbrecher oft benützen.«

Verhältnismäßig viele Menschen hatten sich jetzt vor dem kleinen Gebäude angesammelt, denn das Gerücht von der dramatischen Ankunft des berühmten Entdeckers hatte sich rasch verbreitet.

Krag trat auf die Treppe hinaus und rief:

»Ist jemand da, der das Automobil des Verbrechers gesehen hat?«

Ein unruhiges Summen ging durch die Versammelten.

Schließlich ertönte eine Stimme:

»Ja, zwei haben es gesehen.«

Krag bat die beiden Herren hereinzukommen, und einen Augenblick darauf stand er einem jungen Knecht und einem alten Bauern gegenüber.

Sie hatten beide das Automobil mit ungeheurer Geschwindigkeit den Weg hinuntersausen sehen, der weiter landeinwärts führt.

»Also nicht zur See?« fragte Krag.

»Nein,« erwiderten die Bauern. »In die entgegengesetzte Richtung. Landeinwärts ist das Automobil gefahren. Es ist groß und rot.«

Asbjörn Krag sagte sich sofort, daß Barra mit dem Automobil landeinwärts gefahren war, um die Leute irrezuführen. Das war ein ganz kluger Zug, aber er nützte doch nichts, da Krag von der Ankunft des Fredrikshavner Bootes unterrichtet war.

»Vielleicht hat der Verbrecher die Beute in einer Berghöhle verborgen,« sagte der Amtmann. »Es gibt viele solche Höhlen in dieser Gegend.«

Krag konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Ein großes, modernes und obendrein brennrotes Automobil läßt sich nicht so leicht verbergen,« sagte er.

»Nein,« meinte der Amtmann, »wenn das Automobil seine Schuldigkeit getan hat, brauchen die Verbrecher es doch nicht mehr. Was ist da leichter, als den unerwünschten, roten Zeugen in einen der tiefen Waldseen zu stürzen, die reihenweise hier den Weg entlang liegen.«

Krag konnte sich der Logik des Amtmannes nicht verschließen. Natürlich, das Automobil konnte nicht an Bord des Schiffes gebracht werden, das war beseitigt worden. Was galt auch ein Automobil für zwei- bis dreihundert Kronen im Vergleich zu den Werten, um die es sich hier handelte?

Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

Der betäubte Wächter mußte doch irgend etwas gesehen haben. Was war das für ein Name, den er unaufhörlich wiederholte? Ein Frauenname »Anna«. Wenn es so wäre ...

Der Detektiv begriff, daß vorläufig an der kleinen Haltestelle nichts mehr zu tun war. Er hatte genau zwanzig Minuten zu seinen Untersuchungen gebraucht.

Rasch winkte er seinem Begleiter, und sie sprangen beide über die Schienen auf die Lokomotive.

»Los!« rief Krag dem Lokomotivführer zu, indem er auf dem pustenden Stahlriesen Platz nahm.

Ein paar Sekunden darauf hatte die Lokomotive das kleine Stationsgebäude und all die erstaunten Neugierigen weit hinter sich gelassen. Krag hatte sich nicht einmal Zeit genommen, sich von dem Amtmann und dem Polizisten zu verabschieden, bevor er fortstürzte. Die mußten wohl eine merkwürdige Vorstellung von der Art haben, wie der berühmte Detektiv eine Untersuchung führte.

Unterwegs dachte Asbjörn Krag näher über die Sache nach.

Ingenieur Barra hatte gegen zwei Stunden Vorsprung. Der Rotbärtige schwebte vermutlich in der Meinung, daß Krag das Geheimnis des Fredrikshavner Bootes nicht kannte. Er mußte ja wissen, daß er augenblicklich auf das energischste verfolgt werden würde, und daß es ihm nichts nützen konnte, die Spuren des Automobils zu verwischen. Aber immerhin hatte Barra ganz fein und begabt gerechnet. Er hatte sich alles zunutze gemacht. Den Schrecken der Bevölkerung, das Terrain, das Meer, die Dunkelheit und die hartgefrorenen Wege. Solange die Finsternis brütete, war es mit großen Schwierigkeiten verbunden, seine Spur zu verfolgen.

Wenn er sein Automobil direkt landeinwärts gelenkt hatte, hatte er sich wohl gedacht, daß die Spürhunde der Polizei ihm per Rad, zu Pferde oder zu Fuß nachsetzen würden. Vermutlich würde er den Weg etwa eine halbe Meile verfolgen.

Krag sah auf eine Karte der Gegend, die er so vorsichtig gewesen war, zu sich zu stecken, bevor er Christiania verließ.

Ganz richtig! Eine halbe Meile landeinwärts mündete ein Seitenweg. Der führte in einem großen Bogen wieder zur See zurück, schnitt die Eisenbahnlinie ein Stück nördlich von der kleinen Haltestelle und endete in einer Bucht, etwa eine halbe Meile Weges von Moß. Krag bemerkte, daß es rings um diese Bucht ziemlich unbewohnt und öde aussah. Es war absolut die geeignetste Stelle, um mit einem Dampfer anzulegen, der ungesehen und unbekannt bleiben wollte.

Der Detektiv sah auf die Uhr.

Er konstatierte, daß Ingenieur Barra, dadurch daß er die Verfolger auf falsche Spuren führte, ziemlich viel Zeit verloren haben mußte. Mit einem rasch gehenden Torpedoboot konnte es nicht schwer sein, das Fredrikshavner Schiff einzuholen.

Einen einzigen Augenblick – aber auch nur einen einzigen – tauchte der Gedanke in ihm auf: wenn nun Barra doch landeinwärts gefahren ist, das Automobil in einen Sumpf gestürzt und den Schatz und sich selbst im dichten Wald verborgen hat! Die Möglichkeit war nicht ausgeschlossen, aber Krag unterließ es doch, damit zu rechnen. Er spielte jetzt hoch, und es galt, nicht zu schwanken. Er hatte seinen Plan entworfen, und er wollte ihn trotz allem durchführen. Er hatte sich sogar ausgerechnet, daß die Entscheidung zu einem bestimmten Glockenschlage fallen mußte.

Sobald der Tag anbrach, mußte Ingenieur Barra in seinen Händen sein, sonst war alles verloren.

Der Detektiv setzte dies seinem Kameraden auseinander, und dieser – ein jüngerer, aber energischer Polizeibeamter – war vor Spannung und Erregung ganz nervös. Aber Krag verhielt sich jetzt ganz ruhig. Er hatte seine ganze alte Geistesgegenwart wieder, und sein Hirn funktionierte blitzschnell und kalt, trotz der eben überstandenen schweren Krankheit und der vielen schlaflosen Nächte.

Den Gedanken an das, was der betäubte Wächter in seiner Bewußtlosigkeit ausgerufen hatte, den Namen Anna, konnte er nicht loswerden. Sein merkwürdiger Instinkt sagte ihm, daß dahinter etwas stecken müsse.

Der Zug blieb in Moß stehen.

Der Ort lag ganz still da, aber auf der Station war die Erregung merkbar. Der Perron war voll von Polizisten, die Asbjörn Krags Ankunft erwarteten. Der Polizeimeister drückte ihm warm die Hand, als er von der Lokomotive sprang.

»Ich überlasse Ihnen alle meine Leute zur freien Disposition,« sagte er. »Sie kennen doch die Sache schon von Anfang an, Sie müssen die Leitung der Untersuchung übernehmen.«

»Danke, ich brauche Ihre Leute vorläufig nicht,« erwiderte Krag höflich, »da ich meine Dispositionen schon vorher getroffen habe. Sorgen Sie nur dafür, daß kein Journalist die Nase in die Sache steckt, das würde uns sehr schaden. Wenn alles gut abläuft, wird der Verbrecher in unseren Händen sein, bevor der Morgen anbricht, und dann kann die Goldsendung mit dem Tagesschnellzug weiterbefördert werden. Das gibt allerdings eine kleine Verspätung, aber darein müssen wir uns schon fügen.«

Der Detektiv trat an den Reichstelephonapparat der Station und bat den Telephonisten, ihn mit Fredrikshavn in Verbindung zu setzen. Da die Linie jetzt bei Nacht wenig in Anspruch genommen war, bekam er nach kaum zwei Minuten die gewünschte Verbindung.

Ein dänisch klingendes, schwaches Hallo antwortete ihm.

Asbjörn Krag, der ebensogut Dänisch sprach, wie Schwedisch und Norwegisch, erklärte der Telegraphenstation in Fredrikshavn, daß die norwegische Polizei eine Auskunft haben müsse, die zur Aufklärung eines großen Verbrechens von außerordentlicher Wichtigkeit sei.

Krag hatte das Glück, sofort mit dem Vorstand des Amtes in Verbindung zu kommen.

»Wir müssen erfahren,« rief Krag in das Telephon, »wir müssen erfahren – ja – ob es in Fredrikshavn ein Dampfboot gibt, das ›Anna‹ heißt.«

Nach kurzem Ueberlegen erwiderte der Vorstand, daß es kein solches Boot in Fredrikshavn gebe. Krag fühlte, wie er bei dem Gedanken, sich geirrt zu haben, ganz heiß wurde.

Aber nun hörte er wieder die Stimme des dänischen Amtsvorstandes leise durch das Telephon:

»Hingegen gibt es ein kleines Boot aus Skagen, das ›Anna‹ heißt. Das ist auch einige Zeit hier in Fredrikshavn gelegen.«

»Ist es noch da?« fragte Krag, seiner Sache nun wieder gewiß. Seine Stimme bebte leicht vor Freude, auf der rechten Spur zu sein.

»Das weiß ich nicht,« erwiderte der Däne.

»Ist es ein Schleppboot?« fragte Krag.

»Man kann es so nennen, aber an der ganzen Küste wegen seiner kräftigen Maschine bekannt.«

»Wie sieht es denn aus?«

»Hoher Schornstein, mit roten und schwarzen Streifen. Zwei Maste. Ziemlich tiefes Achterdeck, vorspringender Bug, wie bei einem kleinen Panzerschiff.«

Krag dankte und klingelte ab.

Ja! Jetzt war er auf der rechten Spur. Der Wächter hatte offenbar, bevor er durch den Schlag bewußtlos wurde, die Verbrecher von dem Plan sprechen gehört – und nun war der Name in seiner Betäubung immer wieder aufgetaucht. Mit seinem Ausruf: »Paßt auf die Anna auf!« hatte er nicht seine Frau gemeint, die treue Seele, sondern den Schleppdampfer, der sein Gold fortführte.

Im selben Augenblick kam ein Matrose mit dem Namen des Torpedobootes »Hai« in goldenen Lettern auf dem Mützenbande in das Telegraphenamt.

Er meldete die Ankunft des »Hai« an der Brücke und sagte, daß man Asbjörn Krag an Bord erwartete.

Krag sagte sich, daß jeder Augenblick kostbar war, und eilte darum in vollem Lauf der Brücke zu, gefolgt von dem andern Polizisten und dem Matrosen.

Dort unten sah er das Torpedoboot durch die Dunkelheit leuchten. Er nahm einen Anlauf und sprang vom Kai auf das Deck des Bootes.

In der Dunkelheit prallte er an einen hochgewachsenen Mann an, dessen Gesichtszüge er nicht genau unterscheiden konnte. Aber er sah, daß es ein Marineoffizier war.

»Asbjörn Krag?« fragte der Offizier.

»Ja,« antwortete Krag. Er wollte noch fragen, wen er vor sich habe, aber fand keine Zeit dazu.

Der Offizier drehte sich rasch um und gab einen Befehl.

Der Maschinentelegraph klingelte und das Stahldeck des Torpedobootes begann zu erzittern, während die Maschine sich in Bewegung setzte.

Die Mannschaft lief hin und her. Der Landungssteg wurde eingezogen, und das Boot entfernte sich langsam von der Brücke.

Krag wollte gerne wissen, wer der Marineoffizier war, der ihn angesprochen hatte.

Er nahm deshalb eine Zigarette aus seinem Silberetui und zündete sie an. Im Scheine des Streichholzes sah er nun das Gesicht des Marineoffiziers.

»Der Admiral selbst!« rief er.

»Ganz richtig,« erwiderte der Admiral. »Ich glaubte, Sie hätten mich gleich erkannt.«

»Wo ist das andere Torpedoboot?« fragte der Detektiv.

Der Admiral nahm ihn unter den Arm und geleitete ihn zu dem Steuerhäuschen.

Das kleine, kräftige Boot fuhr nun mit großer Geschwindigkeit vorwärts. Man konnte die Lichter zu beiden Seiten des Mossesundes sehen. Der Ort selbst lag schimmernd da wie ein Brillantgeschmeide.

Aber vorne auf offenem Meer fegte ein breites, weißes Lichtband über die Himmelswölbung, es rieselte sachte hinunter zum Meeresspiegel und drehte sich dann in einem Halbkreis herum.

»Das ist das andere Torpedoboot,« sagte der Admiral. »Sehen Sie, es ist schon in voller Tätigkeit.«

Krag drückte die Hand des Offiziers mit Wärme.

»Ich bin voll Bewunderung für Ihre Raschheit,« sagte er. »Ohne Ihre Hilfe hätte die Sache schlimm ausgesehen.«

Der Admiral wehrte das Kompliment ab.

»Sie müssen doch gestehen,« erwiderte er, »daß die Idee mit den Torpedobooten von Ihnen ausging. Und ich bin überzeugt, wenn das Ihnen fehlgeschlagen hätte, so hätten Sie eben etwas anderes gefunden, das vielleicht nicht ebensogut gewesen wäre, aber doch auch sicher zum Ziele geführt hätte.«

»Ja, das weiß Gott,« sagte Krag ernst. »Ich würde den Rotbärtigen bis ans Ende der Welt verfolgen. Seiner verschlagenen Klugheit zum Trotz muß er mir doch einmal in die Hand fallen.«

»Sie sprechen, als hätten wir ihn schon.«

»Ja, das haben wir doch auch – beinahe.«

Der Admiral sah über das Wasser hin. Es rauschte jetzt stark von dem Südwind, der ihnen entgegenwehte, und das kleine Kriegsschiff schwankte heftig in dem Seegang.

»Den Scheinwerfer spielen lassen!« rief er über das Verdeck.

»Zu Befehl, Herr Admiral,« erwiderte eine Stimme.

Auf der Steuerbordseite begann es nun aus einer Maschinerie zu funkeln, und plötzlich lag das weiße Lichtband weit über dem Wasser. Ganz weit draußen kreuzte es sich mit dem suchenden Lichte des anderen Torpedobootes.

»Rechts!« rief der Admiral.

»Zu Befehl, rechts!« lautete die Antwort, und das Licht begann langsam in einem ungeheuren Bogen über die Wellen hinzufegen. Wo es hintraf, wurde es taghell, selbst die Schaumkämme auf den Wellen traten klar hervor. Es war, als sähe man das Meer in einem Kinobild.

»Halt!«

Ganz weit draußen war ein schwarzer Gegenstand in das weiße, suchende Licht geraten. Der Admiral ergriff ein Fernglas und führte es ans Auge, aber legte es gleich wieder weg.

»Nur eines der Wilson-Boote,« sagte er.

Das Licht drehte sich um den ganzen Horizont, ohne daß ein einziges Schiff entdeckt wurde. Der Admiral ließ es wieder zurückgehen, aber auch jetzt war nichts anderes zu sehen, als das Wilson-Boot, das in einsamer Majestät über den stummen Fjord dampfte.

Der Admiral wandte sich dem Detektiv zu.

»Sie sehen selbst,« sagte er, »wir haben wenig Hoffnung. Nach einem kleinen Schleppdampfer auf offenem Meere zu fahnden, ist akkurat so, als wollte man in einem Heuschober nach einer Nadel suchen. Und trotzdem wollen Sie behaupten, daß der rotbärtige Ingenieur beinahe in unseren Händen ist?«

»Absolut,« erwiderte Krag. »Ich habe mich nämlich an ganz bestimmte Tatsachen zu halten.«

Er erklärte dann dem Admiral alles, was er während der Fahrt an der kleinen Haltestelle aufgeschnappt hatte, auf der Eisenbahnstation Moß und durch das Fredrikshavner Telephon. Er enthüllte den Plan des Ingenieurs Barra mit dem Automobil und konstatierte, daß der Vorsprung des Ingenieurs trotz alledem nicht bedeutend sein konnte.

»Wie wurde der Dampfer ›Anna‹ beschrieben?« fragte der Admiral, der Asbjörn Krags Darstellung mit Interesse und Spannung angehört hatte.

»Hoher Schornstein mit rotem und schwarzem Streifen. Zwei Maste, ziemlich niedriges Achterdeck und vorspringender Bug, wie bei einem Panzerschiff en miniature,« erwiderte Krag.

»Wieviel nehmen Sie an, daß geraubt worden ist?« fragte der Admiral.

»Ich vermute, daß es sich um etliche Hunderttausende handelt.«

»Hat er noch andere Sünden auf dem Gewissen?« fragte der Admiral ernst.

»Beinahe Mord!« lautete die Antwort.

»Und Sie glauben, daß er um ›seiner Sache‹ willen noch einen begehen könnte?«

»Ich traue Ingenieur Barra alles zu, um seine Pläne durchzuführen.«

Der Marineoffizier überlegte einen Augenblick. »Ja, dann bleibt nichts anderes übrig,« sagte er. Und er gab Order, die Backbordkanonen einstweilen für blinde Schüsse zu laden, aber scharfe Munition bereit zu halten.

Plötzlich zischte eine rote Rakete zum Himmel auf, platzte knallend hoch oben in der Luft und rieselte in hundert Feuerfunken herab.

»Das ist das Signal des anderen Torpedobootes,« sagte der Admiral. »Es will unsere Aufmerksamkeit erregen. Lassen Sie uns sehen, was gemeint ist.«

Der Scheinwerfer des anderen Torpedobootes war nun ununterbrochen auf einen bestimmten Punkt auf dem Meere gerichtet. Das Torpedoboot, an dessen Bord Krag sich befand, richtete sofort sein Licht auch auf denselben Punkt. Und der Admiral nahm wieder sein Glas und sah hin. Dann reichte er das Glas dem Detektiv.

Asbjörn Krag führte es rasch ans Auge: Ganz richtig! Weit draußen sah er deutlich ein kleines Dampfboot mit voller Geschwindigkeit südwärts dampfen.

»Das sieht ja aus – das muß es ja sein!« rief Krag.

»Der Schornstein stimmt nicht,« bemerkte der Admiral. »Es sieht aus wie ein breiter, schwarzer Streifen um das Rohr. Die ›Anna‹ soll doch einen schwarzen und einen roten haben.«

»Diese zwei Farben mit Zwischenraum sind in dieser Nachtbeleuchtung wohl unmöglich zu unterscheiden, Herr Admiral.«

Nach nochmaliger Untersuchung fand auch der Admiral, daß dies sich so verhalten könne, und ließ das Torpedoboot mit höchstmöglicher Geschwindigkeit dem Fredrikshavner nacheilen. Bald war man so nahe, daß man das Dampfschiff ›Anna‹ nach der Beschreibung deutlich erkennen konnte.

»Kanonen klar!« kommandierte der Admiral. Einen Augenblick darauf rollte ein Schuß über die See.

»Wir geben ihnen noch ein paar blinde,« bemerkte der Admiral. »Und hilft das nichts, so haben wir ja schärfere Kost.« Und wieder führte der Admiral das Fernglas ans Auge.

»Sie ergeben sich noch nicht. Aber die Kerle müssen doch merken, daß es Ernst ist!« Und er gab Order, noch einen letzten, blinden Schuß zu lösen.

Da sahen der Admiral und Krag, daß der Dampfer dem anderen Torpedoboot ein Signal gab.

»Aha!« rief der Admiral. »Jetzt kommen sie doch zur Vernunft. Sie verlangsamen die Fahrt und drehen. Sie sind eingeholt. Jetzt wollen wir mit Ihren Verbrechern ein Wörtchen sprechen,« wandte er sich an Asbjörn Krag.

Krag hatte unterdessen durch das Fernglas jeden Mann auf dem Verdeck der ›Anna‹ gründlich untersucht, aber es war ihm nicht gelungen, Ingenieur Barras charakteristische Gestalt zu entdecken. Er sagte dies dem Admiral, aber fügte hinzu, daß der Betreffende sich vermutlich jetzt im Lastenraum versteckt hatte.

»Wahrscheinlich. Aber heraus muß er, und wenn wir ihn ausräuchern sollten,« lachte der Admiral.

Das Torpedoboot war nun Seite an Seite mit dem Dampfer.

»Wie heißt das Boot?« rief der Admiral.

»›Anna‹ aus Fredrikshavn, Kapitän Aage Jensen, ich selbst, zu Diensten,« lautete die Antwort.

»Sie haben einen Mann an Bord, dessen Auslieferung wir verlangen.«

»Wer sollte das sein?«

»Ein rotbärtiger Ingenieur, der sich Barra nennt.«

»Nein,« kam die rasche Antwort, »kennen wir hier an Bord nicht.«

»Wir glauben Ihnen nicht!« erwiderte der Admiral.

»Dann bitte – untersuchen Sie.«

»Gut.«

»Ich gehe sofort an Bord,« sagte Asbjörn Krag, »und das Mauseloch ist noch nicht erfunden, wo Barra sich vor mir verkriechen wird!«

»Sie müssen einige Matrosen mitnehmen,« sagte der Admiral.

»Nein,« rief Krag ernst. »Diese Sache verlange ich allein auszuführen.«

»Sie fürchten sonst einen verzweifelten Streich?«

»Ja – einem liefert er sich vielleicht schließlich aus, im Vertrauen auf seine spätere List und Heimtücke. Mehreren nie – da zieht er es vor, alle mit ins Verderben zu stürzen. Darum müssen Sie auch, Herr Admiral, eine Zeitlang in angemessener Entfernung bleiben. Nur den Dampfer nicht aus dem Gesicht verlieren, was auch geschehen mag! Verlassen Sie sich im übrigen auf mich! Ich kenne den Herrn an Bord jetzt gründlich.«

Der Admiral klopfte zum Abschied Asbjörn Krag herzlich auf die Schulter. Der Detektiv flüsterte darauf seinem Kollegen einige Worte zu und schärfte ihm ein, auf dem Posten zu sein. Dann sprang er leicht und behend auf das Verdeck der »Anna«.

Auf Krags Wunsch entfernten sich die beiden Torpedoboote einen guten Büchsenschuß weit. Und Krag, auf seinen Mut und seine Geistesgegenwart vertrauend, war nun allein an Bord des Freibeuters, den er so kühn und geschickt bis hierher verfolgt und zur Kapitulation gezwungen hatte.


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