Sven Elvestad
Der kleine Blaue
Sven Elvestad

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II.

Die blauen Lichter

Asbjörn Krag bekam gleichzeitig drei Anmeldungen in der Angelegenheit der Telegramme. Die eine direkt vom Telegraphenamt, das meinte, daß irgend jemand in verbrecherischer Absicht einzelne Telegramme aufzuhalten suchte. Die zweite von dem Großhändler in Apfelsinen und die dritte von der Börse. Sämtliche verlangten die rasche Abfassung und Bestrafung des Verbrechers.

Zugleich begann auch die Presse sich mit dieser wunderlichen Sache zu beschäftigen und verlangte in redaktionellen Artikeln ein rasches und energisches Vorgehen, bevor noch unser Geschäftsleben durch diese »mystischen« Wiederholungen zuviel Schaden nahm.

Asbjörn Krag saß lange da und grübelte über die Sache nach. Er hatte zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Entweder waren diese Unterbrechungen der Linie durch einen mehr oder weniger gelegentlichen Experimentator verursacht, der irgendwo saß und sich mit Erfindungen beschäftigte – oder es war auch ein Verbrechen im Spiel. In beiden Fällen war das Vorgehen ungesetzlich, und der Täter mußte gefaßt werden. Krag ließ umfassende Untersuchungen auf dem Telegraphenamt vornehmen, er arbeitete sich selbst in alle Details der Technik ein und ließ Proben mit den Maschinen anstellen, deren der Betreffende sich bedient haben konnte. Sämtliche Telegraphenfunktionäre, mit denen der Detektiv sprach, waren darüber einig, daß der Verbrecher ein ungewöhnlich tüchtiger Bursche sein mußte und bis in die geringsten Einzelheiten in die Technik der Telegraphie eingeweiht.

Man mußte davon ausgehen, daß der Verbrecher die Linie gerade da mit Beschlag belegt hatte, wo das Nordseekabel ans Land ging. Er mußte sich ganz genau in den verschiedenen Linien und Linienrichtungen auskennen. Ferner mußte er im Besitz eines besonders konstruierten Apparates sein, einer neuen Erfindung, deren er sich bediente, und mit der er jederzeit das Telegraphieren abbrechen und die Telegramme aufschnappen konnte. Vielleicht war sein Apparat so eingerichtet, daß er die ganze Telegrammkorrespondenz der Linie ablesen konnte, ohne den Gang der Telegramme zu stören, so daß er nur den richtigen Augenblick wahrzunehmen brauchte, um selbst das aufzuschnappen, was für ihn von besonderer Wichtigkeit war.

Während der Detektiv noch mit diesen seinen vorläufigen Untersuchungen beschäftigt war, lief bei der Direktion ein Telegramm von einem der ausgesandten Ingenieure ein. Das Telegramm kam aus einem der kleinen Küstendörfchen Norwegens und lautete:

»Den Fehler gefunden. Der Urheber zweifellos ein Betrüger, warte nähere Order ab.«

Die Leitung konferierte sogleich mit Asbjörn Krag, und auf seinen Rat wurde folgendes Antworttelegramm abgesandt:

»Detektiv unterwegs, nichts vor seiner Ankunft unternehmen!«

Eine halbe Stunde später saß Asbjörn Krag schon im Coupé. Es war am Abend. Gegen Morgen sollte der Zug an seinem Bestimmungsorte sein. Von hier mußte man ein Postboot zu einer größeren Stadt in der Nähe des kleinen Küstendörfchens nehmen, aus dem die Telegramme eingelaufen waren. Der Detektiv hatte also eine lange, anstrengende und langweilige Reise vor sich.

Er konnte nicht schlafen, sondern lag die ganze Zeit da und überdachte die Affäre, die er aufzuhellen hatte, eine der eigentümlichsten, die ihm noch in seiner Praxis vorgekommen waren.

An der Dampfschiffbrücke erwartete der Telegrapheningenieur den Detektiv. Krag wußte, daß der Ingenieur Holst hieß und ein junger, tüchtiger und energischer Fachmann war, der sich des Vertrauens seiner Vorgesetzten in hohem Grade erfreute.

»Danke, daß Sie mich abgeholt haben,« sagte Krag, nachdem sie sich begrüßt hatten, »es wäre sonst für mich schwierig gewesen, mich zu so früher Stunde an einem unbekannten Orte zurechtzufinden.«

»Ich glaubte, Sie würden ein Interesse daran haben, so rasch als möglich etwas über die Sache zu erfahren,« sagte er, »wie es auch meiner Meinung nach gilt, rasch zu handeln.«

»Ganz richtig,« erwiderte der Polizist. »Ich stimme Ihrem Eifer ganz zu.«

Es war eine Stunde Fahrt zu dem kleinen Küstendörfchen. Die beiden Männer hatten so die beste Gelegenheit zu einem Gespräch, und sie benützten sie, wie sie da auf der hartgefrorenen Landstraße in dem federnlosen, stoßenden Bauernkarren dahinrumpelten.

»Sie haben also mein Telegramm gesehen,« bemerkte der Ingenieur.

»Ja, unmittelbar bevor ich aus Christiania abreiste.«

»Ich habe also den Fehler gefunden. Eines der Kabel geht hier ans Land, und mit diesem hat der Verbrecher manipuliert. Er hat die Drähte nach Christiania herausgefunden und sie einfach jedesmal für seine Bedürfnisse der Londoner Telegramme abgeschnitten, unter denen viele wichtige Geschäftsmeldungen waren.«

»Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer dieser Mann ist?«

»Ja.«

»Wohnt er in dem Küstendörfchen?«

»Ja und nein. Sie wissen, daß das kleine Dörfchen überall, wo es nicht ans Meer stößt, von hohen, steilen Felsen umgeben ist. Mitten in diesem Felsenchaos wohnt der Mann, von dem ich spreche. Er hat sich eine kleine Hütte gezimmert, und da hat er sich niedergelassen, um in Ruhe zu experimentieren.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, aber die Leute im Orte sprechen viel von ihm. Sie glauben, daß er oben nicht ganz richtig ist. Er kam vor einem halben Jahre mit einem der kleinen Boote her. Die erste Nacht verbrachte er im Zollhaus mit verschiedenen größeren und kleineren schweren Kisten. Allem Anschein nach enthielten sie seine Instrumente. Am nächsten Tage nahm er sich Leute und ließ sie auf den Berg hinaufschaffen. Seither hat er mit kleinen Unterbrechungen dort oben gehaust. Die Leute hören oft das Knallen von Schüssen aus seiner Behausung, und hie und da zeigen sich merkwürdige Lichter auf dem Felsen.«

»Welcher Nationalität gehört er an?«

»Vermutlich ein Nordländer. Aber er soll mit englischem Akzent sprechen, behaupten die, die mit ihm gesprochen haben.«

»Warum glauben Sie, daß er der ist, der sich an den Telegraphendrähten zu schaffen macht?« fragte der Detektiv.

»Weil es kaum irgendein anderer sein kann. Ihm ist so etwas schon zuzutrauen.«

»Sie erwähnten, daß die Drähte durchschnitten worden seien. Wie konnte dann die Verbindung wiederhergestellt werden?«

»Sehr leicht. Die Drähte lassen sich schon wieder zusammenflicken.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß niemand.«

»Wie sieht er aus?«

»Klein von Gestalt. Er macht eigentlich einen unsauberen Eindruck mit seinem struppigen roten Haar und Bart. Er trägt immer einen staubgrauen Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reicht.«

Asbjörn Krag saß stumm da und dachte lange nach.

»Mir ahnt hier etwas Merkwürdiges, ich glaube, wir stehen vor einer großen, sonderbaren Sache.«

Der Tag begann nun schon zu dämmern, und die zwei Männer hüllten sich enger in ihre Reisemäntel, denn die Kälte war scharf.

Plötzlich zuckte der Ingenieur zusammen und wies auf ein paar kahle Felsen, die aus dem Morgennebel auftauchten.

»Da wohnt er,« rief er. »Sehen Sie das Licht?«

Und wirklich, oben im Gebirge zeigte sich ein recht großes, scharfes, blaues Licht, das unaufhörlich zuckte.

»Das ist aus seinem Laboratorium,« erklärte der Telegraphenbeamte. »Nachts läßt er manchmal mehrere Lichter zugleich flackern. Mit dem Widerschein am Himmel nimmt es sich wie eine Illumination aus. Dann sagen die Leute unten im Dorf, ›der Fels brennt‹.«

Noch eine Viertelstunde Fahrt brachte die zwei Männer in das kleine Lotsen- und Fischerdörfchen, wo der Wagen jetzt vor dem einzigen Logierhause des Ortes stehenblieb. Es brauchte Zeit, den Wirt wachzuklopfen. Eine kleine Banknote aus Asbjörn Krags Hand versetzte ihn in Bewegung und bessere Laune, so daß er den Reisenden sogar ein Glas Branntwein brachte, das ihre starren Glieder ein bißchen wärmte.

Es war nun halb sieben Uhr geworden, und unten am Strande begann so allmählich das Leben zu erwachen. Man hörte scharrende Laute von Segeln, die gehißt wurden, das Knacken von Eisschollen, die Strömung und Wind aneinandertrieben, und hie und da eine tiefe Männerstimme, einen Kommandoruf, eine rostige Ankerkette, die rasselte.

Der Detektiv schlug die kleine rotgewürfelte Gardine zurück und sah hinaus. Das Logierhaus lag dicht an der Meeresbucht, er konnte gerade in die Felsen hineinsehen, die sich riesenhaft schwarz und drohend über den kleinen roten Häuschen auftürmten.

»Aber hier ist es wirklich schön und großartig,« sagte er.

Der Telegrapheningenieur wies hinauf:

»Dort oben auf der höchsten Spitze, dem sogenannten Mondfelsen, haust er, der ›Mann im Monde‹, wie der Volksmund ihn auch schon getauft hat. Seine Hütte ist gerade unter dem Hut, der Felsspitze, die so gefährlich darüberhängt. Sie heißt der Hornstein.«

Der Logierwirt kam jetzt mit Essen und dampfendem Kaffee herein. Man stillte rasch den ersten Hunger.

Krag hatte Lust auf ein Gespräch mit dem Wirt, diesem ortsbekannten Mann, und leitete es ein, indem er sich interessiert nach seinen Geschäften und Einnahmequellen erkundigte.

»Es wohnen wohl wesentlich nur Fischer hier?« fuhr er dann fort.

»Ja, nur Lotsen, Fischer und Seeleute. Dort drüben in den kleinen roten Häuschen an der Felswand wohnen meistens die Witwen von Seeleuten. Es ist dies der ärmere Stadtteil.«

Asbjörn Krag unterdrückte mit Mühe ein Lächeln über die Würde, mit der der Wirt das Wort Stadtteil ausgesprochen hatte.

»Aber wir haben auch feine Leute da,« fuhr der Logierwirt fort. »Schullehrer und Pfarrer, und im Sommer haben wir viele Badegäste.«

»So jetzt gegen Winter sind natürlich keine Fremden hier,« warf Krag hin.

»Na, wir haben den ›Mann im Mond‹,« lachte der Wirt. »Haben Sie von dem noch nicht gehört?«

»Ja richtig, mein Freund hier hat mir erzählt,« erwiderte Krag. »Der wohnt ja oben auf dem Felsen, nicht?«

»Freilich, gerade unter dem Hut, der über seiner Holzhütte hängt. Der ist gewiß nicht ganz richtig im Kopfe. Und wir mögen ihn nicht.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ach wo! Der gibt keinem eine Antwort.«

»Redet er denn selbst mit niemandem?«

»Ja, ab und zu einmal schwatzt er mit dem Schullehrer. Das ist noch der einzige, den er hier ausstehen kann. Er muß übrigens unmenschlich reich sein. Kürzlich, als er von hier fort war, hat er sich einen Extradampfer von Christiania hierher gemietet.«

»Wann war das denn?«

»Es wird so acht Tage her sein.«

Asbjörn Krag wechselte einen Blick mit dem Telegrapheningenieur. Die Zeit stimmte.

»Wir möchten den Mann im Mond gerne besuchen,« fuhr der Detektiv fort. »Glauben Sie, daß er uns empfängt?«

»Nein, das tut er gewiß nicht.«

»Wollen Sie uns den Weg zur Hütte hinauf zeigen?«

»Nicht um alles in der Welt.«

»Warum nicht?«

»Weil er in Frieden gelassen werden will, der Mann im Mond,« erwiderte der Wirt ernst. »Und ich finde, es ist am besten, man läßt ihm seinen Willen.«

»Hat er sich denn zu jemandem darüber ausgesprochen?«

»Zum Schullehrer, ja, der wollte ihn auch besuchen. Wenn man ihn nicht in Frieden ließe, sagte er ihm, dann würde er uns alle miteinander zugrunde richten.«

»Na, na. Und das glauben Sie?«

»A–ch,« der Wirt dehnte die Worte. »Man weiß ja nichts Bestimmtes, aber er ist gewiß ein mächtiger Mann. Sie sollten es nur dort oben knallen hören und alle seine Lichter sehen. Wie er an einem dunklen Abend den Felsen brennen lassen kann.«

»Sie wollen uns also nicht begleiten?« fragte der Detektiv ruhig.

»Nein, um keinen Preis.«

»Schön, dann gehen wir allein. Nicht wahr?« wandte Krag sich an den Telegrapheningenieur.

»Ja, tun wir das,« sagte dieser eifrig.

Asbjörn Krag sah wieder durchs Fenster zum Mondfelsen hinauf. »Wie lange kann es bis dorthin sein?« fragte er.

»Ungefähr vier Stunden, wenn Sie gut gehen,« lautete die Antwort.

»Es ist gut. Wir haben ja Zeit.«

Der Detektiv öffnete seinen Handkoffer und nahm zwei prächtige Revolver heraus, von denen er selbst einen in die Tasche steckte, während er den zweiten dem Ingenieur gab. Dann fragte Krag den Wirt nach dem Weg zum Telegraphenamt, wohin er und Holst sich dann begaben. Von hier wurde sogleich folgendes Telegramm abgesendet:

»Polizeibureau, Christiania. Expreßtelegramm. Der Mann gefunden. Sendet telegraphische Arrestorder. Krag.«

Es war unterdessen ganz hell geworden. Die zwei Männer konnten deutlich die rotgestrichene Balkenhütte des mystischen Fremden dort oben in der Felsenwildnis unterscheiden. Sie glänzte wie ein roter Punkt aus der schwarzen Einöde der Felsenwelt. Es war ein anstrengender Marsch über den schmalen, an vielen Stellen gefährlichen Bergpfad. Doch nach vier Stunden waren sie in der Nähe der Hütte des Einsiedlers angelangt. Sie war höchst primitiv aus roh zugehauenen Balken und Brettern aufgeführt. Ein Schornstein war nicht vorhanden, aber aus einer Oeffnung des Daches stieg doch ein leichter Rauch auf. Die Hütte selbst lag in einer Kluft der steigenden Felsspitze, die drohend darüber hinausragte.

Der Detektiv und der Ingenieur schnauften sich erst tüchtig aus, bevor sie ganz an die Hütte herangingen.

»Er ist offenbar daheim,« sagte Krag ernst. »Der Rauch steigt vom Herde auf. Soweit ich die Sache verstehe, haben wir einen ganz genialen und gefährlichen Burschen vor uns. Halten Sie darum Ihre Waffe parat.«

»Gehen wir nur rasch hinein, ich fürchte ihn nicht,« sagte der Telegrapheningenieur eifrig. »Es wird mich sehr interessieren, zu sehen, welche Art von Instrumenten er hier oben in dieser Felsenwüste zusammengetragen hat.«

Die beides Männer näherten sich mit raschen Schritten der Hütte des Einsiedlers. Asbjörn Krag stieß die Türe auf. Sie war nicht versperrt. Er trat in die Stube. Es war niemand und nichts Merkwürdiges darinnen. Ein Tisch, ein paar Stühle, ein Herd. Mitten auf dem Tisch lag ein beschriebenes Papier.

Asbjörn Krag ergriff es eifrig und las. Mit einem eigentümliches Lächeln reichte er es dem Ingenieur.

Da stand mit einer wunderlich steilen, aber deutlichen, bestimmten Handschrift:

»Meine Herren, Sie sind auf der richtigen Spur. Wir treffen uns in Christiania.

Ingenieur Barra.«


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