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Der Strauß für Fräulein Antonia

. Des jungen Willibald Jahrgang, der Jahrgang der Dreizehnjährigen, hatte sich in diesem Jahr auf die erste heilige Kommunion vorzubereiten.

Das hieß in dem guten, noch sicher in seinem Herkommen gehegten Städtchen, daß alle Dazugehörigen diese Zeit der Vorbereitung hier zu einer Schar von Auserwählten wurden. Zu einer Schar von weißen Tempeltauben gleichsam, denen eine fromme Anteilnahme der ganzen Gemeinde sich zuwendete. Und so zum erstenmal unter dem zarten Glanz allgemeiner Aufmerksamkeit zu stehen, wirkte an den irgendwie empfänglichen Seelen der Emporgehobenen ein Wunder.

Sie wurden fromm. Nicht nur die Mädchen, die jetzt auf den Gassen mit niedergeschlagenen Augen gingen und in der Kirche mit streng gefalteten Händen und tief gebeugten Köpfen knieten, sondern auch die Knaben. Von den lauten Spielen weg schritten sie ernst und geschlossen. Ihre erste Würde wurde ihnen bedeutend. Einige mit Phantasie Begabte gerieten in eine glühende ekstatische Frömmigkeit und trugen bald eine Wolke von Weihrauchduft und überirdischen Gesichten mit um sich her.

Auch Willibald blühte heilig auf. Sein Herz wurde das Gefäß einer schönen Inbrunst, das er dem Tag der Gnade entgegentrug. Alle seine Gedanken überbauten sich mit stillen Kirchenbogen, und seine kleine Stube daheim wurde eine Kapelle. Die Wände hingen mit Heiligenbildern voll. In den Ecken standen Altärchen und Gebetbücher. Halbbegriffene Erbauungsbücher las er bis tief in die Nacht. Der Eifer, den Vorbildern der Heiligenlegende nachzuleben, erfüllte ihn. Auch er fastete und kasteite sich. Als er etwa einmal zehn Pfennig gefunden hatte, kaufte er sich dafür verlockend im Schaufenster ausgestellte seidige Bonbons. Dann aber erschrak er so an Gewissensbissen, daß er die ganze Gucke zur Kapelle trug und der Muttergottes brachte. Nur einen einzigen Bonbon nahm er heraus und aß ihn. Das geschah indes nur, um zu wissen, welches Opfer der Verzicht auf die neun anderen kostete.

Sankt Aloysius, den Keuschen, erwählte er zu seinem Schutzpatron. Und in einer ganz feierlichen Stunde, tief vor dem Gnadenaltar der Marienkirche kniend, legte er das Gelübde der ewigen Keuschheit ab, noch unwissend, um was es dabei sich handelte.

Den Kommunionunterricht erteilte der Herr Stadtpfarrer selber, ein hochgewachsener edler Herr, ein Freiherr aus einem alten Geschlecht des Landes.

Zu dem Unterricht kamen alle Kinder des Jahrgangs aus dem Städtchen zusammen. Das war sonst das Schulzimmer der oberen Mädchenklasse, darin die »Schwestern«, Klosterfrauen vom Orden des heiligen Franziskus, unterrichteten. Es war denn auch jetzt – im hellen Frühjahr noch innerhalb der Fenster – mit Topfpflanzen bestellt und rundum von heller Sauberkeit. Die Knaben kamen aus ihren trüberen Schulräumen überrascht in diese freundliche Welt und saßen wohl angerührt in der linken Kolonne gegenüber den im Licht der Fensterreihe gescharten Mädchen.

Wie die dreizehnjährigen Knaben und die dreizehnjährigen Mädchen so neu und für hohe Dinge in einer Luft zusammen waren, ging in die Luft etwas von den Kräften auf, die da noch bedeckt hüben und drüben schliefen. In den Knaben regte sich ein dunkler Drang der Ritterlichkeit und in den Mädchen, durch die jetzt besonders streng gewahrte Zucht hindurch, ein leises Zierbedürfnis. Hinüber und herüber entstand auch ein Wetteifer, dem fragenden Herrn Stadtpfarrer rechte Antworten mit schönem Anstand zu geben.

Der Herr Stadtpfarrer unterrichtete väterlich; er sprach schön, und es war immer wie zum Sehen, was er sagte. Er füllte die Herzen der Kinder mit einem goldenen Himmel eines lieben Gottes und gab ihnen eine blaue Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit dem milden Herrn Jesu. Er machte die kleinen Herzen wie zu Dichterherzen.

Willibald saß am inneren Gang der Bänke. Auf der anderen inneren Seite saß, immer vom Licht der Fenster umschienen, Maria, des Oberamtmanns Tochter, die ihm unter allen die Frömmste und Schönste erschien. Er saß unter der Gegenwart des Mädchens wie unter einem schwankenden, seltsam und hoch gelüfteten Dach von Gefühlen. Er durfte als der Gescheiteste dem Herrn Stadtpfarrer besonders oft antworten, und er konnte jedesmal eine besonders schön gepflegte Antwort geben. Wie er auch zu jeder Stunde sich sorgsam anzog und unter einen frischen weißen Kragen eine breite seidne Binde schlang. Es kostete dann nach solchen gehobenen Zuständen tiefe Gebete der Demut, um sich vor der Angst zu bewahren, als seien die Hoffart und sündige Menschenliebe über ihn Herr geworden.

Neben dem Pult des Herrn Stadtpfarrers saß bescheiden an einem kleinen Tisch immer auch ein »Fräulein«, eine Lehrkandidatin der Klosterfrauen. Die diente als Schriftführerin und führte das Stundenbuch. Die Fräulein gingen noch nicht im Habit der Nonnen, sie waren einfach schwarz gekleidet, trugen eine schmale, weiße Halskrause und hatten ihr Haar im Zopf um den Kopf gelegt.

Etwa nach vier Unterrichtswochen kam ein neues Fräulein in die Stunde; Fräulein Antonia nannte sie der Herr Stadtpfarrer. Das Fräulein, das nicht mehr kam, war eine karge kleine Person gewesen, die nirgends sich auffällig machte. In Fräulein Antonia erschien nun ein Frauenwesen von ausnehmender Schönheit und vornehmer Art. Es war das erst ganz zu sehen, wenn sie edel neben der edlen Herrengestalt des Herrn Stadtpfarrers saß. Gleich schwärmten die Mädchen für sie. Es hing nach der Stunde immer eine Traube von Fragerinnen um sie her, und ihre Hände wurden beim Weggehen viel geküßt.

Auch auf die Knaben wirkte ihre Gegenwart. Die saßen ihr im Angesicht, von einer nur nicht zur Oberfläche sich wagenden Bewunderung gefaßt, wie reifenden Knaben immer durch die reifere Frauenschönheit geschieht. Oft mußte eine Frage oder eine besonders schön bewegte Darlegung des Herrn Stadtpfarrers die vergessenen Blicke von dem kleinen Tisch zu dem großen Pult daneben hinaufholen.

Das Seelenschifflein Willibalds gar geriet in die Strömung der neuen Macht und in die Not noch tieferen Irrsals.

Das Bild der Nachbarin Maria trat zurück in dem Schatten des Fräuleins. Das Mädchen wurde darin stiller und ohne Beschwer für sein Gemüt. Das Fräulein aber tat ihm etwas in seinem Blut; dies ging warm und quellend in ihm auf. Er sah das Fräulein vorn sitzen. Das nicht magere, ein wenig blaß schimmernde Gesicht unter der schweren schwarzen Haarkrone; die zwei dunkeln feucht betauten Augen zu dem Wort des Herrn Stadtpfarrers hinaufgerichtet, oder hinein auf die Schulbänke. Manchmal auch auf ihn, wenn er eine Antwort geben durfte. Er mußte sich dann, wenn diese wohlgeformt gegeben war, jedesmal verwirrt niedersetzen, und seine Gedanken waren für eine Weile wie in laue Luft aufgelöst.

Wachend und bis in den Schlaf sah er das Fräulein so sitzen, und sah, auch wie er sich wehrte, ihre weißen Hände auf dem Stundenbuch liegen, und sah knapp umspannt von dem schwarzen Kleid ihre gerundeten Arme und Schultern und die leicht atmende Wölbung der Brust.

Er steigerte seine fromme Inbrunst und gab der Mutter Gottes süßere Namen und glühendere Gebete. Ja, es mußte so sein, Fräulein Antonia war nur das schöne Abbild der himmlischen Jungfrau.

Wenn die Klosterfrauen, voraus die Fräulein, zur Stadtkirche gingen, stellte er sich ihnen in den Weg, und in der Kirche konnte er von seinem Platz aus auf die Kniende schauen. Er versenkte sich dann in leuchtende Einbildungen: Wenn er der Prediger auf der Kanzel wäre und gewaltige Worte auf die Gemeinde und auf sie hinunterspräche, wenn er der Priester am Altar wäre und schön wie keiner ihr die Messe sänge, wenn er gar leicht werden, an das gestirnte Kirchengewölbe emporstiegen und gleich einem erscheinenden Heiligen zu ihr sich hinabsenken könnte …

Nach der Stunde jedesmal wäre er gern ein Mädchen gewesen, ihr die Hand zu küssen, oder der Herr Stadtpfarrer, der manchmal ein feines Wort für sie haben und ihr seine adelige Höflichkeit erweisen konnte, wenn er ihr die Türe öffnete, daß sie leicht errötend zuerst hinausgehen mußte.

Er erdachte sich hundert Huldigungen, deren er keine anbringen konnte. Einmal jedoch brachte er vom Wald einen großen Strauß Tannen- und Kiefernzweige, durchsteckt mit gelbem Buchenlaub. Eigentlich, kam es ihm, hätte er den Strauß nicht an der Marienkirche und dem Gnadenbild vorübertragen dürfen.

Anderen Tags ging er vor der Stunde in das Schulzimmer und stellte ungesehen den Strauß in einem Krug auf des Fräuleins Tisch. Dann ging er wieder ungesehen hinaus und kam erst mitten unter den anderen herein. Gerade kam auch das Fräulein; er sah, ihr Gesicht leuchtete vor Freude. Sie hob die schöne breite Pracht des Straußes eine Weile in das Licht und stellte ihn hinauf auf das Pult des Herrn Stadtpfarrers.

Dort stand der Strauß die Stunde hindurch, manchmal von einem Streifen der Märzsonne beschienen. Der Herr Stadtpfarrer sprach an diesem Tag reich geschmückt vom König Salomo, seinem Reichtum, seinem Tempel, seiner Weisheit und seiner Prophetengabe, die im Hohenlied hunderte Jahre voraus die Schönheit der heiligen katholischen Kirche, der Braut Jesu Christi, gepriesen habe. Auch das Fräulein schien von dem Glanz der Rede ganz angefüllt zu werden. Sie schaute immer nur still auf ihre still liegenden weißen Hände.

Als der Herr Stadtpfarrer ging, stellte er dem Fräulein den Strauß wieder hinunter, zusammen mit dem Stundenbuch. Das Fräulein war glücklich betroffen. Sie tat das Buch in die Tischlade und trug, unten her behangen mit der Traube der schwärmenden Mädchen, den Strauß hocherhoben zur Türe hinaus.

In der nächsten Stunde saß Willibald gleich einem Fremden, der einen weiten argen Weg hinter sich hat, müd und ausgeleert.

Der Herr Stadtpfarrer saß oben an seinem großen Pult, unten an dem kleinen Tisch saß Fräulein Antonia.

In der Repetition frug der Herr Stadtpfarrer: »Was ist das Hohelied Salomos?«

Niemand wußte es mehr, kein Finger streckte sich. Da frug der Herr Stadtpfarrer noch einmal, frug ihn: »Nun, Willibald, weißt du es nicht?«

Die ganze Schule horchte, und Fräulein Antonias Gesicht hob sich von ihrem Stundenbuch zu ihm hin.

»Das Hohelied Salomos ist ein prophetischer Lobgesang auf die Schönheit der heiligen katholischen Kirche, welche die Braut Jesu Christi ist.«

Dann setzte sich der Knabe schwer nieder.

Als er später, am Samstagabend vor dem Weißen Sonntag an der Lateinschule vorbeiging, fiel von dem alten hohen Dach ein Schock Ziegelsteine hart hinter ihm herunter, seinen Hut noch mit auf den Boden nehmend. Wie von der Hand Gottes erschüttert, kniete Willibald die Nacht durch vor dem Kreuz.

Die Hand des Herrn Stadtpfarrers gab ihm am anderen Morgen die heilige Hostie in die zitternden Lippen.

Zehn Jahre später predigte auf der Kanzel der Stadtpfarrkirche ein junger Pater vom Orden des heiligen Franziskus. Die Menschen weinten; so schön war noch keine Primiziantenpredigt gewesen, und in solch frommen Worten hatte sich noch kein Priester dem Dienst des Altares anvertraut.

Die Klosterfrauen saßen drunten in ihren Bänken. Fräulein Antonia war nicht mehr unter ihnen; das feine edle Wesen lag schon lang im Gottesacker ihres Mutterhauses.


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