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Der Osterausflug

.Drei Leutchen wanderten am Ostersonntagmorgen hinaus in die aufgehende Sonne hinein. Es waren zwei Mädchen um die Zwanzig und ein junger Mann um die Fünfundzwanzig. Das eine Mädchen ging in der Mitte, der junge Mann links und das andere Mädchen rechts.

Fräulein Martha in der Mitte war offenbar die Hauptperson. Sie war groß, gesund und schön und hatte ein leichtes, weißes, geblümtes Kleid an, das frisch zum Fest von der Kleidermacherin gekommen sein mußte. Sie ging trotzdem etwas künstlich träg darin, wie Bürgerstöchter gehen, die im voraus wissen, daß sie in Anbetracht ihrer persönlichen Eigenschaften und der eifrigen väterlichen Ladenglocke keine alten Jungfern werden.

Herr Philipp, mit dem Familiennamen: Philipp, links war gewissermaßen schon das lebendige Belegstück dafür, daß diese Voraussicht sich wohl begründete; denn er stellte den rechten, sorgfältig bemühten Verehrer dar, der sich vielleicht mit der heimlichen Hoffnung trug, an dem schönen Ostersonntag zum Freier befördert zu werden, um dann auf Pfingsten als Bräutigam in bestimmtere Stellung vorzurücken.

Herr Philipp trug einen neuen Anzug, einen schicken, hellgrauen Flanellanzug, eiergelbe Lederschuhe, mausgraue Waschlederhandschuhe, hohen »Stehumleg« mit violettem Selbstbinder, schwarzen, steifen Hut, kurzgeschnittene schwarze Haare und in der Binde gelegenen schwarzen Schnurrbart.

Fräulein Auguste auf der anderen Seite war offenbar Fräulein Marthas Begleiterin. So wie auch in der Bürgerschaft die wohlhabenderen Töchter sich in Gestalt einer ärmeren Freundin eine Art Gesellschaftsdame und Hoffräulein halten, mit der sie in der Öffentlichkeit und insbesondere ihren Verehrern gegenüber immerhin gut figurieren. Zwischen unseren beiden Mädchen kam dazu doch wohl eine wirklich freundschaftliche Neigung. Wenigstens Fräulein Auguste schien nichts von der Last einer ihr etwa zugedachten Beamtung zu merken.

Fräulein Auguste hatte noch kein helles Frühlingskleid, aber sie lief auch in dem roten vom Winter her leicht in den lauen Wind, ein geschmeidiges, nicht gar hochgewachsenes, fröhliches Mädchen. Unter dem selbstgeputzten roten Bänderhut wellte sich lichtbraunes Haar, und aus dem gescheiten, schmalen Gesicht schauten blanke, große Augen. Man unterhielt sich von dem und jenem. Schließlich wußte Herr Philipp, der ein tüchtiger Beamter auf dem Rathaus war, das Gespräch auf die städtischen Angelegenheiten hinzuleiten, und beiläufig ließ er einfließen, daß er die erledigte Stelle des ersten Aktuars erhalten werde; und dann, wenn sich der alte Ratschreiber pensionieren lasse, sei er der Nächste.

Nachdem die Bemerkung in eine entsprechende wirksame Stille gefallen war, zog Herr Philipp ein breites, schwarzes Lederetui aus der Brusttasche, klappte es auseinander und nahm delikat eine der zwölf Zigarren heraus, die er gestern abend, das Stück zu zehn Pfennig, bei Fräulein Martha selber gekauft hatte.

Fräulein Martha schaute aufmerksam und wohlgefällig zu, wie er die Zigarre anzündete. Als er das brennende Zündholz vor sich hinhielt, blies sie das Flämmchen lachend aus.

Und es war, als ob fortan des Wegs zwischen ihr und dem Nachbar zur Linken ein geringerer Zwischenraum sich innehielte. Auch gab sie nach einer Weile Herrn Philipp stillschweigend ihre Jacke, die sie bisher partout hatte selber tragen wollen.

Fräulein Auguste aber kannte von dem Augenblick an nur noch den »Herrn Ratschreiber Philipp«, und plötzlich, als die Sonne gerade hinter einer großen, weißen Wolke herunterschien, fing sie vor der Freundin her ein paar Takte zu wirbeln an: »Du, Martha, ich tanze gern auf fremden Hochzeiten!«

All das wob über die drei jene feine, heitere Spannung einer noch nicht laut ausgesprochenen Herzensangelegenheit. Diesem Zustand folgend kamen die Wanderer auf wenig begangene Wege und hielten zu Mittag in einem im hinteren Waldtal gelegenen Wirtshaus Rast.

In die Wirtsstube schien die Sonne, und nur am letzten Fenster saß ein Gast.

Fräulein Martha sah ihn durch die Lichtbahn hindurch zuerst und stieß, mädchenhaft betroffen, die Freundin an: »Du, Auguste, der neue Doktor!«

Der weitere Augenschein stellte bestätigend fest, daß der Gast der frisch in der Stadt angesessene zweite, junge und noch unverheiratete Arzt war.

Herr Philipp grüßte zuerst den Sitzenden mit zeremoniösem, vornehm distanzierendem Ernst; die beiden Damen wurden dagegen von der Ecke her mit einer wohlanständigen Verbeugung geehrt.

Da man sich gegenseitig noch nicht persönlich kannte, nahmen die Ankommenden an einem anderen, entgegengesetzten Tisch Platz. Der Doktor zog sich nach dem Gruß wieder ganz auf sich und den Genuß seines roten Weines zurück. Herr Philipp bestellte Speis und Trank und versorgte die beiden Damen als talentvoller Kavalier unter nicht zu übersehender Entfaltung einer intimen Vertrautheit, die aus dem Voraufgegangenen her sich auch durchaus rechtfertigte.

Fräulein Martha aber, die dem Doktor gerade von Gesicht zu Gesicht gegenüber saß, schien von diesen Bemühungen nicht eben geschmeichelt zu sein und übernahm mit einigem stillen Nachdruck bald ihre eigene Bedienung selbst.

Herr Philipp büßte durch die Ablehnung seiner Dienste die weltmännische Sicherheit ein. Er wurde verdrießlich und stumm, und verlor sich so weit, daß er eine Zigarre anzündete, solange die Damen noch aßen.

Fräulein Martha wurde nervös und rot. Der junge Arzt war nach seiner Seßhaftmachung in der Stadt, wie den anderen Mädchen allen, auch ihr nicht unbemerkt geblieben und hatte bei den Spaziergängen ihrer Phantasie ernsthaft, wenn auch leider noch ganz und gar einseitig mitgespielt, bis an diesem Morgen Herr Philipp seine gegenständlichere Gegenwart mit jenem zufälligen Hinweis auf eine so ehrenwerte stadtamtliche Anwartschaft wieder in den Vordergrund rückte.

Es ist begreiflich, daß Fräulein Martha die Bekanntschaft des Doktors unter einer günstigen Beleuchtung hätte machen wollen. Nun war sie durch die Anmaßung eines Beamten vom mittleren Dienst in diese empfindliche Lage versetzt worden; sie konnte schließlich den Druck nicht anders von ihrem murrenden Schmerz heben, als daß sie wieder die Freundin anstieß: »Du, Auguste, geh' doch dort ans Klavier und sing was Schönes!«

Fräulein Auguste hatte ihre frohgemute Stimmung nicht verloren, ihre Laune war vielmehr nach außen hin wie ein flaggendes Fähnlein über dem peinlichen Vorgang stehen geblieben, daß niemand sah, wie das Schifflein der Eintracht kläglich sank.

Die Aufforderung jedoch taugte ihr zuerst nicht recht. Was würde der Doktor denken, der ohnedies schon dasaß, als hätte er sich an ihnen heimlich vollgelacht. Aber Fräulein Auguste spürte selber, daß etwas geschehen müsse. Sie gehörte außerdem zu den liebenswerten Menschen, die sich sagen, was man Freundliches zu geben habe, dürfe man nicht behalten. Sie ging also durch eine leichte Wolke mädchenhafter Verlegenheit ans Klavier und langte ein Notenheft. Es war der »Freischütz«. Fräulein Auguste spielte und sang:

»Wir winden dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Seide …«

Das war nun ein kleines Ereignis. Das anmutige Mädchen sang das feine Reigenliedchen zärtlich hell und lieb und süß bewegt, und spielte darunter her so bestrickend und schmeichlerisch, daß man wirklich in der ostersonnigen Wirtsstube etwas wie ein lustiges Wunder erwartete.

Fräulein Martha erschrak wohl zunächst, als ob die Freundin ihrer spotten wollte, dann aber wurde sie durch den Schmelz der aufrichtigen Herzenskundgebung so schmerzhaft erweicht, daß sie schier weinte. Und als Fräulein Auguste vom Klavier zurückkam, drückte sie ihr gerührt die Hand.

Auch Herr Philipp zögerte nicht mit einer dankbaren Lebensäußerung, wenn er jetzt auch vollends dasaß, als hätte ihm jemand seinen schönen schwarzen Schnurrbart abgeschnitten.

Die eigentlich bedeutsame Überraschung indes kam aus der anderen Ecke, wo der Doktor nicht allzu laut, aber um so herzlicher in die Hände klatschte.

Fräulein Auguste saß unter dem Erguß dieser fremden, männlichen Beifallslaute angenehm verschüchtert wie unter einem Regen von Rosen. Aus ihrer schönen Hilflosigkeit wußte sie nicht anders herauszuschlüpfen, als daß sie die Freundin zum Gehen aufforderte.

Doch als man sich, Herr Philipp war besonders mit einverstanden, zum Aufbruch rüstete, hob sich auch der Doktor aus seiner Ecke, kam herzu, stellte sich höflich vor und bot verbindlich für den Heimgang seine Begleitung an.

Was blieb übrig? Herr Philipp übernahm die Gegenvorstellung, und drollig verwirrt operierte sich die also vermehrte Gesellschaft aus der hellen Wirtsstube in den helleren Nachmittag hinaus.

Man ging zu vieren, die beiden Damen in der Mitte, Herr Philipp rechts neben Fräulein Martha, der Doktor links neben Fräulein Auguste.

Der Doktor sprach immer noch von dem schönen Erlebnis mit dem Liedchen drinnen. Er sprach ernst, in farbigen, echten Worten, dann auch von der Stadt und ihren Merkwürdigkeiten, die den einheimischen Mädchen durch diese Schilderung eigentlich zum erstenmal recht aufgingen.

Bald kam man von der Straße in den schmäleren Talweg. Da mußte man paarweis gehen. Von selber schob sich der Doktor mit Fräulein Auguste vor. Das andere Paar blieb hinten.

Fräulein Martha lief indes auch dieses Spiel des Zufalls zunächst bitter in die Stimmung. Sie sah da, auf dem schmalen, voll besonnten Weg, an dem schnellen, hellen Wasser des Baches die zierliche Freundin neben dem großen breitschultrigen Doktor hinuntergehen. Sie hatte einen Schmerz zu überstehen, als nähme eine Unbefugte ihr ein Recht mit weg.

Als dann noch die beiden vorne in heiteren Gesprächen, deren auffliegende Spitzenränder der Wind zu ihr hintertrug, eiliger und leichter fortkamen, wurde es in ihr selber um so schwerer und träger, so daß sie ihrerseits mit ihrem Begleiter immer weiter zurückblieb.

Herr Philipp hatte bisher geschwiegen und war der stumme, nicht minderbelastete Zeuge dieser Not. Da quoll auf einmal sein schöner, guter Wille in ihm auf. Er griff nach der Hand des Mädchens und sagte inständig: »Fräulein Martha, ich liebe Sie von ganzem Herzen. Aber wenn es Ihnen nicht recht ist, dann ziehe ich mich zurück!«

Herrn Philipps Augen waren mit ein paar großen redlichen Tränen gefüllt. Da brachte Fräulein Martha es nicht über sich, ihm die Hand zu entziehen. Nach ein paar Schritten schon schenkte sie ihm einen stillen, aber bestimmten Gegendruck und antwortete ernst gesammelt: »Es ist mir recht.«

Herr Philipp küßte ihre Hand. Dann gingen die beiden Nachzügler rascher und frisch aufgelüftet den anderen nach.

Aber auch die Eilfertigen schienen sich auf die Zurückgebliebenen besonnen zu haben. Fräulein Martha und Herr Philipp sahen, wie sie selber Hand in Hand näher kamen, das Paar ihrer wartend dastehen.

Und Fräulein Auguste und der Doktor standen gleich ihnen Hand in Hand.


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