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Peregrin

.Nach Verlauf zweier Jahre und vieler Schuhe war er um Brotes willen wieder in der großen Stadt, die damals auf den Davongelaufenen mit einem nahrhaften Amt vergebens gewartet hatte. Jetzt war er in ihren Mauern kurze Zeit Hilfsschreiber gewesen und wieder überflüssig geworden. Von Tag zu Tag fristete er sich und wartete selber doch immer noch auf das Glänzende, dessen Fäden aus der Erinnerung an einen Tag und eine Nacht durch die zwei Jahre herwehten.

Er getraute sich nicht mehr heim, weil er seine Miete nicht bezahlt hatte und die Wirtin gegen ihn schweigsam wurde. So nächtigte er zum erstenmal auf einer Bank im Bahnhof, und als ein Schaffner ihn anstieß, lief er hinaus auf den Schloßplatz und setzte sich unter die Jubiläumssäule.

Es gelang ihm schon seit Wochen, daß er das Wissen um seine Lage aushängen und in einen Dämmerzustand hineinsinken lassen konnte, wo er dann vor den Angriffen rauher Deutlichkeiten eine Weile sicher gebettet saß.

Auf der nächsten Bank saß ein anderer Obdachloser in der kühlen Sommerfrühe, die Füße vornausgestreckt, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Kopf auf die Brust gesunken, daß man glauben mochte, der Kopf wolle mit seinem trüben Inhalt aus dem Schlaf herunterfallen.

Es tagte langsam. In den Kastanien zwitscherten die Vögel, als zausten sie das Dunkel auseinander. Den Laternen dicht unter den Kastanienkronen verzehrte sich der Lichtkreis und zog sich aus dem Laubwerk in die Glasscheiben zurück, dort auf den Löschmann wartend. Die Sterne erloschen, und der Morgenstern stand als Letzter in der weiten, leeren Höhe. Einzelne Fuhrwerke fuhren draußen herum in der Stille auf, und ein paar Reisende liefen mit Handkoffern vorbei zu den Morgenzügen.

Es fror ihn und trieb ihn wieder an, weiterzugehen in die Stadt, die zur Arbeit aufwachte und sich mit bewegten Dingen füllte und mit eilfertigen Menschen, die alle seltsam aussahen, da sie in ihrer Eile noch die schweren Reste ihrer Träume trugen.

An einem Brunnen wusch er sich das Gesicht und die Hände. Der Brunnen ist außen in die Nische eines Palastes gebaut. Die bronzene Figur, eine schöne milde Mutter, hält ein nacktes Kind erhoben und einen Schwamm. Das Wasser quillt herunter in die Steinschale.

Dies rührte ihn, wie auch er die Hände unter das Rinnsal hielt und sich benetzte. Heftig brach wieder das Gefühl eines nirgends geborgenen, preisgegebenen Daseins in ihm aus. Er mußte sich beim Abtrocknen noch einmal die feuchtgewordenen Augen trocknen.

Beim Bäcker kaufte er sich einen warmen Wecken und aß ihn aus der Tasche; bei einem Weißzeughändler hatte er sich gestern abend auch einen frischen Kragen gekauft, den er jetzt in einem Winkel gegen den seinigen anzog.

Dann wandelte er vor den »Anlagen« auf und ab, bis die Gardisten mit den Knaufstöcken an die Gittertore kamen und aufmachten.

Diese Anlagen ziehen in einem kilometerlangen, breiten Band vom königlichen Schloß, dem Herzen der Stadt, hinaus bis an den Fluß, wo sie in ein paar Favoritebauten ihren Abschluß finden. Sie sind mit ihren Schwanen- und Ententeichen, ihren Fontänen, ihren geschorenen Wiesen, ihren Blumenrabatten und botanischen Beeten, ihren Marmorgöttern und stillen Denkmälern, ihren Platanen- und Ahornalleen, ihren exotischen und heimischen Baumbeständen in solchen frühen Sommerstunden eine willkommene Heimstätte für heimatlose Schwärmer, und jeden Morgen, ehe die anderen kommen, begegnet sich hier eine Gemeinde von Käuzen, die kundige Genießer dieser frischen Stunden sind. Jeder hat, wenn er sich betrachtend ergangen, auch irgendwo ein Plätzchen auf einer Bank, wo er sich in die allgemach wärmende Sonne, und später eines, wo er sich in den Schatten setzt.

Unser Freund hatte sein Buen Retiro letzterer Art unter einer großen Blutbuche, deren glänzende braune Blätterhaube bis auf den Boden hing und in sich eine Bank nahezu verbarg. Wenn die Sonne schien, schimmerte innen der schattige Raum heimlich von dem Licht, das durch die Blätter gedämpften Durchlaß fand. Daraus hervor sah man durch das nieder herabgezweigte Tor das draußen ausgegossene Licht, und sah über den lichtgrünen Rasen hin, auf dem blühende Zwergkastanien über ihren Schatten saßen, und dunkle Zypressenpyramiden und hellhaarige Weymouthkiefern, indes da und dort eine Birke auf weißem Stamm ihr säuselndes Laub hoch darüber in den Himmel hielt, und weiter draußen alte Buchen, Eichen und Fichten sich hintereinander wölbten und die Allee in dichtere Gruppen lief.

In dieser Allee, ganz gewiß, war Mörikes Liedchen vom Gärtner entstanden:

Auf ihrem Leibrößlein,
So weiß wie der Schnee,
Die schönste Prinzessin
Reit't durch die Allee.

Der Weg, den das Rößlein
Hintanzet so hold,
Der Sand, den ich streute,
Er blinket wie Gold.

Du rosenfarbs Hütlein,
Wohl auf und wohl ab,
O wirf eine Feder
Verstohlen herab!

Und willst du dagegen
Eine Blüte von mir,
Nimm tausend für eine,
Nimm alle dafür!

Als er an diesem Tag nach längerem Umschweifen und Aufenthalten in den Parkwegen später unter das Laubdach der Blutbuche einschwenkte, fand er an dem einen Ende der Bank schon zuvorgekommenen Besuch. Eine junge Frau und vor ihr in einem Sitzwägelchen einen Knaben, der ein Jahr alt sein mochte.

Lise Maiwald …!

Der Name zückte in ihm auf und berauschte ihn mit vielem Licht. Doch sprach der Mund nichts aus, und der Ruf, der in der Kehle schwoll, wurde lautlos zurückgedrückt. Mit einem stummen Gruß des Hutes setzte der Eindringling sich entfernt an das andere Ende der Bank.

Die junge Frau dankte, blieb aber in sich und über dem Knaben sitzen. Sie war schön, etwas rund und von ruhiger Schwere des Wesens, so als wenn sie glücklich wäre und doch geheime, fremde Gedankenspiele sich unter der Decke der Zufriedenheit eigene Wege gebahnt hätten.

Ihre Augen beglänzten den Knaben; das Kind hielt dem fremden Mann ein leis klingendes Schellenspiel entgegen. Die zärtliche Hand aber, die den kleinen Händen, als belästigten sie, abwehrten, trug einen Goldreif.

Lise Maiwald …!

* * *

Er blieb ganz still und dachte zurück.

Damals vor zwei Jahren, wie er auf der Eisenbahn aus dem Urlaub in die Stadt zurückfuhr, zu seinem Drehstuhl im Bankkontor … Wie auf einmal ein Mädchen ihm gegenübersaß, braunhaarig, braunäugig, in leichtem, mattgrünem Kleid und unter honiggelbem Strohhut. Das Mädchen legte ein Gebind duftenden Flieders in den Schoß und schaute zum Fenster hinaus. Da wußte er, daß es um ihn geschehen war.

Ein Wind flatterte von draußen herein und blätterte an dem schönen neuen Fahrgast herum. Die Bundesgenossenschaft der luftigen Angriffe brachte es fertig, daß sie das Gesicht und auch die Gedanken hereinkehren mußten. Sie schaute ihn an, dann roch sie an ihrem Strauß, las in einem Buch, und schaute ihn zwischendurch abermals an. Schließlich hatten sich ihre Augen voll auf seine Augen gerichtet und um ihn aufgeschlossen.

Aber an der Station richtete sich das Mädchen zum Aussteigen. Die Gehende ließ ihn zögernd und wie einen lieben Schein aus dem Blick fallen. Der Zug stand, und die Tür entrückte die Gestalt.

Da riß auch ihn etwas hoch, sein Rucksack flog vom Netz, und er gab an der Sperre dem verwunderten Schaffner seine Fahrkarte ab, die noch zweihundertfünfzig Kilometer in den morgen früh halb neun Uhr wartenden Dienst weiterlief.

Hinter dem Mädchen drein, in respektvollem Abstand, lief er dafür in ein Städtchen hinein, dessen Gassen die bald abendliche Sonne unterhaltend beschien. Das Mädchen ging voraus und zog ihn, den Leichten, wie einen langfädig gehaltenen roten, blauen oder grünen Kinderballon nach bis auf den Marktplatz.

Und in mondloser Nacht um elf Uhr klinkte hinter einem Bürgerhaus eine Gartenpforte. Er schob sich hinein, und ein ummanteltes Wesen schloß die Pforte wieder zu. Zwei Arme streckten sich aus dem Mantel nach ihm heraus, und eine Stimme frug: »Was hast du mit mir gemacht? Ich kenne dich nicht und muß dich lieb haben?«

Ein Mund küßte ihn. Der Garten mit den leisen, lohbeworfenen Wegen hatte eine Ecke unter einem Fliederbusch. Dort war eine Bank. Sie setzten sich.

»Ist der Strauß von deinem Schoß seit Mittag zum Strauch geworden?«

»Ja, und deine zwei Augen zu den vielen Sternen.«

»Wer bist du?« frug sie wieder einmal.

Der Fliederbusch wäre verschwunden und die Sterne und der Garten und das Mädchen, wenn er bürgerlich geantwortet hätte, was er an diesem Rätseltag schon vergessen hatte.

Er sagte überlegend und sich leicht hebend: »Ein Wanderer.«

Später sagte sie plötzlich: »Du darfst nicht wieder kommen.«

»Warum?«

»Ich muß in sechs Wochen eine Frau werden?«

»Liebst du ihn?«

»Bis gestern tat ich's wohl … Und von morgen an möge mir Gott helfen, es wieder zu tun.«

»Ich komme nicht wieder.«

Der Sternhimmel zitterte droben, und der Flieder war eine dunkle Wolke, die schattenhaft in ihren eigenen Düften schwamm.

»Wohin gehst du?«

»Ins Blaue.«

In anderer Frühe wanderte er zum Städtlein hinaus gen Morgen, indes die Stadt, der er gestern zugefahren war, im Abend lag.

Nach etlichen Tagen las er in der Zeitung von einem mit seinem Namen behafteten vermißten Bankbeamten.

Er spürte, das war etwas wie eine Verfemung. In seiner Tasche blinkte an diesem Tag auch das letzte Goldstück.

So wanderten die Füße weiter. Wenn er an einem Kreuzweg nicht wußte, wohinaus, warf er ein Zettelein in die Luft; wohin es fiel, dahin lief er. Bald stand er unter dieser Führung des Zufalls auch wieder einmal in mondloser Nacht an jener Gartenpforte, und ging ungesehen wieder fort.

Zu Bauern als Knecht, zu Kaufleuten als Packer; doch dies tat gleichsam ein anderer. Im Notizbuch seiner Brusttasche bargen sich Reime, Sternhimmel, Fliederwolke …

Meine Schuhe müssen fort
Und waren doch an Glückes Ort.
Runde Erde, ich hab' kein Ziel!
Mein Herz, das liegt dort, wohin es fiel
Aus hohem Bogen gleich einem Stein
In einen seligen Garten hinein.
Ins Finstre trage ich dein Licht,
Verlorenes, liebes Angesicht …

* * *

Daran dachte er. Aber Lise Maiwald kannte ihn nimmer; gab es keinen Zauber mehr an ihm, ging keine Kraft von ihm hinüber? Armselig, lang behaart und in halbgewachsenem Bart sah er sich jetzt selber von sich arg fortgefallen, verlaufen und verkommen.

Schmerzhaft spürte er noch einmal alle Gefühle in sich aufquellen und zu der jungen Frau fließen. Und ganz deutlich spürte er wieder, wie sie doch in diesem Augenblick an ihn dachte, irgendwohin in die Ferne; und als die durch den Gedanken inständig Bewegte sich zu dem Knaben hinunterbeugte, da küßte sie ihn.

Die Mutter sprach bei der zärtlichen Handlung den Namen des Knaben vor sich hin. Der hieß seltsam: Peregrin.

»Peregrin … der Fremdling.«

Sie hatte ihn genannt, den Wanderer, und das Kind des Bürgers nach ihm getauft. Wie geheim und teuer vermag eine Frauenseele zu weben?

»Sei unbesorgt, Lise, sei unbesorgt, Peregrin, ich störe euch nicht.

Ich will euch nur noch einmal anschauen und dann gehen. Ihr wißt es nicht, wie jetzt aus meinen Augen viele Liebe über euren Leib und eure Seele strömt.

Leb wohl, Lise, leb wohl, Peregrin; seid glücklich, ich gebe euch mein Glück zu dem euren.

Liebe Lise Maiwald, lieber kleiner Peregrin … Wie heißt du sonst? Wie nennt sich dein Vater? Ich grüße auch ihn und überlasse ihm das Vermächtnis aller meiner Wünsche für euch.«

Es war ganz still in dem Blätterzelt, als der traurig Schwärmende das verschwiegen zu den beiden hinübersprach. Dann stand er auf, brach beim Hinausgehen das unterste rote Blatt des am tiefsten herabhängenden Zweiges. Die Sonne schien hindurch wie durch eine feine Hand; er gab es der von einer leichten Verwunderung erschreckten jungen Frau. Mit einem stummen Gruß des Hutes verschwand der Fremdling aus dem Blättertor der Blutbuche in den hellen Park.

Ein Bauer sah nach Tagen einen Mann in dem kleinen Bergsee verschwinden, der der Blausee heißt, weil er die Bläue des Himmels in auffällig tiefer Tiefe widerspiegelt. Darum, und weil auch der See keine Leiche zurückgibt, geht die Sage, der Tod in seinem Wasser bringe auch dem sonst verdammten Selbstmörder die ewige Seligkeit.


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