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Das romantische Fräulein

.Über den Garten eines Landhauses, der von halber Höhe eines sanften Hügelrückens zum See hinunterzieht, ist eine schöne Sommernacht gekommen; der schmale Nachen des zunehmenden Mondes schwimmt am Horizont herauf, und der Himmel hat sich während der dunkelnden Dämmerung langsam ausgestirnt. Der See liegt ruhig und auch schon dunkel geschmolzen drunten; nur die Laternen des kleinen Dampfboothafens werfen bewegte Lichter hinein, und vom Mond herüber rieselt eine leis schimmernde schmale Silberbahn auf dem Wasser einher.

In einer Laube, die sich gleich einer Muschel nur halb empordacht, sitzen bei einer seitlich gestellten blauumschirmten Lampe in weißen Korbstühlen eine junge Dame und ein Herr und sprechen miteinander. Die junge Dame, in einen blauen Abendmantel gehüllt, hat sich tief in den Stuhl versenkt und Arme und Hände lässig auf die Lehnen vorgelegt. Ihr zurückgelegter Kopf liegt in einem geflochtenen Kranz stumpf blonden Haares wie eingebettet, und aus dem reingebildeten, frischen Gesicht schauen blaue, still offenstehende Augen dem Aufstieg des Mondes nach. Der Herr hat die Hände vor dem übergeschlagenen Knie gekreuzt und spricht gerade vor sich hinaus, als sehe er nur seinen Worten nach; er trägt blauen Sackanzug, einen weichen, grauen Hut auf dem geschorenen Kopf und geschnittenen Schnurrbart.

»Ich habe mich entschlossen, die Fabrik zu erweitern.«

»Baulich?«

»Ja, die Pläne sind bestellt.«

»Vermehrt sich der Umsatz?«

»Wir können den Bestellungen nicht mehr nachkommen, und auf Jahre hinaus sind gute Aussichten.«

Die junge Dame schweigt, in jenem Schweigen, durch das der Gesprächstoff gleichgültig hinuntergefallen ist.

Der Herr aber bleibt an seinen Eröffnungen hängen und greift sie nach kurzer Pause mit bescheidenem Nachdruck wieder auf.

»Wirklich, ich bin sehr zufrieden.«

»Gewiß, Robert, du kannst stolz sein und bist ein außerordentlich begabter Geschäftsmann.«

»Stolz? Ich möchte es sein um deinetwillen, Helene, und was immer ich erreiche, kann ja doch nur eine mangelhafte Gegengabe sein.«

Die junge Dame lächelt und reicht ihm die Hand hinüber, die er verbindlich küßt.

Wieder wird es still. Die junge Dame zieht genießend einen hergewehten frischen Lufthauch ein und schaut wieder dem Aufstieg des Mondes nach. Auch der Herr legt sich in seinen Stuhl zurück und läßt, leicht verstimmt, die schlanken Finger ineinanderkreisen.

Da fängt vom See her eine Geige zu spielen an.

Die junge Dame horcht auf.

»Ah, wo ist das?«

»Dort drunten in dem schwarzen Kahn.«

»Gerade in der Lichtbahn des Mondes?«

»Ja, dort muß es sein.«

»Der Kahn liegt still, und nur ein Mann sitzt darin?«

»Ein Schwärmer.«

»Wollen wir ihm nicht lieber zuhören?«

Die Geige spielt Lieder, alte bekannte Liebeslieder. Eins nach dem anderen, mit inniger, etwas süß gezogener Führung der Melodie, die aber in der Stille sich schön und weich austrägt.

Da die Geige aufhört und verklungen ist, fragt nach einer Weile die junge Dame nachträumend, als ob sie sich selber frage: »Wie lange habe ich kein solches Lied mehr gesungen und wie lange keins mehr gehört?«

»Unsere Fabrikmädchen singen sie alle.«

»Sind die Lieder darum so schön geworden, weil sie uns fremd geworden sind?«

Die Geige spielt wieder ein Lied.

»Wem galt das wohl?«

»Gewiß einem Mädchen, vielleicht auch einer Frau.«

»Können nicht alle Mädchen und alle Frauen, die jetzt in den Gärten und Häusern des ganzen Seeufers sitzen, denken, es gälte ihnen?«

»Bei der Geräumigkeit der weiblichen Phantasie ist das immerhin möglich.«

»Beherrsche dich, Freund! Ihr könnt es allerdings nicht verstehen, daß diese Phantasie am Ende unser einziges Eigentum ist, das uns hinter dem, was ihr uns nicht zu geben habt, noch an unbekannte Spenden der Schönheit glauben läßt.«

»Verzeih, ich wollte dich nicht kränken.«

Die Geige spielt noch ein Lied.

»Wie das aufsteigt und die Nacht füllt! Ist es nicht, als hätte sich das Dach des Himmels gerade für diese Stunde und diese Geige über den See und das Land gewölbt?«

Der Herr antwortet nicht mehr.

Auch die Geige schweigt, und es ist, als stünde die Welt draußen noch weit offen und als hätte sich der letzte Ton darin verweilend aufgelöst.

Vom Landhaus droben wird gerufen.

»Die Mutter!«

»Bitte empfehle mich ihr.«

»Du kommst nicht mehr mit hinauf?«

»Ich habe mich noch im Hotel verabredet.«

Die junge Dame reicht dem Herrn wieder die Hand zum Kuß und geht nach oben. Der Herr zündet sich eine Zigarre an und geht zum Gartentor hinüber.

* * *

Am anderen Morgen schon liest der Herr im Hotel folgenden törichten Brief:

Lieber Robert!

Ich muß Dir mitteilen, daß wir uns nicht heiraten können. Gestern nacht im Garten ist es mir klar geworden, und es ist für beide gut.

Ich weiß, Du hast mich lieb und bist ein Mann, dem sich ein Mädchen wohl anvertraut. Du würdest mich mit Sorgfalt und Rücksicht hegen und mich im Kreis einer sicheren Wohlhabenheit halten.

Gleich einer Prinzessin, wie man so sagt. Schöne Kleider, großes Haus, Wagen, Auto, Gesellschaft, Musik, Sommerfrische, Bergwinter. Alles und mehr.

Aber sag, was gibst Du mir damit Neues? Kannst Du mich auch zur Prinzessin machen? Und mir jenen Hauch und jenes Wunderbare geben, mit dem umschleiert wir die Königstöchter nicht von den Thronen der Dynastien, sondern aus dem Land der Märchen herkommen sehen?

Warum soll ich mir nicht einbilden, solch eine Prinzessin zu sein?

Mach Du eine andere zur reichen Frau. Ich habe Wünsche nach dem Fliegenden, Wehenden, vielleicht nach dem Ungreifbaren und Zwecklosen des Lebens, und ich will den unvernünftigen Glanz nicht aus meiner Seele verwischen.

Ihr macht uns öffentlich zu Euren Herrinnen und meint, uns die Freiheit unseres geheimen Eigentums nehmen zu können.

Ihr gebt Eueren Frauen tausend schöne Dinge in die Hand und laßt sie damit spielen, und denkt nicht daran, daß das Spiel mit dem Schönen schon der Ausblick nach dem Schöneren ist.

Ihr denkt nicht daran, daß die Seelen Euerer Frauen Euch allen untreu werden müssen, daß keines sonst nichts als reichen Mannes Frau in ihren Stimmungen treu sein kann.

Tut an ihnen was Ihr wollt, sie sehen am Ende in Euch doch nur den aus dem Kontor kommenden Geldbürger.

Umrankt ihre Launen mit Geschmeide und Rosen, den Vogel der Sehnsucht werdet Ihr nicht darin gebunden halten.

Laßt Euch von ihnen geben, was Ihr begehrt, laßt Euch ihren Leib bewahren und Euch Kinder daraus schenken; sie werden in ihrem Schoß immer noch eine andere Hoffnung tragen, als die, sich mit Euerer Liebe zu füllen.

Sieh, Robert, auch ich müßte Dir untreu werden, schon in der Stunde, in der ich Dir das Jawort geben würde.

Gestern nacht hat die Geige auf dem See mir das zum Bewußtsein gebracht.

Ich fühle es noch deutlich, wie Du neben mir abrücktest und fremd und zur Sache wurdest.

Etwas anderes, Unaussprechliches wurde dafür in mir, und Raum zu etwas Neuem, Großem und Schönem. Vielleicht wieder, vielleicht jetzt erst zu einer Liebe, die noch keinen Namen und keinen Geliebten hat.

Du warst es nicht mehr. Wen ich lieben werde, das wird irgendeiner sein, der nicht ausschließlich Fabriken zu erweitern hat, sondern auch in seiner Seele weite, hohe Hallen bauen kann, der mir Licht und Luft bringt vom Berg, der mit mir wandert und die Sonne liebt und den Mond, der mir Geschichten erzählt und mich auch seine Prinzessin heißt.

Aber anders als Du, weil er mir den blauen Mantel und die goldenen Schuhe des Märchens dazu bringt.

Nicht wahr, Robert, solch einer bist Du nicht? Darum müssen wir auseinandergehen, sonst täten wir uns unrecht. Ich erschrecke beinahe daran, daß ich solange glaubte, Du seist es.

Wenn es Dir genug tut, halte auch mich für eine Schwärmerin, wie gestern nacht den Geiger, der mich Dir entführte.

Leb' wohl!

Helene.

Der Herr wurde sehr ernst; dann lächelte er, schmerzlich denkend: Kind, wenn dein Vater keine Fabriken gebaut und erweitert hätte?

* * *

Ein paar Tage später steigt Fräulein Helene in weißem Waschkleid und unter breitem gelben Strohhut hinter dem Landhaus auf schmalem besonnten Ackerweg den Hügel hinauf. Mit lustig ausgabelnden Schritten. Wie der Storch im Salat, sagt ihre Mutter, wenn sie so etwas sieht. Aber das trifft nicht ganz zu, denn der Gang ist dennoch wiegend und trägt in geschmeidigen Gelenken mühelos einen schlanken, kräftigen Mädchenkörper empor.

Das blonde Haar kraust sich in dem Lauf, und das Gesicht wittert in einem feinen Durst gegen den Wind, der über die Höhe herunterflattert.

Droben auf dem Hügelrand läuft zwischen Obstbäumen eine Hecke hin, in der Vögel nisten und blaue Schlehen und rote Hagebutten wachsen.

Aber ihr Platz ist belegt, und britzbreit von einem Mann, der in grauer Baumwollhose und weißem Hemd bäuchlings mit gestreckten Beinen daliegt und vor sich auf der hingebreiteten Jacke ein Buch aufgeschlagen hat. Der Leib wärmt sich in der Sonne, und nur der Kopf und das Buch sind von der Hecke beschattet. Über das Buch hinaus würde der erhobene Kopf hinunter auf das Landhaus, den Garten und den See sehen, wenn ihm nicht gerade die weiße Erscheinung des links der Hecke heraufgekommenen Mädchens in den Weg getreten wäre.

Aber der Gestörte erschrickt nicht vor dem Hindernis, wenn er sich auch ritterlich entschuldigt: »Ich habe Sie nicht kommen sehen, Fräulein!«

Er rückt an sich herum, um aufzustehen.

»Bleiben Sie, wir sind hier nicht auf dem Parkett.«

Fräulein Helene traut sich die unabgewogene Antwort selber nicht zu, doch das kam so heraus, weil sie sich voll frischer Luft gelaufen hat. Und es treibt sie, den Mann sich anzusehen. Er ist um sechsundzwanzigjährig, braunhaarig, aber blauäugig wie sie, nicht übersorgsam gepflegt, und sein offenes Gesicht ist verbräunt.

»Sind Sie ein Dichter?«

Die Frage ist ihr auch von selber aus der Betrachtung des unerwarteten Schaustücks entsprungen.

»Vielleicht. Und wenn, dann ein zurzeit verhinderter; ich stehe vor einer Staatsprüfung.«

»Welcher Fakultät?«

»Ich bin altklassischer Philologe.«

»Wenn man so aussieht und so daliegt?«

»Allerdings, das Gehäus mag etwas leicht sein für meine zur Würde verpflichtete Seele.«

»Was lesen Sie da?«

»Ich stelle mir eben den perikleischen Staat wieder her.«

»Hier oben über dem schwäbischen Bodensee?«

»Sie sehen, es gelang mir so gut, daß ich nicht einmal verspürte, wie ein schönes, deutsches Edelfräulein sich mir nahte.«

»Dieser perikleische Staat muß also auch etwas bedeutend Schönes gewesen sein?

»Gewiß, er hat mit den schönen Dingen wenigstens das eine gemein, daß die Beschäftigung damit keinen sichtbaren Zweck hat.«

»Aber Sie müssen doch darauf Ihre Staatsprüfung machen!«

»Freilich, ja, und das ist am Ende noch ein fatalerer Zweck, als wenn einer Trikots webt, um die Kongoneger mit europäischer Gesittung zu bekleiden.«

Fräulein Helene ist von dem Vergleich betroffen; hat sich der Mensch um ihren verabschiedeten Bewerber gekümmert? Sie geht aber nicht darauf ein und fragt anderes: »Finden Sie auch, daß hier eins der angenehmsten Plätzchen des ganzen Reviers ist?«

»Oh, und wie ich das finde! Der Ausblick auf die Berge, auf das Wasser, auf die Uferdörfer und gerade da hinunter auf das Landhaus mit dem Garten, in dem ich manchmal eine sehr schöne, vornehme junge Dame leider mit einem nicht Xaver Kollmus heißenden Herrn lustwandeln sehe.«

Das war nun mitten ins Blumenbeet getreten, aber Fräulein Helene kann sich da oben in dem luftigen Sommermittag nicht verwirren lassen von einer Verwegenheit, die ihr selber ins Blut lacht. Und da springt lieber auch sie gleich zu dem siegreichen Angreifer hinüber: »Vorläufig wird die junge Dame Gott sei Dank wieder allein lustwandeln.«

»Und das Gartentor bleibt geschlossen?«

»Bei Tag nur mit einer Klinke.«

Da steht Xaver Kollmus glatt aufgeschnellt vor dem Mädchen, vier Hände greifen sich und vier blaue Augen leuchten sich groß an, wie Sonnen, die zum erstenmal die Geburt der blühenden Erde sehen.

Zur einbrechenden Nacht, da wieder der Mond und die Sterne über den See gekommen sind, sitzt Fräulein Helene allein in der Laube und bedenkt das Geschehene.

Das war nun also ein Abenteuer. Ein Geschehnis, das vom blauen Himmel fällt, und das sich gleich so ganz und unverwandt uns schenkt, als hätten wir schon lang und immer darauf gewartet, oder als gehöre es uns von Anbeginn, und wir hätten es nur noch nicht gekannt.

Warum soll es keine solchen Abenteuer mehr geben? Expreß in dieser Menschenwelt, in der wir allem, was mit uns vorgehen soll, schon im voraus einen Maßstab entgegenhalten?

Und, wirklich, warum soll uns Mädchen kein Taugenichts mehr plötzlich vor den Füßen liegen, weil sonst lauter Lackschuhe um uns herlaufen?

Ein heller Jungferntrotz frohlockt in ihr auf, und wenn dabei der Lehramtskandidat Xaver Kollmus nicht aus dem Bereich ihrer Vorstellungen kommt, so scheint ihr auch das keineswegs mehr verwunderlich.

Hier liegt eben einmal wieder der alle hundert Jahre fällige Fall von der Liebe auf den ersten Blick vor.

Lustvoll sprüht in ihren Sinnen das Gefühl dieser Liebe zu dem fremden Mann. Sie sitzt von unbegreiflichen Quellen durchronnen in süßgenießendem Tausch mit der duftenden Sommernacht.

Es muß auch so sein, daß drunten auf dem See wieder die Geige kommt und der schwarze Nachen in den silbernen Rinnsal des Mondschimmers. Sie kommen wie in der Reihenfolge eines sonderbar vor sich gehenden traumhaften Weltspiels, wie der Mond selber kam und die Sterne.

Der Musikant spielt wieder seine Lieder hinauf in das Himmelsgewölbe. Sie empfindet fromm: Da sitzt jetzt auch irgendwo der liebe Herrgott still.

Und innig denkt sie: Wo bist jetzt du, geliebter Mann? Hörst du es auch, wie ich und Gott es hören?

Es ist nicht mehr der Schein der blauumschirmten Lampe; aus dem Mädchengesicht, das wieder in den Flechtenkranz der blonden Haare zurückgebettet liegt, strahlt der Schimmer einer vom Wunder bewegten Seele.

* * *

Fräulein Helene sagt zu Xaver Kollmus ein bißchen dummpfiffig: »Warum muß auch ein Dichter eine Staatsprüfung machen?«

Sie sitzen hoch auf einem Bergfelsen zusammen und lassen ihre Beine über den Abgrund baumeln.

»Weil der Dichter eine aus der Höhe zu Tal geratene menschliche Abart darstellt und in der Weltordnung dort unten ohne unkenntlich machende Einkleidung ein gefährdetes Dasein führt.«

»Aber die Dichter sind doch die Freunde aller schönen Seelen und die Lieblinge der edlen Frauen.«

»Gewiß, wenn sich ihre Körperlichkeit nach dem Tod in den Duft einer poetischen Blütenlese verflüchtigt hat und ihrer hundert zusammen sich um einen Taler in die Erträgnisse dieser Freundschaft und Liebe teilen.«

»Pfui, das ist eine garstige Rede. Ich denke mir beneidenswert glücklich, wer den Menschen etwas so Auserlesenes geben kann, daß die Beschenkten vergessen, ihm Geringeres dafür zurückzugeben.«

»Ach ja, und darum eben wird am Ende auch die hoffentlich dereinstige Frau des Herrn Xaver Kollmus nicht Frau Dichterin, sondern Frau Professorin heißen.«

»Wenn sie aber Frau Dichterin heißen will?«

»Dann wäre er freilich gern auch nur ihr Dichter.«

* * *

Der Kandidat der altklassischen Philologie Xaver Kollmus hat seine Staatsprüfung mitsamt den Ruinen des perikleischen Staatsgebäudes in Kisten verpackt; nur den Theokrit und ein paar andere der antik, aber nimmer alt gewordenen, hellenischen und römischen Singvögel hat ein Sonnenstrahl, der bei der Einkerkerung auf sie fiel, vor der Finsternis gerettet.

Nun sitzt der Dichter Xaver Kollmus in heller Frühe im Garten des Landhauses über dem See und schreibt auf ein weißes Blatt. Er ist schon eine Weile fertig; aber eine helle Duftwolke in Gestalt Fräulein Helenes steht immer noch zu bald vor ihm, als daß der Morgengruß und die Überreichung des poetischen Schriftwerks eine von verlegenem Ungeschick freie Zeremonie geworden wäre.

Auf dem Blatt sind die Verse zu lesen:

Hörst du mich, Freundin, durch die Nacht?
Und ist dir auch das Herz erwacht
Wie mir und wie der stillen Welt,
Die ihren Saal mir lauschend offen hält?

Hörst du mich, Freundin, durch die Nacht,
Die ihre ferne Sternenpracht
Entzündet hat im Himmelsraum
Um meiner Lieder erdenseligen Traum?

Hörst du mich, Freundin, durch die Nacht?
Ich kenne meiner Geige Macht.
Füllt ihre Stimme einmal so dein Ohr,
Dann bin auch ich zu dir getreten durch das Tor.

Fräulein Helene liest lang an den Versen und kommt aus der Lesung hervor, wie aus einem Schwarm entzückter Fragen.

Der Dichter macht sich beiseit an seinem Ärmel zu schaffen.

»Es geht auf den Geiger, den du wohl nachts von deinem Garten schon manchmal gehört hast und der mir mit seinem Spiel in meiner Stube beim Hafenbäcker auch ein willkommener Freund geworden ist.«

Fräulein Helene stößt sich einen Augenblick an der Antwort, dann aber fragt sie mit bewunderndem Augenaufschlag: »Ist das der wahren Dichter Kunst, eines anderen Sehnsucht so schön auszusprechen?«

»Oh, irgendwie mischt sich alle Menschensehnsucht mit der Sehnsucht der Dichter.«

»Geschieht darum auch das?: Ich sitze nun schon manchen Abend allein in dem Garten, wenn die Geige spielt, und habe doch immer das seltsame Gefühl, du, eben du seist bei mir. Ich muß nach dem leeren Stuhl neben mir greifen, wenn ich erfahren soll, du seist nicht da.«

»Die Liebe, o Geliebte, ist allgegenwärtig.«

»Immerhin sag, warum kommst du nicht auch leibhaftig an solchen Abenden?«

»Vielleicht bliebe dann die Geige aus.«

»Ja, es muß wohl so sein.«

»Und wenn ich bei dir säße, würde mich ihr Spiel vielleicht von dir wegführen, wie den Herrn, der vordem bei dir saß.«

»Ich verstehe nicht, was du da meinst.«

»Wie, wenn du hinter mir nur den Wassermusikanten liebtest?«

»Scherze nicht, Xaver Kollmus! Vielleicht … ist's auch so.«

»Vielleicht ist's auch so … Soll ich darüber traurig werden?«

»Nein, dankbar. Wer hat dich mir gebracht?«

»Ein Nachmittagsspaziergang, denke ich.«

»Ei, du glaubst, mein Dichter zu sein, und weißt nicht, daß ich den Nachmittagsspaziergang damals nur unternahm, um mir auf der Höhe im hellen Tag droben von den Liedern jener Abende zu singen, die der Geiger mir wieder in die Erinnerung gebracht hatte. Nicht, um eine halbwilde, fremde Mannsperson auf meinem Lieblingsplatz ausgebreitet zu finden.«

* * *

»Jetzt hast du mich den ganzen Anstieg heraufgetragen!«

»Es war, als ob ich einen großen Strauß Rosen getragen hätte.«

»Oder eine Prinzessin?«

»Meine Prinzessin.«

»Xaver Kollmus, du bist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Mann.«

»Und welchen von beiden liebst du?«

»Dich.«

Er hält die betörende Last noch einmal in die Sonne, dann läßt er sie an der Hecke in die Wiese gleiten und legt sich daneben.

Brauchen wir noch Fabeln von Nymphen und Göttern? denkt er.

Und brauchen wir noch Märchen von Königskindern? denkt sie.

Nach einer Weile sagt er wieder: »Glaubst du, daß wir es nur zu wünschen brauchten, und wir säßen auf jener weißen Wolke dort und führen über die Erde hin!«

Und sie sagt hingegen: »Was sollen wir wünschen? Es ist ja alles so schön!«

* * *

Bald wird Hochzeit sein. Fräulein Helene ist hurtig geworden wie Quellwasser, und ihre feinen Hände schimmern, als hätten sie mit tausend glücklichen Heimlichkeiten zu tun; Xaver Kollmus läuft einen Finger breit über dem Boden.

Zwischen ihr und ihm lassen sich jetzt solche Gespräche behorchen:

»Auch die Mutter ist ganz anders geworden.«

»Das Glück steckt an.«

»Vielleicht ist es auch der Zauber, der uns alle betraf. Sie war so vorsichtig und besorgt, jetzt ist sie selber bunt geschäftig wie eine Braut und verschwenderisch wie ein Bräutigam.«

»Ei ja, du brauchst nur eine Laune loszulassen, und sie ist schon erfüllt.«

»Denk dir, zur Hochzeitsreise kriegen wir, genau wie wir's neulich droben bei der Hecke ausmachten, einen eigenen großen, gelben Reisewagen, nach dem Muster von dazumal, als der Großvater die Großmutter nahm, und einen richtigen Schwager dazu. Und unsere Hochzeitsgäste werden nur die Dorfkinder sein, die sollen bewirtet werden und uns den Reigen tanzen.«

»Das trifft sich, ich habe für die Gratulantin darunter schon das Carmen in der Tasche.«

* * *

Xaver Kollmus hat Nachwehen bürgerlicher Natur, die indes nicht wichtig genug sind, um hier in dieser höher hingebahnten Geschichte erwähnt zu werden. Es beschwert ihn, um den Zustand in gebührender poetischer Umschreibung anzudeuten, dann und wann schamhaft, daß er nun eigentlich ein Fink in fremdem Hanfsamen sei.

Fräulein Helene aber wischt ihm die Unlust weg: »Gib mir einen schönen Reim, und all mein Reichtum wird darum ein armer Kupferpfennig.«

»Hör, Mädchen, bist du wirklich ein Kind von dieser Menschenwelt?«

»Ein Kind von dieser Menschenwelt? Ich weiß es wohl selber nicht … Doch komm und versuch!«

Er darf sie küssen, bis sein Zweifel gewichen ist.

Xaver Kollmus schwelgt: »Ja, ich will dich in den goldenen Rahmen meiner Reime fassen, und du sollst darin so schön sein, daß alle Frauen verlangen werden, gleich dir zu sein, und daß alle Jünglinge ihre Mädchen nach deinem Bild zu erwählen begehren. Und wer dein Antlitz in dem Rahmen gesehen, fragt nicht mehr, wie wohl das Glück aussehe.«

Doch sie weiß noch Süßeres: »Aber mich selber soll keiner von ihnen finden; und wenn ich ihnen begegne, keiner soll mich erkennen.«

»Ja, wir wollen uns grau anziehen wie die Nachtigall, wenn wir unter ihnen sind, und den Schmelz verbergen, den wir in uns tragen.«

»Daß er um uns strahle, wenn wir wieder auf unseren Berg der holden Einsamkeit zurückkommen.«

* * *

Sie sitzen bei eingebrochener Nacht in der Laube des Gartens.

»Nun bist du zum Abend gekommen, aber die Geige kommt nicht. Ich freute mich so lange darauf, mit dir zusammen sie zu hören.«

»Vielleicht kann der Geiger nur spielen, wenn du allein bist, und er ist erschrocken, daß ich da bin.«

»Es saß schon ein anderer Mann hier, der ihn nicht verscheuchte.«

»Das war eben ein anderer Mann.«

»Neben dem ich freilich allein saß.«

»Und glaubst du nicht, daß der Geiger das wußte?«

»Konnte er wissen, was ich damals selber erst entdeckte?«

»Sag, hast du Heimweh nach dem Spiel?«

»Nicht doch, ich meine, es müßte in jedem Augenblick wieder anheben.«

»Vielleicht, wenn wir ganz still in uns hineinhorchen.«

»Oh, seine Musik ist mir seither nimmer aus der Welt geschwunden.«

»Soll ich ihn zur Hochzeit laden?«

»Wirst du ihn finden?«

»Ich liebe dich, und kann darum nicht fehlen, wenn ich suchen gehe.«

* * *

Die Hochzeit war zu Ende. Das Landhaus und der Garten über dem See waren voll Freudenschall und Herzensjubel, als hätten auch Himmel und Erde an diesem einen Tag Hochzeit gehalten. Ein Dorfmädchen hatte bei der Tafel unter den reifenden Obstbäumen das Hochzeitscarmen aufgesagt, das folgenden Inhalts war:

Zieht die Hecke um den Garten!
Laßt die guten Geister warten
An den Türen und herein
Darf nur Sonn- und Mondenschein,
Vogellied und Geigenspiel,
Und was sonst vom Himmel fiel.

Kommt ein Fremdling von der Erden,
Soll ihm erst der Willkomm werden.
Wenn er kennt das Losungswort
Für den stillen Zauberort:
Unter unsrer Herrin Fuß
Alles Wunder werden muß.

Das Spiel von der Prinzessin Helene lag noch glänzend in den Augen der Kinder, als sie abends reich beschenkt unter den schwankenden, bunten Papierlaternen ins Dorf hinunterzogen. Aus dem Schuppen neben dem Haus leuchtete der gelbe Reisewagen, der morgen die Landstraße hinrollen soll über Berg und Tal. Der Schwager probierte sein Posthorn und blies hellen Klang in die Dämmerung hinein.

Und dann war die Nacht und der Mond und die Sterne über den See, den Garten und das Haus der Liebe gekommen, im Hinzug stiller, tiefer Stunden.

Frau Helene liegt träumend im Brautgemach und angefüllt von hold verströmter Wonne.

Auf einmal, von ungefähr und doch wie an das Bedeutungsvollste, denkt sie im Traum an die Geige auf dem See.

Warum hat sie gefehlt?

Oder war sie da?

Ja … da … da eben steigt draußen vor den offenen Fenstern aus dem Garten ein Lied auf und wieder ein anderes und noch eines.

Oh, sie ist da … im Garten … nicht auf dem See?

Frau Helene erwacht, aber sie schlägt die Augen nicht auf und liegt in dem süßen Segen der wunderbaren Begebnisse. Nur ihre Hand schiebt sich leis suchend hinüber. Der Platz des Xaver Kollmus ist leer.

Draußen im Garten vor den Fenstern spielt die Geige.

Da weint Frau Helene aus dem Überfluß ihres gnadenvoll frohen Herzens.


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