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Der Hof des Patrizierhauses

. In der alten fränkischen Stadt am Main gibt es noch ein großes Geviert absonderlicher Gassen. Die Gassen sind eng hingewunden durch hohe, graue Häusermauern geführt. Geht man darin, klingt das Pflaster, wie wenn darunter noch eine Wölbung liefe, und fährt ein Wagen gefährlich knapp hindurch, dann dröhnt es. In die Mauern sind nach außen nur wenige kleine viereckige Fenster gebrochen, und unten, jeweils zwischen zwei Randsteinen, rundbogige Tore mit meist festgeriegelten Einfahrtsflügeln. In diesen erst öffnet sich das Einlaßpförtlein, das manchmal auch nebenan unter einem eigenen Steinbogen sich birgt. Die Gefängnisse werden heute nicht mehr so schwer und finster gebaut wie diese Häuser.

Die Wappen über den Torbogen aber zeigen an, daß hier einst ein vornehmes gewichtiges Leben sich seinen Sitz bereitet hatte. An den größeren Bauten weist etwa ein Krummstab auf einen Klosterhof hin, sonst eine Helmzier auf ritterbürtige Herren, oder ein anderes Merkmal der Heraldik auf die Patriziergeschlechter der Stadt. Gemeinschaften und Sippen hatten da gleichsam ihre Festungen gassenweise nebeneinander gebaut, stumm abgeschlossen gegen draußen. In dieser Stadt könnte das von den Briten gekommene stolze Wort »Mein Haus – meine Burg« entstanden sein.

Tritt man aber durch das Pförtlein, tun sich hinter stattlichen Stiegenhallen die Höfe auf. Da hinein, nach innen lebten die Edelsassen. Anders als heute, wo der Reichtum laut sich überbietend auf den Schauseiten prunkt. Wohl ist an dem Mauer- und Steinwerk schier alles verblichen und abgebröckelt. Aber da gibt noch ein Säulengang, da eine Empore, da eine mit Meißelkunst umrahmte Fensterreihe, ein reich geformter Erker oder Staffelgiebel, ein Treppentürmchen in der Ecke, eine verwaschene Sonnenuhr oder auch ein eingeschlafener Brunnen Kunde von der auserwählten Art solcher Wohnsitze.

Jetzt haben Handwerker in einigen der Höfe ihre Arbeitsstätte aufgeschlagen. Die Häuser aber sind Mietskasernen geworden. Blumen, Wäsche und Küchenzeug blüht und bläht sich an Fenstern und Gesimsen. Die breiten Gänge der Gebäude sind mit Glastüren abgesperrt und dahinter in kleinen billigen Partien kleine billige Leute eingenistet. Da wohnen in Nachmiete Studenten der Universität, deren mancher wohl noch mit einer romantischen Anmutung in das dicke Gemäuer einzieht, während die Taglast den anderen Einwohnern zu träumenden Erinnerungen keinen Raum läßt.

* * *

Auch Markus Baldein, der Archäologe, suchte diese Gassen nach einer Stube ab. Für ihn wurde das eine hochgestimmte Entdeckungsreise. Denn er war von der Gilde der Erzträumer, die in goldenen Nebeln gehen und für die Dinge der Vergangenheit den besonderen Sinn haben. Am Ende blieb er bei dem Haus, das den stillsten Hof umschloß und nach dem ganzen Aushalt auch von ruhigen, wohlhäbigeren Familien bewohnt war. Der Hof hatte sich grün bewachsen, in der alten Brunnenschale blühten Geranien, eine Trauerweide ließ nun von hinten her ihre Zweige daran hinunterfließen, Efeu rankte um einen Erker, auf der Sonnenseite rundete sich das Dach eines Pavillons aus dem Flieder, und etliche hochgewachsene Bäume gaben dem Ganzen den Anschein eines zwischen die Mauern eingesetzten Parkes.

Da hinaus nahm Markus in einem der unteren Flure seine Stube. Die Wirtin händigte ihm einen gewaltigen Schlüssel ein, der draußen zu dem Pförtlein gehörte und eine ganze Tasche füllte, und ließ ihn allein in dem kühlen, geräumigen Gelaß. Dessen Decke war noch mit barockem Stuck beziert. Die Sonne spielte durch das Blattwerk herein auf dem weißen, von schwarzgebohnten Fliesen durchzogenen Boden. Die polierten Birnbaummöbel eines ziemlich verbrauchten Väterhausrats standen merkwürdig klein an den hohen breiten Wänden, und die Napoleonsstiche hingen dort verlassen, daß ihm die Melancholie ihres Stoffes stark wie noch nie zum Bewußtsein kam.

Mitten auf den runden Tisch in der Mitte stellte er seinen Geigenkasten. Mit kostbarem Nachdruck eine kurze Weile die Hand darauf liegen lassend, besann er sich. Schließlich, seine Worte ebenso kostbar genießend, sagte er: Wenn's Abend ist!

Dann packte er aus, füllte den Bücherschaft, brachte hier und dort als Schmuck eine liebe Habseligkeit an und staffierte mit den Bildern seiner Dichter eine Ecke, mit den Bildern seiner Musiker eine andere Ecke aus. Die Wirtin meldete sich dann und wann neugierig oder hilfsbereit und schaute seiner feierlich-heiteren Hantierung zu. Als er gerade unter ein schon dastehendes, schwarzgesichtiges, in Seide, Sammet und Gold gekleidetes Marienbild eine nackte griechische Gipsgöttin auf die Kommode stellte, fragte sie schüchtern, ob sie nicht die Mutter Gottes wegnehmen solle. Als er lachend antwortete, die zwei paßten ihm recht gut zusammen, erschrak sie wie an einem Frevel, schlüpfte aus der Tür und kam nicht wieder.

Wie es inzwischen Abend geworden war und ein Überblick das Werk der Einrichtung wohl befand, holte Markus die Geige aus dem Kasten. Das Sonnenspiel war dieweil auch aus der Stube geglitten. Doch lag das Licht jetzt nur voller in den Bäumen und an den Wänden des Hofes.

Er bereitete sich zum Spiel wie zu einer frommen Handlung. So zog er den ersten Ton. Der stieg rein und rund aus dem Instrument; die Stube nahm ihn auf und dann draußen der Hof. Markus mußte ergriffen nachhorchen, wie der Ton schöner und größer wurde, sich klingend wölbte und langsam wieder schwand. Er mußte sich erst erinnern, daß das von ihm und seiner Geige gekommen, daß nicht die Stube und der Hof es geboren und gebracht.

Dann spielte er ein Lied, dann Bach, Mozart, Schumann, kaum wissend, wie alles sich gab, und trunken, als rieselten die Melodien zum erstenmal so, ganz neu vertraut unter seinem Bogen hervor. Und sie wurden draußen schöner und größer, als wären die Stube und der Hof ein weites lauschendes Herz, das die Klänge, goldener gefüllt, mit einem wunderbaren Mund wieder hereintrüge.

Trat er einmal ans Fenster, sah er aus den Fenstern der drei anderen Hofwände da und dort einen selbstvergessenen Zuhörer im verbleichenden Schimmer sitzen. Und eine süße Scham bedrängte ihn.

Die Nacht lag er noch lang im Bett wach. Im Hof rauschte es leis, und kommend, schwindend wirkte der Mond darin. Markus' Seele erfüllten helle Gefühle, die eine bedeutsame Erweiterung und Wendung des Lebens anzusagen schienen, aber ihn nur seltsamer beschäftigten, als sie sich mit den unausgesprochenen dunklen Wirkungen der geschickebeladenen Umgebung mischten.

* * *

Froher Kräfte voll verging der nächste Tag. Markus lief zur Bibliothek und richtete sich mit Büchern gleich auf die Erkundung der Historien ein, durch deren Farben und Geister er sein Quartier zu beleben und zu bevölkern gedachte. Im Gehör, oder tiefer, unter dem Schallboden des Unbewußten, trug er fortan einen Grundklang, den Klang seines Hofes, der überall mitschwang, wenn in ihm etwas angenehm aufwehte. Den Klang seines Lebens.

Abends spielte er wieder die Geige. Zuerst den Ton, dann ein Lied, dann Bach, Mozart, Schumann. Und wieder nahmen die Stube und der Hof das Spiel wunderbar auf, füllten es und gaben es ihm schön und groß zurück.

Auf einmal, wie er mitten drin, gerade an Mozart, an einem goldfädigen Gespinst war, hörte er von irgendher ein Klavier einfallen. Zuerst kaum hörbar Fühlung suchend, dann bestimmter, bis das Gegenspiel mit dem eigenen Spiel zusammenwuchs, oder nein, in einem leichten Nachschlag, wie eine Antwort, mit den draußen gefüllten Klängen seiner Geige aus dem Hof hereinkam.

Markus erschrak wohl heimlich an dem neuen Vorgang, doch das Wirrsal verführte und bestrickte ihn unvermerkt, also daß er nur inniger sich hingab und wärmer den Bogen zog. Beim Einsatz eines Stückes hielt er jeweils im Takt an, dem Genossen aufs Geleit zu helfen; zwischen hindurch horchte er dann wieder halb hin, sich selber in die Spielweise des anderen hineinzustimmen, als zarte Gegenantwort an das sinnige Begegnis. Er hütete sich, vorlaut zu werden, und war über die Maßen beglückt, wenn der Zwieklang der Geige und des Klaviers draußen im Hof ganz verschmolz.

Trat er einmal ans Fenster, wie am Abend zuvor, sah er an den Fenstern der drei anderen Wände wieder da und dort einen selbstvergessenen Zuhörer im verbleichenden Schimmer sitzen. Jetzt war, beinahe plötzlich nach dem zuerst halb traumhaften Genuß, die Lust in ihm wach geworden, zu wissen, woher das Klavierspiel kam. An keinem der Fenster ließ sich's erraten. Nur weil ein paar Blicke der stummen Zuhörer drübenher von ihm die Mauer hinaufgingen, und weil er nun auch der Schallwirkung des Doppelspiels gedachte, setzte er fest, daß die Quelle des reizvollen Erlebnisses um drei oder vier Fenster links ab über seiner Stube sich finden lassen müßte.

Auch diese Nacht lag er noch lang im Bett wach, bis das angeglühte Blut im Glanz eines guten Schlafes ruhig ward. Wenn die Schaukel anmutiger Träume ihn entließ, ging er ans Fenster. Es war wieder der Mond, der den Hof verzauberte. Und der Zustand einer unbestimmten Verliebtheit entzündete Markus, also daß diese, Anblick und Stimmung sinnig verknüpfenden Verse entstanden:

An den Mond

Wie fließt dein holdes Himmelslicht
Voll süßer Schwermut in die Nacht!
Das kommt, weil manch ein Angesicht
In seiner Einsamkeit noch wacht.
Aus unbekannten Kammern hin
Weit in das Unbekannte frägt,
Und so viel Liebe ohne Sinn
In still zerstreute Träume trägt.

 … Denn das am Abend war gewiß eine … Frau, ein schönes … Mädchen, mit einer … zärtlichen Seele. Es mochte eine … Sehnsucht in der Seele sich regen, die aber doch … gesund und wohlgeschaffen sein mußte. Er kostete auf diese vorweg gemachte Entdeckung hin das musikalische Wechselspiel, das ihm jetzt aus dem Hof erinnernd wieder auferstand, immer und immer wieder prüfend nach. Seine unverbrauchte, gern dichterlich aufblühende Phantasie entriegelte ihm das holdeste Abenteuer.

Markus segnete inständig seinen Einzug in dies Haus der freundlichen Überraschungen.

* * *

Am Morgen bestätigte ihm die Wirtin, im Haus wohne, links oben, im dritten Stockwerk eine Familie Rauch. Das Fräulein spiele Klavier. Weiter frug er nicht. Denn er wollte das Geheimnis, hinter dem sein Glück stehen mußte, selber entschleiern. Eine Stunde später stand er schon im Haus, links oben, im dritten Stockwerk an der Glastür. Unter dem Klingelknopf auf dem Porzellanplättchen las er das Wort »Rauch«. Das kleine, stille, vornehme Wort brachte gleich wieder seine zum Anflug offene Vorstellungswelt in Bewegung. Das leichte, ungreifbare Gebilde stieg vor ihm auf, wie es uns immer aufsteigt, wenn wir an den Frieden, an die Heimat, oder an ein schönes, unbekanntes Ziel denken.

Wenn er jetzt den Klingelknopf zöge, was würde dann wohl geschehen?

Er zog ihn nicht, sondern schob sich scheu wieder die Stiege hinunter. Und so machte er es die kommenden Tage, wenn er dort abpaßte, ob nicht aus dem Zufall ihm das erhoffte liebe Angesicht erscheinen wolle.

Die nächsten Abende, Abend um Abend, spielte er dafür die Geige, und Abend um Abend spielte die fremde Freundin das Klavier. Auch was im Anfang nur stockend gelungen, floß jetzt zusammen, wie wenn die Spieler schon jahrelang ihrer Kunst vertraut beieinander stünden. Eine magische Fernwirkung schien hergestellt, daß die beiden sich kaum einmal mehr suchen und treffen mußten. Aus dem Hin und Her war ein kleiner Schatz von Lieblingssachen herausgesammelt, die immer wieder aufgereiht wurden, ja Markus leitete mit vergnüglichem Geschick die Auslese so, daß mehr und mehr die Liebe, das Ich und Du zum Stoff der Zwiesprache wurde. So etwa zu dem Lied hin:

Dein Angesicht so lieb und schön.
Das hab' ich jüngst im Traum gesehn …

Die Gefährtin ging bald traurig, bald froh darauf ein, ihm damit nur eine größere Not bereitend, seine Entzückungen zu einem Bild ihrer Gestalt und ihres Wesens zu formen. Jetzt war sie blond, jetzt dunkel von Haar; jetzt hatte sie blaue, jetzt braune Augen; jetzt, wenn ihr Klavier wehmütig oder versonnen sprach, lagen schlanke, blasse Hände auf den Tasten; jetzt, wenn der Kobold sich kichernd rührte, wurden die Hände klein, fest, leicht rosig.

So führte und verführte der goldene Nebel, der goldene … Rauch, in dessen Schwebe der Erzträumer gar ganz nun hing, Markus in den Zustand einer schmerzlich süßen überschwänglichen Ungeduld hinein.

* * *

Nach einer Woche etwa bekam er durch die Frühpost ein Billett, darauf Fräulein Ottilie Rauch den Herrn Markus Baldein zum Abend mit seiner Geige ins Haus, links oben, drittes Stockwerk, einlud. Kurz, ohne Drum und Dran einlud. Das weiße Billett war nicht mit Wohlriechendem getränkt, wie sonst von Frauenzimmerhänden, und trug in offener, kräftiger Schrift den Wunsch vor.

Der Herzstrom blieb in ihm stehen unter diesem Einschlag des Glückes. Er hörte die Uhr an der Wand und in seiner Tasche gehen. Dann aber ergoß sich ein warmes Licht in ihm, daß kein Gedanke und kein Gefühl den Tag über mehr einen Halt behielten. Die Geige nahm er ein dutzendmal aus dem Kasten, probierte sie liebevoll, und es wurde ihm zumute wie einem Schüler, der auf die Rampe soll.

Sorgfältig schwarz gekleidet, zum erstenmal mit einer teuer gekauften weißen Nelke im Knopfloch, zog er abends links oben im Haus, drittes Stockwerk, unter dem Porzellanplättchen »Rauch«, den Klingelknopf.

Eine Magd öffnete, half ihm ablegen, führte ihn an eine Zimmertüre und klinkte auch diese auf.

Aus einer großen Helligkeit, die vom Hof her abendlich durch die Fenster strömte, sah Markus eine Dame freien Schrittes auf sich zukommen, die Hand frank zum Gruß bereit: »Herr Markus Baldein, wir kennen uns schon. Seien Sie mir willkommen!«

Und nach dem Handschlag drehte sich die Dame halb zurück in das Licht hinein: »Sehen Sie, auch unser Hof schickt Ihnen gleich seinen Gruß. Das ist gewiß seine Freude, auf so schöne, seltsame Art uns zwei einander gebracht zu haben?«

Markus erschrak ein wenig, als die Dame mit dem Gesicht zur offenen Schau stand. Das war kein junges Mädchen, wie er, der Abenteurer, es zu finden erwartet hatte. Und so brach denn im Augenblick wohl das schimmernde Gewebe seiner Einbildungen vor ihm ab. Arge Verlegenheit trieb ihm zu Herz und Kopf, denn eine stumme Minute sagte ihm, daß die Dame verstanden hatte.

Aber Fräulein Ottilie Rauch gab ihm noch einmal die Hand, und noch einmal die Augen ernst nach ihm aufschlagend und wie tröstend die Stimme durchwärmend grüßte sie ihn: »Willkommen, Herr Markus Baldein!«

»Jawohl, ich bin herzlich gern gekommen.«

Sie sollte die Antwort als Abbitte hinnehmen, und sein Händedruck ward fester, als je vordem einer Frau gegenüber.

Etwa vierzig Jahre alt war Fräulein Ottilie Rauch. Aber keine von unzufriedenem Blut verbrannte und von ergebnislosen weiblichen Seelenbemühungen versäuerte Jungfrau. Sie stand da, eine wohlgeformte, wohlausgeglichene Person, die manches erlitten haben mochte, aber ihr Dasein doch wieder sich aufgehellt und erwärmt hatte, also daß sie von diesem Licht und dieser Wärme nun gar still um sich abgab. Sie war von der selten bewahrten Mischung des Mädchens, das unberührt zur Frau geworden ist und in der Reife den Duft nicht verloren hat. Die ihm gleich hohe, ebenmäßige, leicht gerundete Gestalt ließ ruhend die Gewohnheit erkennen, im Schatten nachdenklicher Stunden zu stehen, und gewann in der Bewegung die melodische Gebärde derer, die edlen Inhalt in den Schalen ihres inneren Tagwerks tragen. Das Haar schlichtete sich braun und voll um das zu einer hohen klaren Schönheit erschlossene, noch kaum von der Verwitterung angegriffene Gesicht, darin blaue Augen ruhig und tief sprachen. Das dunkelrote Kleid erhob die Erscheinung vornehm zur Herrin in dem hellen Raum.

Noch einmal mußte Markus die Abbitte ob der unreifen Entgleisung seiner Jünglingsphantasie in sich wiederholen. Indes fühlte er an dem Frauenbild vor ihm auch seine Gefühle wohltätig befreit und wertvoller emporwachsen. Er wußte, daß ihm da etwas Schöneres und Würdigeres ins Leben getreten.

Und wieder eine stumme Minute sagte ihm, daß auch sie wußte, wie er sich in ihre gute Macht begeben.

»Wie freundlich es hier ist, wie viel heller als bei mir unten!«

Sein Blick in die Stube herum hob die letzte Decke der Spannung auseinander.

»Ich wohne auch höher, unter dem Dachstock und, sehen Sie, über unserem Hof.«

Da war auch ihre bis jetzt unbewegte Gruppe gelöst. Das Fräulein ging ihm durch den Lichtweg voran in eine Fensternische hinein.

»Unser Hof von oben …«

Markus staunte, von jeder Entdeckung der Überschau froh bewegt. Sie standen mit den Kronen der Bäume gleich hoch, drunten zogen die sandgelben Rabattenwege ein ins Viereck des ganzen Hofes eingezeichnetes Bogenornament, in der Mitte die geranienbesetzte Brunnenschale und die Trauerweide umfassend. Vom Fliederpavillon sah er das ganze runde schwarze Pappdach, auch sah er nebenan in das Seitenfensterlein des Erkers, darin eine fromme Inwohnerin einen Altar mit einer silbernen Ampel eingerichtet hatte. Ob dem Fenster lief rings um die Mauer die Dachtraufe und das große alte Ziegeldach. Darüber aber öffnete sich der blaue Himmel, und roterglühte Wolken schwammen hin.

»Ja, ich bin zu Ihnen herauf gekommen!«

Sie stand im Abglanz der roterglühten Wolken. Eine Antwort gab sie nicht auf das schöne Wort, das wieder in die Stille sank.

»Und da kommt auch einer unserer Gäste.«

Er wies hinüber an ein Fenster, wo ein Greisengesicht sich angenehm überrascht nach ihnen umschaute.

»Ja,« nahm sie das Zeichen munter auf, »jetzt wollen wir spielen. Unser Hof wartet schon.«

Also stund Markus Baldein neben Fräulein Ottilie Rauch am Klavier. Jetzt sah er auch ihre Hände, wie sie sich zum Anschlag bereiteten. Es waren schlanke, gepflegte Hände, aber fest, leicht rosig, und ohne Ring; von den Händen, wie er sie in der Einbildung gesehen, das geeinte Wandelspiel. Aus der schweren, runden Flechtenkrone stieg ein leichter, frischer Hauch zu ihm auf.

Sie spielten. Zuerst den Ton. Der stieg rein und rund aus den Instrumenten. Die Stube nahm ihn auf und dann draußen der Hof. Sie mußten ergriffen nachhorchen, wie der Ton schöner und größer wurde, sich klingend wölbte und langsam verschwand. Nur heller, bedünkte es Markus, verlief das kleine Wunder. Heller und höher, wie die Stube oben gegen die seine drunten war.

Dann spielten sie, ohne davon zu sprechen, den Schatz ihrer Lieblingssachen. Und alles nahmen die Stube und der Hof wunderbar auf, füllten es und gaben es schön und groß zurück.

Sie verstrickten sich in die Stunde; ihr Zusammenspiel geriet allgemach in höhere Färbung und in leise Brände, bis sie auf einmal an der unausgesprochenen Bemerkung einhielten, daß sie, wie vordem aus der Entfernung, mit ihren Lieblingssachen auch wieder das ganze Repetitorium ihrer Liebeszwiesprache heraufgespielt hatten.

Fräulein Ottilie durchschnitt rasch die ungelegene Stille, stand auf und wies nach einem kleinen Tisch, der, freundlich gedeckt, ein Abendbrot trug.

»Sie haben doch auch Hunger, Herr Markus?«

Indes sie noch einiges zurichtete und den Teekessel anzündete, schaute er sich in der Stube um. Da war, wie bei ihm, die Decke mit barockem Stuck beziert. Da waren auch die polierten Birnbaummöbel eines Väterhausrats; von den Eltern selig, wie sie dazwischenwarf. Doch waren sie liebevoll gehalten und mit feinem Porzellan, Dosen, Vasen, Figürchen, Miniaturen, mit sonstigem Zierat altmodischer Herkunft allenthalben bestellt. Da Markus den behaglichen Anregungen, die aus solch treu gepflegter Umgebung auf ihn wirkten, unwillkürlich Ausdruck gab, meinte sie: »Ja, das ist so bei uns alten Mädchen. Wir haben das Leben versäumt und müssen nun mit unseren Toten uns einrichten.«

Er wußte nichts zu sagen, so ergriff ihn die still und fein scherzhaft gesprochene Antwort.

Gerade kam er in seiner Umschau an die Bilder. Das waren Stiche, wie sie in diesen traulichen Raum, zu diesen Möbeln und diesen Herzenssachen paßten: Lotte, die den Kindern Brot schneidet, Schwinds Mädchen, das den Morgenladen seines Stübchens aufschlägt, ein paar heroische Landschaften, ein Schäferspiel, auch Goethe und Beethoven. An einer Wand aber hingen vier gezeichnete Blätter.

»Unser Hof!« frohlockte Markus.

»Ja, unser Hof! Ich habe mich an seinen Geheimnissen auch auf solche Art versucht … Allein, es war nicht die rechte Art. Erst unser Spiel ist's dann geworden.«

In der Ecke hing noch ein Blatt, gleichfalls und gewiß auch von Fräulein Ottilie gezeichnet. Das Bildnis eines jungen Mannes, eines Studenten offenbar, mit kräftigem Gesicht, freier Stirn und unternehmendem Auge. Das Blatt mochte nach einer älteren Photographie wiedergegeben sein.

Darunter am Rand, im Schatten der Ecke nur bei näherer Hinsicht zu lesen, war in ihrer Handschrift folgender Vierzeiler beigeschrieben:

Resignation

Auch mir goß wohl das Leid genug
In meines Lebens dunklen Krug.
Da der gefüllt zum Rand hinan,
Steht es und schaut mich lächelnd an.

Er schwieg tief betroffen unter der jähen Erkenntnis, daß das Bildnis und der seltsame Vers das Schicksal der Freundin bergen mußten. So abseits in die Ecke gerückt, waren sie doch in der Stube der ernste waltende Mittelpunkt. Und wie Markus nun im Weitergehen vor dem gedeckten Tisch anlangte, schien es, als beschäftigte Ottilie sich tiefer und heimlich erregt mit den Tassen. Von ihm bemerkt richtete sie sich aber mit einem Ruck empor.

»Bitte!«

Es war wieder ihre kräftige Überlegenheit, aufgekommenes Gewölk zu verscheuchen und Freiluft in die Unterhaltung zu bringen.

Beim Essen erzählte er aus seinem Dasein. Unter der feinen Sorgsamkeit ihrer Bewirtung blühte seine sonst karge Redegabe farbig auf. So sprach er von seiner Heimat, seinen Studien, seiner Musik, seinen Dichtern. Auch von dem Haus und dem Hof, die ihnen nun eine solch romantische Begegnung geschenkt, vermochte er aus den alten Büchern und Faszikeln der Bibliothek manches zu plaudern.

»So lieb ist Ihnen das Dach schon geworden?«

Wie immer machte ihn die anmutig abgewogene Bemerkung glücklich, und er wog sie sich noch einmal in ihrer zarten Doppelbedeutung ab. – Sie wußte bereits vieles von den durch ihn beschworenen Hausgeistern, wußte anderes dazu, darunter ein paar artige Frauengeschichten. Am Ende bekannte sie sich als die letzte Tochter der letzten Stammfamilie. Nachdem ihr Vater, der Magistratsrat gewesen, gestorben und der Besitz zum Verkauf gekommen war, hatte sie sich in die heimatlichen Mauern eingemietet.

»So gehöre ich also dazu und habe den Erzählungen dieses Hauses wohl nur noch ein stilles, friedliches Endkapitel anzufügen.«

Auch diese Nacht lag Markus noch lang im Bett wach. In ungewöhnt entbundenen Gefühlen und mild überstrahlt von der reinen, reifen Kraft dieses vornehmen Frauenwesens. Er freute sich, daß er in keiner schulmäßigen Liebesaffäre mit irgendeinem jungen Mädchen gelandet war. Er kam sich selber um schöne, reife Jahre über seine Welt hinausgewachsen vor und sah seine Wege weiter und heller ins Ferne gehen.

Schließlich aber stand er im Kreislauf der Träumereien noch einmal droben in der Ecke vor dem Bildnis und dem Vers. Doch aus der Bedrückung keimte es bald wie eine frohe Hoffnung hervor, hier könnte sich vielleicht eine ritterliche Pflicht hoher Art für ihn finden.

Sie spielten nun manchen Abend oben zusammen und nannten sich gute Freunde. Er unterstellte sich ganz ihrer Huld und ihrem Dienst und kam sich am Ende gar nicht verirrt vor, als er, der Vierundzwanzigjährige, sich eingestand, daß die Vierzigjährige sein Blut in süße Unruhe bringe.

Nur eben das Bildnis und der Vers im Schatten der Ecke beschatteten diese Einsicht immer wieder mit ihrer unbestimmten Schwermut. Ottilie hatte noch nie davon gesprochen, und das machte die dunkeln Gewichte der unbekannten Geschehnisse nicht leichter. Er mied die Ecke, während sonst jedes Ding der Stube ihm vertraut und gesprächsweis mit hübschen Beziehungen umsponnen wurde.

Indes glaubte er zu beobachten, auch Ottilie nähere sich ihm mit ihren innigeren Gedanken und habe ihr Wohlgefallen an seiner zärtlicheren Ergebenheit. Sie ließ es zu, wenn er in das Zusammenspiel wieder die seit jenem Tag ihrer Entdeckung ausgeschalteten Liebeslaute einschmeichelte, schaute ihn oft groß und traumhaft an und errötete, wenn er sie lobte. Sie bot ihm die Aufsicht über seine Wäsche an, kaufte ihm nicht nur mehr ein Buch oder Noten, sondern etwa auch eine Krawatte. Zog mit ihm an einem schönen Tag hinaus aufs Wandern, wurde fröhlich wie eine Pfingstbraut, erstaunte sich an den blühenden Wiesen, jauchzte den weißen Wolken nach, trieb verträumten Singsang, gab ihm an der Quelle aus dem von ihr angetrunkenen Becher zu trinken, ohne auszugießen und frisch zu füllen, saß neben ihm unterm Schatten einer Buche und legte ihre Hand auf die seine. Und von dieser Hand rann es dann durch seinen Körper hin, bis er davon unaussprechlich trunken ward.

Nach der Heimkehr von solch einer Wanderung holte er aus seiner Tischschublade die Handschrift einer seiner Hofgeschichten vor. Die hatte er im Rausch der Tage geschrieben, da Ottilie und er noch getrennt spielten. Der Held war ein junger Scholar, sein eigenes Ebenbild um ein paar hundert Jahre zurückgemalt; die Dame der Geschichte ein junges Patrizierfräulein, so wie damals die fremde Spielerin ihm hätte entgegentreten sollen.

Jetzt änderte er die Handschrift ab. Der Schauplatz blieb, der junge Scholar blieb. Nur das Patrizierfräulein färbte sich älter, genau zwiefach so alt, aber keineswegs geringer. Denn es wurde … Ottilie daraus, und der Schreiber erwies sich in der Ausschmückung ihrer adeligen Figur als ein rechter Lobpreiser. Um deutlich genug an die Wirklichkeit zu kommen, legte er auch in das Leben der also konterfeiten Vorgängerin den Schatten eines Herzensgeschicks, diesen Schatten wiederum dem Scholaren zur Auflichtung überlassend.

Die Geschichte las er am anderen Abend, genau drei Wochen nach dem ersten Abend, der Freundin vor. Zaghaft und stockend, bis er sich von der feierlich beschwingten Liebeserklärung seines gelehrten Fürsprechs und der goldenen Erfüllung der erzählten Dinge emportragen ließ.

Als er das Heft der losen Blätter zuklappte, mußte er mit seinem Tüchlein die Stirn wischen. Dann schaute er Ottilie an. Sie saß mit halbgeschlossenen Augen und leicht errötetem Angesicht tief in ihrem Lehnstuhl, von hinten her in eine schimmernde Hülle des Lichtes genommen, das wie am ersten Abend aus dem Hof in die Stube floß.

Diesmal entstand eine lange Stille, und alles versank ringsum weg. Als die Stille so abgeschlossen war, daß man sie hörte, erhob sich Ottilie aus der Hülle des Lichtes, wie aus einer Hülle von Gedanken.

»Markus, Sie sind ein guter Mensch, ich danke Ihnen von Herzen!«

Wieder, wie am ersten Tag, streckte sie ihm die Hand entgegen. Sonst geschah nichts. Er wurde durch das unerwartete Ausbleiben einer nachdrücklicheren Wirkung unsicher und verabschiedete sich bald.

»Morgen wollen wir wieder einmal getrennt spielen. Und dann kommen Sie zum Abendbrot noch herauf!«

An der Tür gab sie ihm die Bitte mit. Und dann gab sie ihm, einem plötzlichen Antrieb folgend, einen ruhigen Kuß auf den Mund.

* * *

Ein schöner, schmerzlicher Zwiespalt drängte sich die Nacht und den Tag in Markus herum. Vom Ja zum Nein, vom Nein zum Ja schossen die aufgestörten Gedanken hin und her, die er sich aus Ottiliens ungreifbarem Verhalten zu gestalten suchte. Alles blieb verschüttet.

Und als er zur Stunde seine Geige nahm, war er in eine elegische Trauer verfallen, und ein Schleier verhaltener Rührung hing ihm vor den Augen.

Wie etwas Lebendiges drückte er das braune Kästlein, daß es ihm seine Not klagen helfe.

Mit dem Beginn des Spieles fiel auch die Antwort von oben her. Doch anders, stärker als sonst. Markus hielt ein, er glaubte an eine Schwäche seiner schwimmenden Empfindungen. Aber wieder kam's beim Einsatz mit. Oben wurde zu … vier Händen gespielt. Ganz deutlich zu vier Händen. Der eine Mitspieler schleppte nach, daß das Zusammenspiel sich daran beschwerte und auch der Hof kein gerundetes Echo fand. – Der neue Zufall ging Markus schlimm ans Herz. Da droben spottete man seiner?? Nach zwei mühseligen Versuchen legte er die Geige weg und setzte sich, ein Häuflein zweiflerischen Elends, dazu hin.

Das Klavier indes hob jetzt allein an. Wieder zu vier Händen. Das aber geschah ihm nicht zu leid! Das kam wie ein Trost, wie eine Einladung, sanften Drängens voll.

Wie durch einen rettenden Anruf gezogen, faßte Markus seine absonderlich zerschmolzenen Stimmungen zusammen und ging hinauf.

Ottilie kam ihm entgegen mit ihrem vertrauten, warmen Handdruck. Am Klavier aber saß, im hellen Kleid, erwartend in die Stube gekehrt ein zweites Frauengeschöpf.

»Herr Markus Baldein – Fräulein Beate Schöndank.«

Der erste Eindruck faltete sich in Markus verletzt und feindselig auf. Er spürte einen Angriff, einen Eindringling. Schmerzhaft, kalt und klar sah er's, daß Ottilie den Zuwachs herbeigeführt hatte, um dahinter von ihm zurückzuweichen …

Das Gefühl, einer geliebten Person entwertet zu sein, zog den Boden unter ihm weg.

Karg und linkisch suchte er sich in der Rüstung solcher Abwehr zu halten, als Fräulein Beate Schöndank ihn mit einem lauteren, wohltemperierten Mädchenanstand wie einen Menschen begrüßte, für den man schon vor der Bekanntschaft angeregt ist.

Ottilie hatte zuerst die beiden mit einer weichen, weiten Bewegung ihrer Arme zusammengeführt. Jetzt sagte sie, angelegentlicher als sonst die fremde Kühle von dem Augenblick zu streifen: »Markus, es ist meiner verstorbenen Schwester Kind … und mein Kind.«

Wie zu einer Bitte und Fürbitte dämpfte sich der Schmelz ihrer Stimme. Dazu nahm sie das Mädchen in den Arm, drückte es an sich und legte die freie Hand wie zur Hut auf seinen Kopf.

Markus hätte weinen mögen, so löste ihn der Anblick auf:

Ottilie hielt ihr verjüngtes Widerspiel an sich geborgen.

So führt manchmal eine der seltenen schönen Mütter eine schöne Tochter als ihr Abbild in ihrem Schutz. Wir geraten daran in die Irre, ob der Tochter oder der Mutter unsere zärtlich berührten Wünsche sich zuwenden.

Das helle Mullkleid floß neben dem dunkeln Tuchgewand Ottiliens nieder, die Fülle eines unbewußt gereiften Leibes in seinen Flaum hüllend. In den Schoß hingen, noch kindlich gefaltet, die Hände. Der Mädchenkopf schmiegte sich über die Schulter der Schirmerin hin. Leicht in natürlichem Ungebaren, und eine Mischung lichter, wellte sich das Haar der Jüngeren in die heute noch schlichter als vordem gelegten Flechten der Älteren. Beatens Gesicht war nur das frischbelebte, vom ersten Jungfernhauch betaute Gesicht Ottiliens. Wie man ein Gesicht durch zwei, drei gute Spiegel hindurch stiller und entfärbter sieht, wie dafür aber durch solche Abrückung das zweite Gesicht, das Gesicht der Seele sich merkwürdig enthüllt, wie ein Gesicht zum … Antlitz wird, so erkannte Markus plötzlich den Weg, den seine geliebte Freundin vor Beaten her schon tief ins Leben gemacht hatte. Auch die beiden schönen, blauen Augenpaare holten ihren Glanz aus verschieden beschatteten Brunnen.

Beim Essen hielt Ottilie Beate an ihrer Seite. Die Unterhaltung lief verlegen an Fragen und Antworten hin und blieb dann wieder wie an Knoten hängen. Markus vermochte sich den Abend nicht mehr aus der Welle der ineinander schwankenden Gefühle zu helfen. Er blieb trotz der Wirtin getreuesten Bemühungen gegen Beate ein unbequemer Fremdling. – Die Nacht in seinem Bett weinte er bitterlich vor Kummer und Scham und weinte sich in schwül geplagten Schlaf …

* * *

Am anderen Abend spielten sie droben miteinander.

Beate war verschüchtert zusammengefaßt und kam nur langsam aus dem Gehäus einer träumeligen Trägheit heraus. Markus versuchte dann und wann sein ungeschlachtes Gebaren von gestern durch eine knappe, ziemlich ungeschickte Höflichkeit um einiges aufzuheben. Nur Ottilie streute Behagen aus.

Beim Spielen setzte sie sich zur unteren Hand. Markus kam so neben Beate zu stehen. Das Mädchen, dünkte ihm zunächst wieder, schlage in das alte, edle Gewebe ihrer Kunst mit der unbedachten Hand der Schülerin. Aber er kränkte sich nicht daran, sondern führte die eifrig Erglühte an mancher leisen Anweisung. Und jetzt stieg wiederum aus dem Haar unter ihm ein flüchtiger Wohlgeruch zu ihm auf; jetzt sah er ihre Hände, wiederum Ottiliens jugendlichere Hände, in lieblichem Fleiß; sah er den freien, durchgesonnten Hals mit einer Korallenschnur darum; sah er das luftige Kleid mit den verborgenen Brüstlein auf- und abgehen, und in der Wirkung des Spieles ward ihm, als ob das ganze atmende Geschöpf in dem leichten Gewebe wie in seinem eigenen Daseinsduft säße.

Zwischenhinein hielt auch Ottilie wohl einmal an: »Beate, hörst du, unser Hof!«

Das war dann jedesmal ein feierlicher Augenblick, und Beate antwortete staunend, wenn es wieder still geworden: »Ja, jetzt ist's, wie wenn noch jemand da wäre.«

So von einer unbekannten Hand zusammengeführt, traten sie dann zu dreien ans Fenster und sahen drüben ihre stummen Zuhörer im verbleichenden Schimmer sitzen.

Ottilie ward fortan nur noch die Wegbereiterin für den guten Fortgang ihres Mittlerwerkes. Sie zog die zwei Leutchen in den Lichtgürtel ihrer feinen Güte hinein und leitete derweile Markus mit seinen Aufmerksamkeiten sänftlich in Beatens Umkreis über. Sie erzählte dem einen einen liebenswerten Zug, eine anziehende Anekdote von des anderen Art; schmückte Beate in Markus' Gegenwart mit einer Blume; zeichnete das Paar auf ein Blatt; hielt beide am Klavier, dann auch am Tisch, bei der Vorlesung, auf der Wanderung, bei der Rast unter einem Baum nebeneinander; hieß sie ihre »Kinder«; plauderte mit ihnen aus der Fensternische in den Hof hinein, führte sie zusammengedrängt an den Schrankspiegel: »Laßt euch beschauen!« und lachte leis zwischen die verlegenen Köpfe hindurch: »Wen seht ihr da noch?«

Dann warf sich Beate etwa mit aller Mädcheninbrunst zurück an ihren Hals.

Unter solch milder Gewalt Ottiliens und wohl auch auf dem Weg der wahlverwandten Jugendkräfte glitt Markus allgemach und schmerzloser, als er sich selber verzieh, in Beatens Zauberzirkel hinüber, der anher von dem Mädchen aus im absichtslosen, sicheren Gang der Natur um ihn sich schloß. Ottiliens Schützlinge blühten und blätterten herzlich und gesund gegeneinander auf. Aus dem stillen, großen und doch heiteren Heldenwesen der Beschützerin wirkte darüber die Weihe eines auserkorenen Vorgangs. Jede Liebesäußerung der »Kinder« wurde eine Huldigung für die »Mutter«. Der Hof aber entrückte die drei Menschen mit ihren Geschehnissen ganz in seinen umfriedeten Schauplatz.

* * *

Eines Samstags, es waren wieder nur drei Wochen verflossen, fand Markus die Freundinnen in liebreicher Geschäftigkeit, ein altes, lichtrotes Kleid aus Ottiliens Schrank für Beate zurechtzumachen. Die Idylle entzückte ihn. Er setzte sich ans Klavier und spielte das Lied vom roten Sarafan an. Und sie sangen, ein wenig sentimental angefärbt, dann vom bekannten Inhalt doch bedeutsam überrascht, zu dreien mit:

»Näh' nicht, liebes Mütterlein,
Am roten Sarafan.
Nutzlos wird die Arbeit sein,
Drum strenge dich nicht an.

Tochter setz dich nieder
An meiner Seite hier.
Jugend kommt nicht wieder,
Wich sie einmal von dir!

Daß am Sarafan ich näh',
Heißt mich Erinnerung.
Wenn ich dich drin tanzen seh'.
Werd' ich auch wieder jung.«

Am Sonntag zum Mittagessen empfing ihn Beate in der schönen Pracht, etwas schwerer und ernster als sonst in ihrem Kinderduft, ein wärmeres Inkarnat auf dem Gesicht und einen tieferen Schimmer in den Augen. Die Hand, die sie Markus gab, zitterte. Er selber spürte alle Brunnen seiner Seele strömen. Ottilie aber ging beinahe feierlich bewegt in der gütigen hohen Anmut, die seit Beatens Dasein um sie gewachsen war.

Es war ein Sonnentag. Der Hof lag in leuchtender Stille, und die Stube war wie ein aufgeschlossenes Nebengemach des Hofes.

Markus saß wieder neben Beate. Ottilie sorgte von der Gegenseite her um sie. Der Tisch war zu einem bescheidenen Festmahl bereit. Es gab Wein. Bei den Tellern der Jungen lag je eine rote Rose, bei dem Teller Ottiliens eine weiße Rose. Eine weiße Rose steckte auch hinten im Schatten der Ecke an dem Bildnis. Markus hatte sie alsbald gesehen, aber nicht darum gefragt. Denn auch bisher war nie von dem Bildnis gesprochen worden.

Und wie bei einem Festmahl stand Ottilie zwischen hinein auf und hielt mit halb tief bewegter, halb froh erhobener Stimme eine wahrhaftige kleine Rede:

»Meine lieben Kinder!

So soll es also sein! Ihr werdet einander gehören, und ich werde ganz eure Mutter sein. Markus, dir danke ich, daß du mit deinem guten, jungen Leben bereit warst, meinem Leben noch einen freundlichen Spätsommer zu schenken. Es ist einem vierzigjährigen Frauenzimmer schön und schmeichelnd, solches an sich zu erfahren. Du bist mein Mitwisser, wie ich mich beschieden. Dafür bin ich nun eine ordentliche Gelegenheitsmacherin geworden und habe zusammengeführt, was zusammengehört, weil es im Frühling steht. Beate wird dir alles geben, was deiner Einbildung an mir teuer erscheinen konnte, denn ich habe sie für dich zu meiner Tochter gemacht. Das Kleid, in dem Beate heute bei dir sitzt, hab' ich einmal, damals an meinem schönsten Tag getragen und seither durch die Jahre unerfüllter Hoffnungen kostbar aufgehoben. Wenigstens die Hülle jener verblichenen Stunde. Jetzt wird meiner Schwester, wirst du, mein Kind, darin glücklich werden.

Wenn ich dich drin tanzen seh,
Werd ich auch wieder jung …

Und just am End, ist das nun nicht eine anmutige, gerechte Geschichte, die ich aus meiner Altjungfernstube in unseren Hof hinaus vollends verträumen kann? Du aber, Markus Baldein, unser gewogener Dichter, kannst die andere Geschichte, die du mir an jenem gefährlichen Abend vorgelesen hast, uns dieweil noch einmal vorlesen. Aber du magst sie zuvor in ihren vormaligen Zustand zurückversetzen, insoweit das Alter des angenehmen Frauenzimmers in Betracht steht, dem sich der wackere Scholar zum Kavalier erkoren.«

Ottilie zog unter ihrem Teller ein Blatt hervor, entfaltete es und gab es über den Tisch. Markus hatte das mit den bekannten Änderungen durchsetzte Blatt offenbar bei jenem glühenden Abgang aus seinem Heft verloren.

»Wenn ich das Blatt damals nicht gefunden hätte? Wer weiß, was dann …?? Aber jetzt, Kinder, sollt ihr euch lieben, und sollt leben!«

Es dauerte eine Weile, bis drüben die Gläser sich hoben. Denn Beate und Markus saßen Hand in Hand, und ihre Augen wehrten sich vergeblich gegen die Tränen.

Als die Gläser klangen, horchten die drei Menschen auf:

» Unser Hof


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