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Die Geschwister Noël

. Unser schwäbisch-landsmännischer Studentenzirkel hatte in München seinen Stammtisch in einem Café, neben dem auch ein Varieté betrieben wurde.

Auf dessen Singspielbühne waren für den Dezember die Geschwister Noël engagiert. Zwei Schwestern, die nicht recht in ihre Umgebung zu passen schienen, denn sie standen schlicht und prunklos in dem hellen Rampenlicht, wie wenn sie in einem dilettierenden Familienabend eben zusammen vom Tisch aufgestanden wären, etwas vorzutragen. Sie waren auch nicht schön, aber sie schienen noch die frische Luft unverbrauchter Jungfernschaft mit sich herumzutragen auf diesem ausgesetzten Boden. Sie spielten beide die Geige, in einer seltsamen, weich phantastischen und oft ergreifenden Doppelführung. Und sie sangen sehr schön. Ihre zwei Stimmen waren vertraut ineinander gestimmt; sie hatten unter der Decke ihrer Schwingungen etwas Gemeinsames, wie man es hin und wieder bei Geschwisterstimmen findet, etwas vom Mutterschoß her; oder die Mutter mußte den Kindern gesungen haben. Sie sangen sentimentale, volkstümliche Lieder, etwa mit solchen Texten:

... Und wer das Rauschen will verstehn,
Der muß im Wald zu zweien gehn.

Im Mund anderer Varieté-Sängerinnen wird das Kitsch werden. Die Geschwister Noël rührten damit auch die anspruchsvollsten Zuhörer und wurden die erklärten Lieblinge des Monats. Sie wurden gerufen, Blumen flogen ihnen zu, und Kränze wurden hinaufgestellt.

* * *

Die »Artisten« saßen nachmittags im Café zwei Tische neben unserem Studententisch. Da gab's manches Hin und Her, auch mit den jeweiligen Damen.

Eines Mittags, nachdem die Tische sich schon geleert, rückten die beiden Nachbarschaften zufällig so zusammen, daß unser Joseph Feuerlein neben die jüngere Noël zu sitzen kam.

Das gab keine einfache Sache, denn Joseph Feuerlein war auch unser arger Frischling, für den es noch keine »Weiber« gab.

Wir hatten ihn gern und zogen ihn alle auf. Kaum saß er, sich diskret vorstellend und mit ein paar sorgfältigen Zügen den Rock zurecht richtend, dort, da patzte auch schon einer von uns heraus: »Ah, Fräulein Else, sehen Sie, das ist der Joseph Feuerlein, der dichtet und ist noch – unschuldig!«

Der Spaß schlug anders ein, als sein Lieferant erwartet hatte. Joseph Feuerlein, der sonst tapfer jeden Ulk ertrug, saß grob getroffen da, peinlich aufgedeckt und schalenlos; dann aber sammelte er sich, stand auf und richtete sich hoch, und offenbar zu einer sehr ernsten, offiziellen Antwort gegen den anderen hin.

Aber auch Fräulein Else Noël stand neben ihm auf und drängte ihn mit einem sachten Druck auf die Schulter wieder in seinen Stuhl zurück.

»Da hat Herr Joseph Feuerlein all meine Hochachtung für sich!« sagte sie bestimmt über den Tisch hinüber.

Es kam zu keiner weiteren Auseinandersetzung; der Eingriff des Mädchens imponierte.

Und Joseph Feuerlein saß den ganzen Mittag bei Fräulein Else Noël im warmen Gnadenlicht.

* * *

Dann wurde eine schwere Liebesgeschichte daraus. Wir konnten allerdings nur die Randerscheinungen beobachten, die aber darauf schließen ließen, daß den zweien die Angelegenheit tief ging.

Rührend war er als Kavalier. Er stammte aus einer Landstadt, hatte wenig Geld und darum auch eine wenig aufgefaltete Lebensart, deren höfliche Bemühungen sich nur karg gaben. In unseren Augen enthielten sich denn die beiden aller besonderen Aufmerksamkeiten und sprachen im Tischgespräch mit. Aber man spürte doch, wie sie in einer Atmosphäre zärtlichen Einverständnisses wohlabgegrenzt und ganz unter sich saßen. Und Joseph Feuerlein saß wie ein Wächter, wo irgendwie der absolute Respekt in Anbetracht seiner Dame gefährdet werden könnte.

Fräulein Else trug einen Schmuck am Hals, einen schönen, dunkelblauen Stein in alter Silberfassung. Ein mütterliches Erbstück, sagte sie. Der Schmuck war am dritten Tag ersetzt durch ein kleines Gehäng dünner, gelber Münzen, die in einem Kettenfiligran baumelten. Bei hausierenden Bulgaren war es für drei Mark zu kaufen. Nun trug das mit aller stillen, feinen Frauenkunst gekleidete Mädchen immer nur das billige Messinggehäng auf der dunkeln Seide ihrer Bluse. Mittags am Tisch und abends auf der Bühne. Und seine Augen glänzten stolz das einzige öffentliche Zeichen seiner und ihrer Liebe an.

Es war auch die einzige finanzielle Anstrengung, die Else dem Freund für sich zugestand, nachdem er den gewichtigen Kauf heimlich schon vollzogen hatte. Dann und wann nahm sie noch eine Blume, die sie in den Gürtel steckte.

Auch nachts, nach den Vorstellungen, kamen die beiden zusammen; die Schwester war dabei und ein anderer feiner Kerl aus unserer Runde, den sich Fräulein Gerda Noël, die etwas weltläufiger Veranlagte, als angenehmen Gesellschafter zugetan hatte. Da gab's nach einem bescheidenen Trunk in einer Weinstube jeweils noch einen kalten Mondscheinspaziergang, und die Geschwister Noël verabschiedeten im Hausflur ihrer Wohnung die Begleiter.

Der Fritz Maier sagte nun nach solch einer empfindsamen Promenade dem Joseph Feuerlein, die Schwester habe ihm erzählt, daß die Else noch nie eine ernstliche Liebesaffäre gehabt habe und also zu ihm passe.

Joseph Feuerlein hörte das als selbstverständlich an. Aber am anderen Tag ließ er unter uns den Wunsch fallen, zu wissen, wie man das Studium an den Nagel hängen und dafür einen rasch einträglichen Beruf eintauschen könne. Der Gedanke überraschte an diesem esoterisch wandelnden, mit intellektuellen Problemen beladenen Jüngling merkwürdig gegenständlich. Es bedurfte keiner weiteren Bekenntnisse mehr, uns darüber zu orientieren, was da fertig lag.

* * *

In der Neujahrsnacht reisten die Geschwister Noël. Wir fanden in der Frühe den Gebliebenen im fidelen Silvesterlärm des »Luitpold« allein bei einer Flasche Selters. Er mußte geweint haben und war von unserem Kommen nicht angenehm betroffen.

Wir waren bekneipt. Es ging bald mit groben Späßen hin und her, und auch dem Joseph Feuerlein wurde ein Floh ins Ohr gesetzt über dies und das an der Else Noël. Er regte sich nicht auf, sondern ging mit einem kurzen Gruß.

Ein paar Tage sah man ihn nicht; als er wieder ins Café kam, wurde gerade auch wieder breit und klebrig verhandelt, ob »Eine vom Varieté« wirklich noch Jungfrau sein könne.

Man müsse den armen Jungen kurieren, meinte ein Gutmütiger, und die nächsten vierzehn Tage lief das Interesse des Stammtischs raffiniert grausam darauf zusammen, den Traum einer beneidenswert schönen Liebesgeschichte langsam aber sicher zu zersetzen.

Der weiche Phantast erwies sich nicht widerstandsfähig genug und gab dem brutalen Experiment so auch noch den Schein eines ersprießlichen Rettungsversuchs.

Nach vierzehn Tagen hatte man's ihm tropfenweis beigebracht.

Er war elend und mürb geworden, und spürte vielleicht selber, daß er auch uns gegenüber sich schwächlich preisgegeben hatte. Er blieb weg und ließ sich nicht holen.

Aus Köln kamen anfangs noch Briefe an ihn; dann blieben auch die aus.

* * *

Nach Jahren traf ich neulich Joseph Feuerlein wieder. Er sitzt als Landarzt daheim in Schwaben, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist ein guter Arzt und wird als der Freund seiner Bauern geliebt. Man sieht ihm an, daß ihm das Leben eine milde, durchscheinende Sache geworden ist.

Wider Willen kamen wir auf dem Weg der Erinnerungen auch an die Geschwister Noël. Ich hatte als Genosse jenes Münchner Caféstammtisches kein gutes Gewissen, und schon manchmal war mir's gekommen, wie schlimm wir damals auf einem feinen Menschenerlebnis herumgetreten waren. Aber nun kam es doch auch zu einer erleichternden Beichte.

Er wurde stark ergriffen und antwortete stockend, mehr vor sich selber hin: »Das weiß ich schon lange, daß ihr mich betrogt. Später, als es zu spät war, hab' ich ganz von selber gefunden, welch traurigen Patron ihr aus mir gemacht habt … Es ist furchtbar, wie ich das liebe Mädchen mit einem kalten Griff in die Einsamkeit hinausgehängt habe und seitdem nicht weiß, wohin sie hinuntergefallen ist …«

Nach einer stillen, schweren Pause fing noch einmal seine Stimme zerbrochen an: »Oh, was für rührende Briefe schrieb sie mir …

Ich hab' ihr nicht geantwortet. Nur zuletzt hab' ich die kleine Photographie, die sie mir geschenkt hatte, zerrissen und ihr die Fetzen in einem Briefumschlag geschickt …

Seitdem schrieb sie nicht mehr …«


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