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Was wir gewöhnlich in den chinesischen Romanen, die bis zu uns dringen, kennenlernen, sind: kleinfüßige Prinzessinnen, blaustrümpfige Turandots, die in der Lyrik brillieren, ehe der gleichfalls lyrisch bewanderte, aber auch körperkräftige Mandarin sie endlich schnappt. Dieser befreit gewöhnlich ein kaiserliches Heer (unter der Führung des Vaters seiner Liebsten) aus der Zernierung und bekommt zum Lohn dafür seine lyrische Korrespondentin; zum Lohn aber seiner kindlichen Pietät heiratet der glückliche und jugendliche Bigamist gleichzeitig ein Bäslein, mit dem ihn sein Vater, ohne ihn zu fragen, nur weil sie die Tochter eines verarmten Jugendfreundes ist, verlobt hatte. Solche Doppelhochzeit ist der Wunschtraum jedes chinesischen Roman-Literaten, der zu diesem Zweck in den Schulen der Weisheit von der Pike auf büffelt. Die sentimentale Tripelallianz wird natürlich unter der Patronanz des Drachenkaisers geschlossen und der Leser meist mit der Aussicht entlassen, daß sich das glückliche Trifolium bis ans Lebensende wacker andichten wird.
Abneigung gegen den penetranten Zuckerguß derartiger Süßspeisen trieb mein Interesse für chinesische Epik in minder ätherische Gegenden – von der langweiligen Apotheose des Dutzendliteraten weg in die Regionen der Volksromane. Unter diesen ist Chui-Hu-Chuan: »Insel im Fluß«, der beliebteste. Im Lauf der Jahrhunderte haben Milliarden von Chinesen diesen Räuberroman gelesen. Oder gehört, wenn die Straßenerzähler diese Lieblingsdichtung des Volkes zum besten gaben. Von dem Dichter – Chi Nai Ngan – weiß man nur den Namen und daß er im 13. Jahrhundert lebte. In dieser Zeit mongolischer Fremdherrschaft ward der ins Gras Gefallene, der Held auf Fluß und See: der »Räuber«, des Dichters Ideal, beispielsweise ein Michael Kohlhaas wie Wu Sung, der über die Fratzen bestechlicher, käuflicher oder geradezu zeitgenössisch befangener Richter hinweg sich sein Faustrecht nahm. Beamtenspuk und Ritterlichkeit der Räuber, Männerstärke und Weiberlist sind die kontrastierenden Ingredienzien des Romans, der, romantisch und realistisch, das wilde Leben des niederen Volkes nicht ohne grausamen Humor, nicht ohne groteske Tragik spiegelt, nicht ohne okkultistischen Brei Gespenster im Straßenstaub waten läßt. Die Helden der siebzig Kapitel des Romans: 108 Räuber sind dies schicksalsmäßig – zur Erde gefallene Himmelssterne, sadistische Dämonen, meteorisch hinschießend über irdische Bahn.
Ta Ko An, einem der deutschen Sprache kundigen chinesischen Literaten, verdanke ich eine wörtliche Übersetzung des allzu umfangreichen, in fast einhundertundvierzig Episoden zerflatternden Werkes, aus dem, unter Beibehaltung des charakteristisch Chinesischen: des folkloristisch, sittengeschichtlich wichtigen Details, ein zusammenhängendes, für Europäer lesenswertes Kunstwerk zu gestalten von mir versucht wurde. Ob mir dies Kunststück gelang, ob über einen kulturhistorisch interessanten und doch »spannenden« Abenteurerroman hinaus eine einfache Dichtung entstand?
Die Lösung dieses Problems erleichterte ich mir, indem ich die in einem alten Jahrgang der »Zeitschrift der Morgenländischen Gesellschaft« fragmentarisch verdeutschte, Leben und Sterben eines armen chinesischen Dorfmagisters schildernde Novelle aus dem »Hausschatz« (einem chinesischen Schatzkästlein) nicht nur zur Erfindung und Konstruktion einer »Handlung« benützte.
Es blieb mir eben nicht erspart, den Bluttaten des »Helden« Wu Sung ein Gegengewicht, einen metaphysischen Überbau geben zu müssen.
Kleinere Probestücke aus dem im Original größtenteils um das Liang-schan-Moor (eine gebirgumlagerte große Räuberinsel) spielenden Roman gaben bereits Maximilian Kern (wörtlicher) und Hans Rudelsberger (flüchtiger) Inzwischen (1934) erschien im Insel-Verlag, Leipzig, eine vollständigere Übersetzung von Franz Kuhn unter dem Titel »Die Räuber vom Liang-schan-Moor«.. Ich versuchte, durch radikale Vereinfachung der Geschehnisse und die in Mythen gang und gäbe Zuschreibung und Konzentration der Taten mehrerer auf eine heroische Hauptfigur der Arbeit eine Einheit zu geben, die sie im Original noch nicht besitzt. Wenn aber, wie zu erwarten steht, Ta Ko An meine Bearbeitung ins Chinesische übertragen wird, könnte auch dieser Sinologenwunsch in Erfüllung gehen.
Von chinesischer Dichtung allerdings werden einem hellhörigen Leser meine Nachdichtungen chinesischer Lyrik einen tieferen Begriff geben. Dafür aber ist dieser Roman volksmäßiger mit seinen Räubern und Soldaten, Beamten und Dattelhändlern, Bohnenpuffer- und Birnenverkäufern, Magistern und Fleischhauern, Gouverneuren und Bütteln, Richtern und Tigern, Kupplerinnen und schuldlosen Opfern, lüsternen Bonzen und Asketen, Vegetariern und Kannibalen.
Hinter den mordrot phosphoreszierenden Irrlichtern des Menschensumpfes ringt der Geist mit dem gefangenen Menschenfleisch, über den Blutfarben des allzu irdischen, allzu rohen Piratenlebens spannt sich, türmt sich ein fast versöhnlicher Regenbogen bis in den Himmel.