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2

Tiger

Es war noch ziemlich weit zur Stadt; vom vielen Laufen im Sonnenbrand fühlte Wu Sung Durst und Hunger. Gegen Mittag erspähte er von fern ein Wirtshaus, als Kennzeichen hing eine Fahne draußen. Auf der Fahne stand triumphierend der Vers: »Nach drei Bechern kann niemand über den Berg.« Er ging hinein, setzte sich, legte seinen Stock hin: »Wirt! Bringen Sie schnell etwas Wein zum Trinken.«

Der Wirt brachte drei Becher, Eßstäbchen, einen Teller mit Gemüse, stellte alles vor Wu hin, aus einer Kanne goß er den ersten Becher voll. Wu Sung trank den Wein auf einen Zug aus, lobte: »Der Wein hat richtige Kraft! Wirt, haben Sie auch was Gutes zum Essen?«

Der dienerte: »Ich habe Ochsenfleisch gekocht!«

Wu: »Ausgezeichnet! Bringen Sie ein wenig, zwei oder drei Pfund, her.«

Der Wirt ging in die Küche, brachte zwei Pfund gut gekochtes Ochsenfleisch auf einem großen Teller und goß aus der Kanne den zweiten Becher voll. Wu Sung trank ihn wieder in gierigen Zügen auf einmal leer, schmunzelte: »Guter Wein! Guter Wein!«

Der Wirt goß den dritten Becher voll, und Wu Sung aß das Fleisch und trank den Wein dazu. Der Wirt kam nicht wieder zum Vorschein. Wu klopfte auf den Tisch: »Wirt! Warum kommen Sie nicht, mir noch Wein zu geben?«

Wirt: »Wenn der Herr noch mehr Fleisch möchte, können wir ihm mehr bringen.«

Wu Sung: »Ich verlange mehr Wein; aber Sie können mir auch noch Fleisch geben.«

Der Wirt: »Fleisch können wir Ihnen noch geben, aber keinen Wein mehr.«

Wu Sung: »Das ist doch komisch! Warum?«

Der Wirt: »Haben Sie nicht die Fahne vor meiner Tür gesehen? Darauf steht doch groß und deutlich geschrieben: Nach drei Bechern kann niemand über den Berg.«

Wu: »Was soll das heißen?«

Der Wirt: »Unser Wein ist nur Landwein; aber besser als berühmter alter Wein. Wenn die Gäste zu mir kommen und ihre drei Becher Wein trinken, werden sie gleich betrunken und können nicht mehr über den Berg kriechen, deswegen heißt es: Nach drei Bechern kann niemand über den Berg! Wenn die Wanderer drei Becher getrunken haben, fragen sie nicht nach mehr.«

Wu Sung lachte: »Wieso? Ich habe doch drei Becher getrunken, warum bin ich immer noch klar?«

Der Wirt: »Zuerst geht der Wein in den Mund und ist rein und angenehm; aber später müssen Sie vor Trunkenheit hinfallen. Unser Wein heißt ›Guter Geruch durch die Flasche‹; außerdem heißt er ›Vor der Tür niederfallen‹!«

Wu: »Ich aber heiße: Mehr Wein! Sie brauchen nicht soviel zu erzählen! Ich zahle, was ich trinke; gießen Sie mir noch drei Becher ein!«

Der Wirt sah: der Gast hatte drei Becher getrunken, und man merkte ihm nichts an, so goß er ihm wieder drei Becher ein. Wu trank und sagte: »Das ist sehr guter Wein! Wirt, ich trink viele Becher und geb' Ihnen das Geld, gießen Sie mehr ein.«

»Mein Herr, Sie dürfen nicht zuviel trinken, der Wein kann die Leute wirklich betrunken machen. Es gibt kein Mittel, Sie aus der Trunkenheit zu befreien!«

Wu Sung: »Erzählen Sie keine Romane! Wenn Sie in den Wein ein Schlafmittel getan haben, hab' ich noch meine Nase, es zu riechen.«

Der Wirt gab nach und schenkte Wu noch drei Becher Wein ein, und Wu Sung bestellte noch drei Pfund Fleisch. Als der Wirt das Ochsenfleisch brachte, hatte Wu den Wein schon ausgetrunken und verlangte noch drei Becher. Wu schmeckte es gut, und er wollte immer mehr essen und trinken. Er nahm Silber aus der Tasche, legte es auf den Tisch und rief dem Wirt zu: »Wirt, kommen Sie, gucken Sie mein Geld an, reicht es für meine Rechnung?!«

Der antwortete: »Ja, es genügt, ich muß Ihnen sogar noch einige Münzen zurückgeben.«

Wu Sung: »Sie brauchen mir nichts zurückzugeben, gießen Sie mir mehr Wein ein.«

»Mein Herr, wenn Sie noch Wein trinken möchten, hab' ich noch fünf oder sechs Becher da! Aber ich fürchte, Sie können nicht mehr vertragen.«

Wu ließ ihn den Wein bringen. Der Wirt mahnte: »Sie sind ein schwerer Mann; wenn Sie auf die Erde fallen, wer kann Sie hochheben?«

Wu: »Wenn ich Ihre Hilfe brauchte, wär' ich nicht gerade ein Held.«

Der Wirt plauderte viel mit ihm, gab ihm aber keinen Wein mehr. Wu Sung wurde ungeduldig und schrie: »Ich trinke doch nicht umsonst! Sie brauchen mich nicht böse zu machen, sonst werfe ich Ihr ganzes Weinhaus entzwei. Sie werden sich im Weinfaß wiederfinden!« Der Wirt sprach zu sich: Der Kerl ist betrunken, ich werd' ihn lieber nicht ärgern. Er goß ihm wieder sechs Becher ein, und bald hatte Wu Sung alles in allem achtzehn Becher getrunken.

Wu nahm seinen Stock zur Hand, stand auf und sagte: »Ich bin doch nicht betrunken.«

Er lief vor die Tür und lachte: »Verlogene Fahne! Nach drei Bechern kann niemand über den Berg gehen? Gar nicht wahr!«

Als er ging, eilte der Wirt ihm nach und rief: »Mein Herr, wohin wollen Sie gehen?«

Wu drehte sich um, schaute ihn groß an: »Warum rufen Sie mich? Hab' ich meine Rechnung nicht bezahlt?«

Der Wirt: »Das schon! Aber was ich jetzt sage, kommt aus gutem Herzen. Kehren Sie um, und lesen Sie bei mir die Abschrift der amtlichen Warnung.«

Wu: »Was steht denn drin?«

Der Wirt: »Jetzt gibt es im Ching-Yang-Gebirge ein großes Tier mit weißer Stirn und wild hervorstehenden Augen. Jeden Abend kommt das Tier aus dem Wald, Menschen fressen! Zwanzig oder mehr Erwachsene hat es schon verschlungen. Viele Jäger haben vergebens versucht, das Tier zu fangen, haben von den Beamten gewaltige Schläge bekommen, weil es ihnen nicht gelang. An jedem Bergweg klebt die amtliche Warnung. Es dürfen die Leute nur während der drei Mittagsstunden über den Berg gehen, zu keiner anderen Zeit. Keiner darf allein gehen, immer nur eine größere Gesellschaft. Jetzt ist gerade die schlechteste Zeit. Ich sah, daß Sie allein hinüber wollen und niemand fragen. Sie werden Ihr Leben verlieren! Am besten, Sie übernachten bei mir, und morgen mittag, wenn sich mehr Leute gesammelt haben, gehen Sie.«

Wu Sung lachte: »Ich bin aus der Stadt Chin Hê, an diesem Berg ging ich über zwanzigmal vorbei und habe nie gehört, daß es hier einen Tiger gibt. Mit Ihrer Feiglingssprache werden Sie mir keinen Schreck einjagen – wenn es irgendwo so ein Tier gibt, ich habe keine Furcht!«

»Ich habe nur die gute Absicht, Sie zu warnen. Wenn Sie es nicht glauben, kommen Sie, und lesen Sie selber die Warnung.«

»Reden Sie nicht soviel Unsinn! Wenn es überhaupt einen Tiger gibt – Ihr Großvater hat keine Angst! Sie möchten, daß ich bei Ihnen übernachte, damit Sie mir mitternachts Geld und Leben nehmen können. Ihre Absicht ist nur, mich mit einem solchen Vogeltier zu erschrecken, damit ich bei Ihnen bleibe.«

Der Wirt stöhnte: »Ich meinte es gut, und Sie haben das mißverstanden! Wenn Sie mir nicht glauben wollen – bitte, gehen Sie weiter!« Und schlich kopfschüttelnd ins Weinhaus zurück.

Wu Sung hielt seinen Stock fest in der Hand und ging mit großen Schritten durch dick und dünn. Als er am Fuße des Berges ankam, sah er einen Baum, dem die Rinde abgezogen war; auf dem weißen Holz stand etwas geschrieben. Wu konnte einige Worte lesen, hob seinen Kopf und entzifferte langsam die Zeichen: »Jetzt gibt es auf dem Berg einen großen, menschenfressenden Tiger. Wanderer dürfen bei Lebensgefahr nur während der drei Stunden der Mittagszeit truppweise hinübergehen.« Wu Sung las das und lachte. »Das ist so ein Wirtshausschwindel. Der Wirt will nur den Leuten einen Schreck einjagen, damit sie bei ihm übernachten. Ich habe keine Angst!«

Er stieg aufwärts. Der Abendwind kam, und die rote Sonne versank im Berg. Wu hatte viel getrunken, weinfroh schritt er den steilen Pfad hinan. Als er einen Li weiter war, sah er einen alten Tempel, an der Mauer klebte ein Schreiben mit amtlichen Siegeln. Wu las:

»Schreiben des Staates Yang Gu. Es gibt hier auf dem Ching-Yang-Berg ein großes Tier, es hat mehreren Leuten das Leben genommen. Die Vorsteher und Jäger der umliegenden Dörfer sind vom Staate bei Strafe beauftragt worden, den Tiger zu fangen; haben ihn aber nicht gefangen. Wanderer und Kaufleute dürfen nur während der drei Mittagsstunden in Scharen über den Berg, zu anderer Zeit dürfen sie es nicht wagen, bei Lebensgefahr! Hiermit sollen alle Bürger und Vorübergehenden aufmerksam gemacht werden.«

Wu Sung hatte das Schreiben gelesen und wußte nun, daß es in Wahrheit hier einen menschenfressenden Tiger gab. Schon wollte er sich umdrehen und wieder zum Weinhaus zurückgehen, weitere drei Becher zu trinken, als ihm einfiel: Wenn ich zurückgehe, wird er mich auslachen, und ich kann mich, wenn ich umkehre, nie wieder einen Helden nennen. Er überlegte ein Weilchen: Keine Angst! Ich werde weitersteigen und mal sehen. Den Filzhut hängte er in den Nacken, den Stock klemmte er unter den Arm. Langsam, einen Schritt nach dem anderen setzend, ging er aufwärts. Die Sonne war verschwunden. Es war im zehnten Monat, der Tag kurz, die Nacht lang; es wurde früh dunkel. Er sprach zu sich: Was? Ein großer Tiger? Man hat nur einander Angst eingejagt und fürchtet sich nun, über einen harmlosen Hügel zu gehen.

Beim Laufen stieg ihm der starke Wein zu Kopf, er öffnete seinen Mantel, sich abzukühlen. In seiner Trunkenheit wankte er hin und her, an einem Wald vorbei. Er sah einen großen, schwarzen Felsblock, lehnte seinen Stock hin und wollte auf dem runden Stein schlafen. Plötzlich kam von weitem ein starker Windstoß – als der sich gelegt hatte, hörte er irgendwo im Wald Zweige knacken, wie unter einem dahineilenden Tier.

Auf einmal sprang ein Tiger mit weißer Stirn und groß hervorstehenden Augen aus dem Wald. Wu schrie »Hu!« und rutschte den schwarzen Felsblock hinunter. Er stellte sich nebenhin und packte den Stock fester. Der Tiger hatte Hunger und Durst; mit seinen Vorderpfoten schlug er einige Male auf die Erde und sprang mit dem ganzen Körper hoch. Wu Sung schien es, als ob der Tiger vom Himmel herabspränge. Ihn befiel ein jäher Schreck – der Wein lief ihm als kalter Schweiß über die Stirn. Doch blieb er gelenkig, drehte sich schnell, so daß er hinter den Tiger zu stehen kam. Der Tiger konnte mit seinem kurzen, dicken Hals nicht gut hinter sich sehen, sprang mit dem Hinterleib hoch und wollte Wu so niederschlagen. Wu wich schnell zur Seite, und der Tiger traf ihn nicht. Als der Tiger merkte, daß er nichts erreicht hatte, knurrte er vor Wut so laut, daß der Berg ein wildes Echo donnerte. Sein Schwanz war stark wie ein Eisenstock, er schlug damit um sich; aber er traf Wu Sung nicht. Des Tigers Wut ward kälter, er wurde ruhiger, schnaubte und drehte sich wieder um. Wu Sung nahm die Gelegenheit wahr, packte den Stock fest und hieb mit ganzer Kraft von oben nach unten, um das Tier zu erschlagen. Er hörte das Rauschen der Blätter eines Baumes, und Zweige fielen zu ihm nieder. Er guckte und sah, daß er nicht den Tiger getroffen, sondern einen Baum mit seinem Stock so zerschlagen hatte, daß auch sein Stock in der Mitte entzweibrach.

Der Tiger sprang wieder auf ihn zu – er mußte schnell zurückweichen. Die Vordertatzen waren schon vor seinem Gesicht. Er warf den halben Stock fort, und mit den zwei Händen packte er schnell den Tiger im Genickfell und drückte ihn nieder. Der wollte sich befreien; aber Wu Sung hielt ihn mit eherner Kraft umspannt, daß sich das Tier nicht rühren konnte. Mit dem Fuß stieß er dem Tiger ins Maul. Der Tiger kratzte vor Schmerz mit seinen Hinterpranken die Erde hoch, daß ein Loch entstand. Wu drückte des Tigers Schnauze ins Loch, nach einigen Minuten konnte das Tier sich nicht mehr bewegen. Mit der rechten Hand ließ Wu den Tiger los und hielt ihn nur mit der Linken. Dann schlug er mit der rechten Faust, hart wie mit einem Eisenhammer, auf den Schädel des Tigers. Dem Tiger lief Blut aus Nase, Mund und Ohr, betäubt konnte er keine Bewegung mehr machen, nur noch schwach atmen.

Wu Sung ließ ihn los, suchte seinen halben Stock und schlug, da er annahm, der Tiger sei noch nicht ganz tot, mit dem Knüppel so lange auf das Tier los, bis kein Atem mehr aus der Schnauze kam. Ich werde den toten Tiger von hier ins Tal tragen, dachte er, versuchte den Tiger aus dem Blute zu heben; aber er konnte nicht mehr, seine Kraft war schon verbraucht, Hände und Füße matt. Er setzte sich auf den schwarzen Stein, um ein bißchen auszuruhen, und dachte: Es ist sehr dunkel, wenn noch ein großer Tiger hervorspringt, wie kann ich mit ihm kämpfen? Am besten, ich gehe jetzt ins Tal und hol' morgen den toten Tiger.

Er suchte seinen Hut und seine Sachen zusammen und lief langsam bergab. Halben Weges sah er aus dem Gras zwei Tiger hervorkommen, bekam einen Schreck, stöhnte: Das ist zuviel! Diesmal bin ich erledigt! Aber die zwei Tiger sprangen nicht auf, sondern richteten sich nur hoch. Als Wu genauer hinsah, merkte er, daß es zwei Menschen waren, die hatten ein Tigerfell zusammengenäht und so fest auf den Körper getan, daß sie von fern wie Tiger aussahen. In der Hand hielt jeder eine eiserne Waffe, ähnlich einer Gabel. Als die zwei Wu Sung sahen, erschraken sie und riefen:

»Sie – – – Sie – – – haben das Herz des Panthers und die Beine des Löwen gegessen, und Ihre Galle ist größer als Ihr Körper. Wie können Sie allein in der Nacht ohne Waffen über den Berg gehen? Sie – – – Sie – – – Sie – – – sind Sie ein Mensch? Oder ein Teufel?«

Wu: »Wer sind Sie beide?«

Sie stotterten: »Wir sind hier die Jäger.«

Wu: »Was wollt ihr Jägerchen hier auf dem Berg tun?«

Die beiden erzählten ihm, hier auf dem Berg lebe ein Tiger, der jede Nacht herkomme, Menschen zu fressen. »Der höchste Beamte hat uns den Auftrag gegeben, das Tier zu töten; aber der Tiger ist zu groß, wir dürfen ihm nicht zu nahe kommen. Seinetwegen haben wir oft Hiebe erhalten; aber wir konnten ihn nie fangen. Heute nacht haben wir Dienst, wir haben uns mit noch ein paar Leuten versteckt, Selbstschüsse gelegt und warten hier auf den großen Tiger. Eben sahen wir, daß Sie mit großer Ruhe vom Berg herabkamen, deswegen staunen wir. Wer sind Sie, haben Sie den großen Tiger gesehen?«

Wu Sung: »Ich bin aus der Stadt Ching Hê. Mein Familienname ist Wu. Eben spazierte ich auf dem Berg in der Nähe des Waldes und habe den unvorsichtigen Tiger getroffen. Ich hab' ihn einfach totgeschlagen!«

Die beiden Jägerchen hörten das, öffneten ihren Mund so weit, ihre Augen wurden so groß, als wären sie plötzlich dumm geworden. Sie blökten: »Das ist nicht wahr!«

Wu: »Wenn Sie mir nicht glauben wollen, blicken Sie auf meine Hände und Kleider, alles ist voll Tigerblut.«

Er erzählte den beiden sein Abenteuer. Die staunten und freuten sich zugleich. Sie pfiffen: über zehn Bauern, mit eisernen Waffen in den Händen, sprangen herbei.

Wu Sung: »Sie haben so viel Leute! Warum wachen die nicht auf dem Berg?«

Die Jäger stutzten: »Der Tiger ist zu groß, wie können wir uns auf den Berg wagen?«

Wu: »Wenn Ihr zu feig' seid, zu glauben, daß man einen lebenden Tiger töten kann, kommt mit mir, das tote Vieh ansehen.«

Ein paar Bauern rieben Feuersteine, wickelten Stroh zu Fackeln zusammen und stiegen mit Wu Sung bergan, sahen den Tiger tot daliegen. Alle freuten sich, und einer mußte zum Vorsteher des Dorfes gehen und es melden. Die anderen fesselten den toten Tiger, trugen ihn abwärts. Am Fuß des Berges warteten schon viele Leute, es sah aus wie ein Festzug. Voran ward der tote Tiger auf einem Brett, hinterhin Wu Sung in einer Sänfte getragen, sie brachten ihn zu einem Reichen. Der Vorsteher und die Ältesten empfingen ihn vor dem Dorf und schleppten den toten Tiger in eine Strohhütte. Edelleute, Reiche und Jäger kamen, besuchten Wu Sung und fragten ihn aus, Wu Sung erzählte alles, und alle sagten im Chor: »Sie sind wirklich ein Held!« Jedermann wollte ihn bewirten, aber Wu war todmüde und wollte schlafen. Die Reichen brachten ihn ins Gastzimmer und ließen ihn dort übernachten.

Aber Wu konnte lange nicht einschlafen – noch war seine überreizte Seele erfüllt von Tigern: von dem Tiger, den er getötet, von dem Wein, den er getrunken, von dem Schreck, dem er erlegen. Und der Tiger der Nacht war über ihm – er träumte unruhigen Herzens von einem alten, strengen Amtsvorsteher, der ihm den Auftrag gab, den Tiger des Gebirges zu töten. Sofort legte er Pfeile und Armbrust zurecht und nahm alle brauchbaren Waffen mit. Er hüllte sich in ein Leopardenfell, packte eine eiserne, gabelartige Waffe und stieg ins Gebirge. Überall versteckte er Fallen, den Tiger zu fangen, dann kletterte er auf einen großen Baum, wartete den ganzen Tag – aber es fing sich nichts. Voll Ungeduld sprach er zu sich: Ich habe den Auftrag, innerhalb eines Tages drei Tiger zu fangen, wenn es später wird, gibt es Unannehmlichkeiten, was soll Wu Sung beginnen?

Es kam die Nacht, und er wurde müde und betrübt und schlief ein unter den großen, schweren Wolken. Plötzlich hörte er Zähne knirschen: eine Fangmaschine schnappte zu; er sprang sofort auf, um nachzuschauen. Und sah, daß ein Tiger, von einem giftgetränkten Pfeil getroffen, auf dem Gras umherkollerte. Als der große Tiger merkte, daß jemand ihm nahe kam, sprang er hoch in den Himmel und rannte mit dem Pfeil weiter.

Wu lief ihm nach. Mit dem Steilerwerden des Berges begann die Kraft des Giftes zu wirken, der Tiger konnte es nicht mehr ertragen, knurrte wild und rollte bergab. Wu Sung sprach zu sich: Ich kenne hier das Gebirge, es ist der Garten des alten Herrn Mao. Er stieg ins Dorf und klopfte an des alten Herrn Mao Tor. Vor Tagesgrauen ward das Tor geöffnet und er dem alten Herrn gemeldet. Er legte die Waffen nieder, grüßte: »Alter Onkel, wir haben uns schon lange nicht gesehen, heute komme ich her, Sie zu begrüßen und zu stören.«

Mao entgegnete in höflichem, aber entschiedenem Ton: »Guter Neffe, ehe wir in aller Frühe weiter über Ihre Tat reden, müssen Sie Ihrer Mutter melden, daß Sie endlich einen Tiger getötet haben.«

Da fiel es ihm aufs Herz, daß er seine Mutter schon lange nicht besucht hatte. Sein Schwert packend, ging er stumm seines Weges. Gegen Nachmittag war er zu Haus. Er ging sofort ins Zimmer und hörte seine Mutter, die auf dem Bett saß, fragen:

»Wer ist hereingekommen?«

Wu Sung sah, daß seine Mutter auf beiden Augen blind war. Sie saß auf dem Bett und betete. Wu:

»Mutter! Wu Sung ist nach Hause gekommen!«

Da antwortete die Mutter: »Mein Kind! Wo warst du so lange? Dein schwacher Bruder arbeitet bei einem armen Bauern als Knecht. Was er verdient, ist nicht für ihn genug, er kann die alte Mutter nicht ernähren. Ich denke sehr oft an dich, habe so viel geweint, daß aus meinen Augen keine Tränen mehr kommen und ich blind wurde. Wie ist es dir in diesen Jahren ergangen?«

Er sprach: »Wu Sung hat einen Tiger getötet und ist jetzt Beamter geworden, Ich komme nach Hause, Mutter in ein besseres Land zu holen!«

Sie sagte: »Das wäre sehr gut, aber wie können wir denn fortgehen?«

Wu: »Ich werde dich auf dem Rücken tragen, bis ich einen Wagen finde.«

Die Mutter: »Warte, bis dein Bruder nach Hause kommt, dann können wir weitersprechen.«

Wu: »Wir brauchen nicht zu warten, ich kann sofort mit Mutter weggehen! Mutter, komm schon! Ich werde dich forttragen!«

Die Mutter fragte: »Wohin willst du mich tragen?«

Wu: »Du brauchst nicht lange zu fragen, ich werde dich an einen Ort bringen, wo ich dich besser pflegen kann.«

Er nahm sie auf den Rücken, das Schwert zur Hand, und ging vom Hause fort, auf kleinen, struppigen Wegen. Er sah, daß es bald dunkel wurde, und trug seine Mutter bis unter einen Gipfel. Die Mutter war auf beiden Augen blind und wußte nicht, ob es früh oder spät war. Er aber erkannte den Ort als den Gipfel; unter dem Sternenlicht, im Mondlicht fand er mit seiner Mutter den Weg. Sie lag schwer auf seinem Rücken und ächzte:

»Mein Kind! Bring mir was zum Trinken!«

Wu: »Liebe alte Mutter, warte, bis wir auf der anderen Seite des Gipfels sind, dann können wir von jemand aus den Häusern etwas bekommen und ruhen.«

Die Mutter: »Ich habe zu Mittag viel Trockenes gegessen und habe solchen Durst, daß ich es nicht mehr ertragen kann!«

Wu: »Auch ich habe so lange Zeit nichts getrunken, es kommt aus meinem Hals Geruch und Hitze. Ich werde dich auf den Gipfel tragen, dann bring' ich dir etwas zum Trinken.«

Er trug seine Mutter auf den Gipfel und setzte sie unter einem Tannenbaum auf einen grün bewachsenen Stein. Das Schwert steckte er daneben hin und sagte zu ihr:

»Du mußt Geduld haben und hier warten! Ich werde für dich Wasser holen gehen.«

Vom Gebirge her hörte er Wasser fließen und lief dem Rauschen nach. Es war sehr weit, da fand er einen Fluß. Sofort tauchte er seine Hand ins Wasser und trank, dann dachte er: Wie kann ich Wasser mitnehmen und meiner Mutter bringen? Er stand auf, schaute sich überall um und sah von weitem auf einem Gipfel einen alten Tempel. Er sagte: Das ist sehr gut!

Einen Pfad fand er nicht und kletterte, sich am Gesträuch festhaltend, hoch; als er im Tempel war, fand er nichts. Aber es gab einen großen Steinbecher zum Verbrennen des Weihrauchs. Er wollte ihn mitnehmen, aber der war mit dem Steinständer aus einem Stück gehauen und ging nicht auseinander. In seiner Not schleppte er Becher und Sockel zur steinernen Tempeltreppe und klopfte, bis der Becher absprang. Froh nahm er ihn und lief abwärts. Im Becher war Talg von vielen verbrannten Kerzen, er mußte ihn erst im Fluß säubern, holte Stroh und wusch ihn aus. Den Becher füllte er halb mit Wasser und ging den alten Weg wieder zurück. Er kam zum Gipfel unter dem Tannenbaum, aber auf dem Stein saß keine Mutter mehr! Das breite helle Schwert stak noch in der Erde.

Er lief überall umher, rief, erhielt aber keine Antwort. Beim Weiterlaufen gewahrte er im Gras Blutspuren; als er das sah, zitterte sein ganzer Körper. Er kam an eine kleine Höhle und sah davor zwei junge Tiger an einem Menschenbein knabbern. Wu Sung bebte: »Ich komme weit her, um endlich meine Schuld abzutragen und meine blinde alte Mutter zu holen! Mit viel Mühe habe ich sie hierher getragen, aber nicht für euch zum Fressen! Der Vogel-Tiger hat einen Menschen gefressen! Wenn das Bein nicht meiner Mutter gehört, wo mag sie sein?«

Sein Zorn stieg hoch, er zitterte nicht mehr, aber sein rotgelber Bart starrte vor Entsetzen. Er nahm sein Schwert und ging auf die zwei jungen Tiger los. Der eine erhielt einen Streich, fletschte die Zähne und wollte mit beiden Tatzen auf ihn zustürzen, aber als das Tier näher kam, stach er es in den Hals, daß es tot war. Der andere junge Tiger ging furchtsam sofort ins Loch zurück, Wu lief ihm nach und erschlug ihn drinnen. Kroch heraus und sah nahebei eine größere Höhle, wohl für die alten Tiger. Er ging hinein, versteckte sich an einer Seite und lauerte. Kam eine große Tigerin mit langen Zähnen und Riesenpranken zur Höhle. Wu wußte: Das ist das Biest, von dem meine Mutter gefressen wurde! Sein breites Schwert legte er neben sich und nahm den Dolch zur Hand. Die Tigerin kam zur Höhle, wedelte mit ihrem Schwanz hinein, dann ging sie mit dem halben Hinterleib tiefer. Wu zielte genau: mit seinem scharfen Dolch stieß er zwischen Bauch und Schwanz und traf sie ins Gemächt – Wu stieß mit solcher Kraft zu, daß der Dolch ihr ganz in den Leib drang. Sie brüllte vor Schmerz, mit dem Dolch floh sie talwärts. Er nahm sein breites Schwert und lief nach. Die große Tigerin fiel leblos um. Wu wollte weiterlaufen, da kam aus dem Wald ein starker Wind. Die trockenen Blätter wurden aufgewühlt und rauschten ihm wie Regen entgegen. Als der Wind vorbei war, knurrte es unter dem Sternen- und Mondlicht laut und vernehmlich, daß das Echo donnernd zurückhallte. Ein weißer Sterntiger – auf dem Kopf einen weißen Stern – mit großen gelben Augen sprang hinter einem Baum hervor auf ihn. Wu wartete, bis der Tiger ganz nah war, hielt sein Schwert hoch, flink schnitt er ihm den Hals durch. Der Tiger röchelte vor Schmerz, konnte nicht mehr hochspringen, sein Atem war zu Ende. Das Tier taumelte noch einige Schritte und fiel tot ins Gras. Wu nahm sein Schwert und suchte noch mehr Tiger, aber er konnte keine finden. Von der Aufregung war er sehr müde geworden, ging wieder in den alten Tempel und legte sich hin, schlafen.

Am anderen Morgen suchte er Fleisch und Knochen seiner Mutter zusammen, wickelte es in seinen Leinenmantel. Dann grub er ein Loch: beerdigte so seine Mutter. Eine Weile weinte er bitter, dann ging er hungrig und durstig fort.

Unter dem Gipfel traf er zehn Jäger mit Bogen und Pfeilen. Staunend blickten sie auf den Wanderer, des ganzer Körper mit Blut beschmiert war, und grüßten ihn wie einen Gebirgsgott. Da begann er so tief um seine Mutter zu weinen, daß er erwachte.

Der Tag war da und große Ehren – aber der Tag sagte ihm auch, daß seine arme alte blinde Mutter lange schon tot war, in Armut verstorben und verscharrt – und er ihr nie mehr danken konnte für die Jahre der Jugend.

Schon kamen die Leute, ihn zu beschnüffeln. Einer ging in die Stadt zum Amt und meldete dort Wu Sungs Tat. Auf einem Ehrenbrett brachten sie den Tiger vor Wus Schlafquartier. Andere führten an der Hand eine Ziege, auf den Schultern trugen sie Fässer Wein, warteten vor Wu Sungs Zimmer, bis er kam; und ein Fest begann. Sie sagten: »Dies Biest hat so vielen unserer Mitbürger das Leben genommen, und unsere Jäger haben seinetwegen umsonst viel Prügel bekommen! Jetzt haben wir das große Glück, daß Sie hierher kamen und die Gefahr für uns alle beseitigten! Unser Staat, unser Dorf hat Glück, alle Wanderer können nun ruhig über den Berg gehen. Das alles ist Ihr Verdienst!«

Wu dankte: »Ich kann nicht viel; aber Sie haben mir zum Glück verholfen.«

In aller Frühe wurde Essen und Trinken bereitet. Der Tiger kam auf das Brett, der Vorsteher und die Reichen banden Wu Sung aus roter Seide ein Ehrenkreuz über Brust und Rücken, um ihre Dankbarkeit zu zeigen. Seine Sachen blieben beim Vorsteher, alle begleiteten ihn und verließen mit ihm das Dorf. Der oberste Beamte hatte jemanden geschickt, Wu Sung zu begrüßen. Vier Bauern trugen die Sänfte mit Wu Sung, ihr voran wurde der Tiger getragen, mit roter Seide umwunden; man brachte beide zur Stadt Yang Gu. Die Leute der Stadt Yang Gu hatten gehört, ein Held habe einen großen Tiger auf einem großen Berg getötet – alle kamen aus ihren Häusern hervor, begrüßten ihn, wollten an die Sänfte, ihn ganz nah sehen, und drängten sich, wer der erste wäre.

Die Stadt wimmelte von Menschen, den Tiger zu sehen, Wu zu grüßen. Als sie vor dem Amtsgebäude ankamen, erwartete der Mandarin Wu Sung bereits in der Halle. Der Tigertöter stieg aus der Sänfte, gleichzeitig ward das Tier in die Halle getragen. Der Mandarin, Gouverneur Liang, sah Wu Sungs Gestalt, Gesicht, den großen Tiger, dachte: Wenn es keinen so braven Menschen gäbe, wer sonst könnte den großen Tiger totschlagen!

Er bat Wu, näher zu kommen, fragte ihn nach allem, und Wu Sung erzählte ihm mit Armbewegungen den Hergang. Die Leute sahen, hörten und staunten. Der Beamte reichte Wu drei Becher Wein zur Begrüßung. Außerdem gab er ihm tausend Geldstücke, welche die reichen Leute gesammelt hatten zur Belohnung für den Tigertöter. Wu Sung dankte: »Ich habe mit etwas Glück den großen Tiger zufällig erschlagen, deswegen kann ich doch nicht eine so große Belohnung bekommen. Ich habe gehört, daß viele Jäger dieses Tigers wegen das Leben verloren oder Schläge bekommen haben. Vielleicht können Sie die Belohnung unter die überlebenden Jäger verteilen lassen.«

Der Beamte sagte: »Wenn Sie so denken – ganz nach Ihrem Wunsch!«

Wu verteilte auf der Stelle das Geld unter die Jäger. Der Mandarin sah, daß Wu ein anständiger Mensch von gutem Charakter war, kraftbegabt, und wollte ihn hochbringen:

»Sie kommen aus der Stadt Ching Hê, die ist in der Nähe meines Bezirkes. Ich werde Sie heute zum Offizier der Reichsarmee ernennen, was denken Sie darüber?«

Wu Sung verneigte sich: »Wenn der oberste Beamte mich emporheben will, werde ich es ihm mein Leben lang danken und ihm dienen.«

Der Mandarin dachte: Ich bin nicht klug genug, zu wissen, ob, was er tat, Wohltat war oder Untat. Er ist ein armes Wesen, glücklich nur insofern, als er ein Mensch geworden ist. Wie erbarmungswürdig und wie reich ist aber diese Tigerin. Sein Leichnam hätte nur hingereicht, sie oder ihre Jungen zu sättigen, eine Nacht lang. Sie aber reicht ihm als Tote Futter ein Leben lang!

Der Mandarin unterschrieb ein Dokument und ernannte Wu zum Offizier. Alle Leute beglückwünschten Wu Sung und luden ihn ein. Wu Sung war einen Monat lang täglich woanders zu Gast geladen.


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