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Zu Shantong, im Distrikt Tsian des Bezirks Tsang-Kiu, lebte ein verheirateter Magister namens Jao. Sein Weib hieß Fang. Er stammte aus alter Gelehrtenfamilie – schon bei seiner Geburt also war sein Magen voll von Tusche und Schreibpinseln. Seine Eltern starben jung; er hatte keine Geschwister mehr. Im übrigen sprach man nie von ihm, ohne daß es hieß: Ja, der Magister Jao hat umfassende literarische Fähigkeiten, Kenntnisse mancherlei Art. Er ist im Staatsverfassungswesen gründlich bewandert; er besitzt einen vorzüglichen, edlen Charakter; er ist treu, aufrichtig und ehrlich; kurz, ein trefflicher Mann. Von geradezu altertümlicher Geradheit erfüllt, schmeichelt er niemandem.
So kam es aber auch, daß er sich während seines langen Lebens nur wenige Freunde und Helfer gewann. Er lebte dahin in äußerster Armut. Las und schrieb, obwohl er kaum das Papier sehen konnte, denn seine Augen waren blind vom vielen Weinen und sein Reis mit Tränen gesalzen. Ging er zu einem seiner Nachbarn, Geld borgen – taten sie, als ob sie ihn nicht sähen. Niemand empfand Mitleid mit seiner Lage, niemand half ihm.
Im Laufe der Zeit erhielt der Magister Jao von seiner einzigen Frau zwei seiner Ansicht nach ungeratene Söhne: Wu Ta und Wu Sung. Diese merkten früh, daß ihr Vater von den Sternen und Wissenschaften weder reichlich noch überhaupt leben konnte, hielten nichts vom Schrifttum, verachteten alle bebrillte, über jeden Stein der Wirklichkeit stolpernde Gelehrsamkeit und liefen noch jung aus dem Hungerhaus – gingen auf und davon, um nicht auch zu verhungern oder sich totzuarbeiten. Sie waren wohl kleine Faulpelze, aber keine Tunichtgute, sondern im Herzen brave Kinder: jeder von ihnen wäre sofort mit irgendwelchen Reichtümern, wenn er sie nur erworben hätte, heimgekehrt – nicht nur, um den Eltern zu zeigen, was er zustande gebracht. So aber blieb, als die Söhne spurlos verschwunden waren, dem Vater als Trost seiner Seele nur eine Tochter übrig – Munglan. Als sie acht bis neun Jahre alt war, unterrichtete der Magister sie in den Anfangsgründen des Lesens und Schreibens, ihre Mutter unterrichtete sie in weiblichen Handarbeiten, soweit es eben ging. Von Natur mit allen Vorzügen und den trefflichen Anlagen freigebig ausgestattet, konnte sie, da sie gewandt und fleißig war, schon nach zweijährigem Unterricht die kunstvollen Stickereien verfertigen, Bücher lesen und verstehen und sich nach den herrschenden Gebräuchen benehmen. Überdies war sie mit einer solchen Schönheit des Körpers geschmückt, daß der Mond vor ihr erbleichte, die Fische zu Boden sanken und die Vögel aus der Luft niederfielen.
Vater und Tochter unterhielten sich nur über Dichtkunst und Literatur. So genoß das Mädchen täglich einen Unterricht, wie ihn selbst die Söhne reicher Leute nur selten erhalten. Allein die guten Menschen litten immer Mangel an Nahrung und Kleidern, mußten Hunger und Kälte erdulden. Die Tochter verdiente wohl durch ihre Stickereien hie und da etwas Geld, doch kaum hinlänglich, Holz und Reis für wenige Tage zu kaufen. Zudem beschäftigte sich der Magister nur mit Dichtkunst und literarischen Arbeiten – Dingen, die in dieser Welt nichts eintrugen. Durch Handarbeit oder Handel Brot zu erwerben, verstand er ganz und gar nicht. Als er wieder einmal, umzingelt von tausend Sorgen, traurig dasaß, kam seine Frau herbei, klagte:
»Wir haben heute den letzten Tag im Jahr; alle Leute bereiten sich vor, zum Beginn des neuen Jahres einander Glück zu wünschen. Wir allein sind arm, leiden Frost, haben keine warmen Kleider, kein Holz, den Ofen zu heizen. Wir haben keinen Reis, der Fische, Gemüse, des Fleisches und Weines nicht zu gedenken. Wenn wir auch alles durchsuchen, es findet sich nichts mehr vor. Morgen ist der erste Tag des neuen Jahres; wir müssen daher heute noch unsere Rechnungen zusammenstellen und in Ordnung bringen. Vielleicht wird doch einer unserer Freunde uns Geld borgen oder ein Verwandter uns etwas geben!«
Der Magister: »Jahresende, weißer Schnee. Ich hätte beinahe vergessen, daß wir heute das Ende des Jahres haben; ja, wir sind in arger Verlegenheit. Alles wäre recht – könnte ich nur etwas Geld erhalten, damit ich meinen Vorfahren ein kleines Opfer darbringen kann.«
Bemerkte die Tochter, daß sie noch einige Pfennige vom Erlös ihrer Stickereien übrig habe und sie die nicht besser verwenden könnte, als Weihrauchpapier zu kaufen und es, den Ahnen der Familie zum Opfer, zu verbrennen. »Ich hab' auch einen Vers gemacht, der euch, liebe Eltern, die Sorge zerstreuen wird, wenn ich ihn hersage: Feuerung, Reis, Öl, Essig und Tee werden sich finden im Haus anderer Leute; wir aber, Eltern und Tochter, leiden willig; gern nehm ich die Nadel, eine Pflaumenblüte zu sticken.«
Schmerzlich rief der Vater: »Kind! Wir haben schon hin und her gedacht und konnten nichts ausfindig machen. Da ist jedoch noch ein Bruder deiner Mutter vorhanden, Wang-kai-wei, der uns für kurze Zeit Geld leihen könnte – nur für die notwendigsten Lebensbedürfnisse und eine kleine Feier des Jahresbeginns. Im neuen Jahr wollen wir dann weitersehen.«
Tochter: »O Vater, die Welt ist sehr gleichgültig und kalt für fremdes Unglück. Die Leute haben allzu verschiedene Ansichten! Wie würden sie uns etwas borgen! Das Beste, was wir tun können, ist geduldig in unserem Haus ausharren und still leiden. Wozu sollen wir den Leuten unser Elend kundtun, da sie uns doch nicht anhören noch helfen wollen?!«
Sprach die Mutter: »Die Leute sind gefühllos, und es fällt ungemein schwer, ihnen unser Elend zu schildern und wirkliche Hilfe zu erlangen. Dennoch müssen wir für den Augenblick Geld haben. Es bleibt uns nichts übrig, als eine kleine Anleihe zu machen, damit wir uns fürs Neujahr mit dem Unentbehrlichsten versehen können. Wir haben einen einzigen Blutsverwandten, der nicht wie ein zufälliger Nachbar unsere Bitte ablehnen kann. Ich habe alle Hoffnung, daß uns der willig etwas geben wird.«
Munglan: »Mutter, siehst du nicht, daß der ganze Himmel mit Schneewolken überzogen ist? Und der Vater hat nur ein einziges Kleid auf dem Leib! Es weht ein wilder Nordwind; wie kann da der liebe Vater durch den tiefen Schnee?!«
Die Mutter ärgerte sich still über den Einwand – aber der Magister sah ein, daß es keinen andern Ausweg gab, schickte sich zum Fortgehen an, so schwer es ihm auch fiel. Er drückte sich die Pelzmütze auf den Kopf und verließ bekümmert das Haus. Kaum war der Magister aus dem Tor, als das Schneetreiben noch heftiger losbrach. Nur mit äußerster Anstrengung vermochte er Schritt für Schritt im Schneesturm seinen Weg fortzusetzen. Er legte die Hände auf den Rücken, gebeugt lief er wie ein Hund dahin auf der Straße und sah vor sich, wie die Reichen, die Vornehmen und Beamten, während man schöne Gedichte über den Winter vorliest, sich schläfrig um den Ofen drängen und heißen Wein trinken, dicht in warme Pelze gehüllt und bis ans Lebensende nicht ahnend, wie weh die Kälte tut. Erst jetzt beneidete er sie aus ganzem Herzen, da er grundlos Hunger und Kälte ausstehen mußte und nicht einmal einige Tropfen warmer Suppe oder gewärmten Wassers hatte, seinem verfrorenen Körper aufzuhelfen. Dann dachte er sich wieder, daß er diese Beschwerden gern ertrüge, wenn er nur von dem Verwandten seiner Frau etwas erhalten könnte. Falls der seiner Frau und dem Kind ein wenig hülfe, könnten sie immerhin ihr Leben noch eine Zeitlang weiterfristen.
Unter solchen Gedanken hatte er den Weg in einem halben Tag zurückgelegt; wundfüßig, frostbeulig kam er vor das Haus seines Verwandten und stieß auf den Torhüter. Der kam brummig heraus und fragte ihn, wer er wäre. Der Magister nannte seinen Namen, fragend, ob sein Verwandter zu Haus und zu sprechen sei.
»Jawohl! Der Herr ist zu Haus, in seiner Schreibstube, wo er die Rechnungen abschließt.«
Magister Jao: »Ich ersuche dich, Türhüter, deinen Herrn kurz zu benachrichtigen, daß ich hier bin, ihn zu sehen und in wichtigen Angelegenheiten zu sprechen wünsche.«
Der Türhüter: »Sehr wohl!« Und meldete seinem Herrn, daß Herr Magister Jao vor der Tür des Hauses warte, den Herrn zu sehen und zu sprechen wünsche und dringlichst bitte, ihn zu empfangen. Der Beamte Wang-kai-wei sagte als reicher Verwandter, daß er am letzten Tag des Jahres keine Zeit habe. Doch fragte er immerhin zur Vorsicht den Diener, weshalb denn Jao eigentlich heute dahergekommen sei. Übrigens dachte er sich schon, was der Magister wollte.
»Herr, das kann ich Euch nicht sagen, denn er hat sich darüber nicht ausgesprochen. Ich kann mir jedoch recht gut denken, was der Magister wünscht. Er sieht sehr arm und bemitleidenswert aus, trägt ein zerrissenes, abgetragenes blaues Oberkleid, auf dem Kopf eine schlechte alte Mütze. Seine Schuhe sind ganz abgetragen und zerrissen. Überall stehen ihm die Knochen so weit hervor, daß er wie ein Gerippe ausschaut, man hat Erbarmen, wenn man ihn sieht.«
Der Beamte befahl hartherzig: »Da die Sachen so stehen, so schick ihn nur fort. Was soll ich ihn hereinkommen und mir durch langes Geschwätz die Zeit stehlen lassen? Sag ihm nur«, fuhr er zornig den Diener an, »daß ich in meinem Büro bin und noch mit dem Abschluß meiner Rechnungen zu tun hab'; ich hätte keine Zeit, mich mit ihm zu unterhalten; ich sei gar nicht zu Haus. Was kann mir denn der Gutes zu sagen haben anläßlich des neuen Jahres?«
Der Türsteher sah den Grimm seines Herrn, stotterte »Sehr wohl« und lief hastig aus dem Zimmer. Heimlich brummte er, betrübt über den Geiz seines Herrn: »Das ist sein eigener Verwandter, dem man die Armut am Gesicht ansieht. Weil er aber kam, ihn um Hilfe anzuflehen, will er ihn nicht einmal sprechen und ihm keinen Pfennig geben. Wer weiß, wie es in einigen Jahren mit beiden steht! Mein Herr hat vielleicht in zehn Jahren gar nichts mehr, und der Magister wird wohl nicht sein ganzes Leben lang arm bleiben.«
Aber sagen mußte er dem armen Jao: »Herr Magister, ich ersuche Euch, später wieder zu erscheinen, mein Herr ist vom Amt noch nicht zurück. Ihr müßt, Herr, im neuen Jahr wiederkommen; da könnt Ihr meinen Herrn wohl eher sprechen!«
Der Magister merkte wohl, wie die Sachen standen, und wurde ärgerlich: sah, daß man ihn belog. »Du hast ja eben noch gesagt, er sei zu Haus und brüte über seinen Rechnungen? Wie kannst du dann jetzt sagen, er sei noch nicht aus dem Amt zurück?!«
Der Diener blieb dabei: »Mein Herr ist tatsächlich nicht zu Haus, und was ich Euch zuerst sagte, war unrichtig.«
»Ach ja!« seufzte der Magister. »Er ist freilich für mich nicht zu Haus; ich versteh' dich wohl. Er denkt sich, daß ich heute nur gekommen bin, ihn um Geld zu bitten, und deshalb läßt er mich nicht vor. Aber, da ich nun einmal da bin, denk' ich nicht daran, unverrichteterdinge abzuziehen! Ich muß ihn sehen, koste es, was es wolle. Er ist mein nächster Verwandter und schuldig, mir die Güte zu erweisen, die Verwandten gebührt. Ist er auch nicht zu Haus, wie er dich sagen hieß, so kann er mir doch nicht verwehren, sein Haus zu betreten!«
Damit rannte er keuchend durch die Tür ins Haus, ohne daß sich der Diener große Mühe gegeben hätte, ihn zurückzuhalten. Jao lief geradeswegs in die Studierstube seines Verwandten, so daß sich der nicht mehr verbergen konnte. Nach kurzem Gruß und einer angedeuteten Verbeugung hielt er den Beamten, der entwischen wollte, beim Kleid fest:
»Lieber Wang-kai-wei, bleib doch hier und hör mich an! Jao hat eine Bitte an dich!«
Den Beamten übermannte die Wut: »Pack dich, Jao, du bist ein Kerl, der nur überall in der Welt Streit anfangen will. Warum bringst du mich in so arge Verlegenheit! Du bist doch ein Magister, hast die Bücher der Weisen gelesen, kennst Literatur und Sitte und wirst daher wohl ahnen, was wir heute für einen Tag haben. Ein Amtsgeschäft kannst du auf keinen Fall mit mir abzumachen haben. Die Gelehrten haben heute weder eine Versammlung, noch finden Prüfungen statt. Was willst du also mit deinen ungeschlachten Worten und deinem rohen Betragen sagen?«
Jao, ganz heiser vor Ärger: »Schickst du mich so fort, wo ich verhungere, so hilflos und verlassen bin, daß ich ein Verbrechen begehen könnte?! Übrigens bin ich heute nicht allein zu dem Zweck hergekommen, bei dir eine Anleihe zu machen – sondern ich will mich auch mit dir in einer gerichtlichen Sache beraten, in einer Sache der Gerechtigkeit und Wahrheit: sieh, obgleich du dich hier in deiner Studierstube befindest, gabst du doch vor, im Amt zu sein!«
Wang-kai-wei: »Bestie, laß dir nichts träumen! Es gibt sehr viel Arme in dieser Welt; aber wenn schamlose Bettler Hilfe suchen, bleibt ihr Gequak eitles Windblasen.«
Magister: »Du bist sehr hartherzig, Vetter! Doch du kannst nicht wissen, ob nicht auch ein Tag aufgehen könnte, wo ich zu dir in der gelben Jacke mit dem goldgestickten Gürtel des Hofes kommen werde. Da wollen wir dann sehen, ob du dich nicht beeilen wirst, die Verwandtschaft anzuerkennen. Wie wirst du es dann wagen können, mir vors Gesicht zu treten?«
Wang-kai-wei: »Ich trete dir schon jetzt vors Gesicht! Du willst Mandarin werden? Wirst im Jenseits Mandarin werden! Allein in diesem Leben sei dem Wasser des gelben Totenflusses gleich, das stille steht.«
Jao: »Wang-kai-wei! Wang-kai-wei! Sieh dich vor und erhebe dich nicht zu sehr. Du mußt nicht glauben, daß du ein gar so gewaltiger Mensch bist; du könntest es einmal bereuen müssen. Des Himmels offene Augen werden sehen, ob du immer so reich, wohlhabend und übelwollend bleiben wirst und ich das ganze Leben hindurch so jammervoll arm wie jetzt.«
Jao stampfte vor Zorn mit den Füßen auf, lief fort, ohne dem Beamten einen Abschiedsgruß hinzuwerfen. Der Mandarin war froh, daß der lästige Bettler fort war, ließ in aller Ruhe das üppige Freudenmahl zurichten und feierte in Lust und Rausch das neue Jahr froh auf dem Familienthron.
Mittlerweile ängstigten sich Frau und Tochter Jaos.
»Mutter!« schrie Munglan, »warum fliegen die Krähen in solchen Haufen auf die Bäume und krächzen so laut?«
Die Mutter unruhig: »Liebes Kind, sie schreien wirklich recht auffallend! Was wird mit deinem Vater geschehen? Ich wünschte, daß Jao diesen Gang unternehme; wir hatten keinen Ausweg mehr. Wo er nur so lange bleiben mag? Zankt sich etwa die Familie Wang-kai-wei mit ihm? Ist er vielleicht in den Schnee gefallen? Oder hat er gar das Geld verloren? Ich will doch hinaussehen!«
Sie öffnete schaudernd die Tür und blickte umher – sah aber nichts als die weiße blendende Schneefläche, die alle Straßen bedeckte. Vergebens strengte sie ihre Augen an, konnte niemand erblicken, Angst fiel über sie.
Magister Jao lief inzwischen voll Erbitterung im Schnee umher. »Wie ärgerlich! Wie hat mich dieser Wang erzürnt! Er will mir nicht nur kein Geld leihen, sondern behandelt mich obendrein mit solcher Verachtung! Das ist unerträglich. Doch jetzt ist es geschehn und läßt sich nicht ändern. Das ist vorbei. Am meisten schmerzt mich, daß er so die Verwandtschaft mit meiner Frau verleugnete und mich schmählich beleidigte. O Wang, Wang! Wie schnell wirst du mich als deinen liebsten Verwandten anerkennen, wenn sich Magister Jao Namen und Verdienste erworben hat! Ja, dann wirst du den armen Gelehrten untertänigst als Herrn Jao begrüßen! O Himmel! Jetzt ist es Abend geworden! O Wind und Schnee! Wie kann ich mit leeren Händen heimkehren? Frau und Kind erwarten mich, ihre Sehnsucht ahnt nicht, daß ich noch ärmer nach Hause komme. Es ist zu Ende. Ich kann ihnen und mir nicht mehr helfen. Ich will mir nur noch einen guten Ort suchen, wo ich schnell sterben kann!«
Er ging in den nahen Wald. Laut schluchzend löste er das Tuch von seinen Lenden, sich aufzuhängen. Allein er hatte den Baum nicht genau betrachtet und sah nun, daß er unter einer Fichte stand, so umfangreich, daß er ihren Stamm mit beiden Armen nicht umfassen konnte. Der turmhohe Baum hatte keine niedern Äste, die er hätte ergreifen können. Wie sollte ein Magister einen Baum erklettern? Er konnte sich nicht einmal aufhängen, hatte nicht einmal das gelernt. Er suchte umher, fand aber keinen Baum, der niedrig genug gewesen wäre. Endlich kam er doch umherirrend vor einen kleinen Baum, der einsam an einem Kreuzweg stand. Weinend, schluchzend blieb er stehen:
»Hier werd' ich wenigstens mein Lebensende finden, hier auf diesem Baum«, schrie er, das Tuch drehend und hinaufkletternd, die Schlinge zu befestigen. Dann warf er sich die Schlinge um den Hals und zog den Knoten zu.
Sein Ort war sonst belebt; doch diese Nacht war niemand mehr auf dem Wege. War es doch die letzte Nacht im Jahr, und da flogen nur Geister vorbei. Die nächsten Dörfer waren weit entfernt. Niemand hörte etwas, niemand wußte, wo er war.
Neujahr.