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10

Menschenfleisch

Morgens, lange vor Sonnenaufgang, nahm man ein schweres, von Eisenstücken zusammengehaltenes Holzbrett, legte es wieder um den Hals des Wu Sung und versiegelte es oben, damit er es auf dem Wege nicht öffnen könne. Zwei Beamte wurden als Aufseher mitgeschickt, der eine hieß Tung, der andere Sieh. Sie erhielten die nötigen Begleitdokumente und verließen mit Wu das Amt. Trotz der grauen Stunde standen draußen alle Nachbarn und Freunde, luden Wu und die zwei Beamten ein, in ein Weinhaus zu gehen. Als man drinnen saß, tranken alle Abschiedswein und aßen Früchte, viele gaben den Beamten Geld, damit sie sich unterwegs etwas kaufen könnten, und baten sie, Wu gut zu behandeln.

Tung und Sieh brachten ihn auf eine Wache, ließen ihn dort, gingen nach Hause, für die Reise zu packen. Als Tung zu Hause gerade alles fertiggemacht hatte, kam ein Weinhausgeselle, der in einer Kneipe an der Ecke tätig war, zu ihm und meldete: »Ein vornehmer Herr sitzt in meinem Weinhaus und möchte mit Ihnen sprechen.«

Tung: »Wer ist der?«

Der Geselle: »Ich kenne ihn nicht, er schickte mich zu Ihnen, ehrlicher Herr, Sie zu bitten, zu ihm zu kommen.«

Tung folgte sofort der Einladung. Der Weingeselle führte ihn in ein ruhiges Zimmer des Weinhauses, und dort sah Tung einen Mann, der einen schwarzen Hut auf dem Kopf trug und einen farbigen Mantel anhatte; der Mann war allein im Zimmer, begrüßte Tung sehr höflich und bot ihm einen Stuhl an. Tung wußte nicht, wer der Mann war, und stotterte befangen:

»Ich kenne Sie leider nicht und weiß also kaum, wie ich Ihnen behilflich sein kann.«

Der Unbekannte: »Bitte, wollen Sie ein wenig Geduld haben, dann werde ich Ihnen alles erzählen.«

Der Diener hatte inzwischen den Tisch mit guten Sachen, Fleisch, Gemüse und Wein, gedeckt. Dann fragte der Unbekannte, wo Tungs Kollege, der Herr Sieh, sei? Tung gab dessen Wohnung an, und Sieh wurde durch den Diener ebenfalls rasch herbeigeholt. Der Unbekannte nannte seinen Namen nicht sofort, aber er bat beide, sich zu bedienen. Nach einigen Bechern Wein holte der Mann aus seiner Tasche zehn Tael Silber hervor, legte das auf den Tisch und schenkte jedem die Hälfte. Er fragte sie, ob sie ihm einen Gefallen tun wollten? Die zwei Beamten waren zuerst erstaunt über so viel Geld, wollten seinen Namen wissen und warum er ihnen ein so großes Geschenk mache? Statt zu antworten, fragte der Unbekannte abermals, ob sie wirklich die Beamten seien, die mit Wu Sung nach Tung-Pin-Fu zu gehen hätten? Sie bejahten.

Der fremde Mann: »Wenn das stimmt – mein Name ist Oberst Lu T'sien, ich bin Geheimsekretär der Tochter des Reichskanzlers: der Frau unseres Gouverneurs Liang!«

Als die beiden das hörten, standen sie ruckartig auf: »Allerhöchster Herr Offizier, wir Staub verdienen nicht die Ehre, mit Ihnen an einem Tisch zu sitzen!«

Lu ließ die beiden wieder ihre Plätze einnehmen: »Wissen Sie vielleicht auch, daß dieser Wu Sung ein Räuber ist? Heute nacht kam der alte Haushofmeister mit der Nachricht: Wu Sung hat einen für den Reichskanzler bestimmten Schatz listig entwendet! Da der Gouverneur von einer merkwürdigen Vorliebe für starke Männer und Tigertöter besessen ist und also vielleicht ein im Verhältnis zu kostbaren Perlen allzu mildes Urteil fällen könnte, erhielt ich von seiner Frau, der von Wu bestohlenen Prinzessin, und dem Haushofmeister Befehl, Ihnen beiden dies Geld zu geben. Sie sollen dafür Wu auf dem Wege sein überflüssiges Leben nehmen. Sie bekommen unterwegs leicht eine Bescheinigung, so einen Totenschein von irgendeinem Magistrat nicht weit von hier, und bringen das dem Gouverneur. Wenn der irgendwie genauer fragt, dann wird ihm seine Frau schon Bescheid geben.«

Tung: »Das geht nicht. Auf unserm Dokument steht, wir sollen ihn lebend nach Tung-Pin-Fu bringen. Er ist nicht alt, wir können also nicht sagen, daß er unterwegs an einer Krankheit gestorben ist. Falls die Sache ans Licht kommt, können wir kleinen Menschen die große Verantwortung nicht übernehmen.«

Krächzte Sieh: »Alter Tung, hörst du: Wenn uns eine Prinzessin morden heißt, können wir das nach Herzenslust tun. Denk mal, der Herr General hat so viel Geld zu uns herüberspringen lassen, damit wir seine Angelegenheiten ordnen. Du brauchst nicht mehr zu reden, wir nehmen jeder die Hälfte des Geldes und tun dem Herrn den kleinen Gefallen. Dafür kann er uns später auch behilflich sein. Nicht weit von hier ist ein großer Tannenbergwald, dort können wir Wu sehr schön umbringen.«

Sie schluckten hurtig das Geld: »Marschall, verlassen Sie sich auf uns, in drei bis vier Tagen wohl oder gar schon übermorgen können wir Ihnen guten Bescheid bringen.«

Lu T'sien freute sich: »Wacker, wacker! Na, der ehrliche Herr Sieh ist doch ein sehr mutiger Mann. Wenn Sie den Tigertöter erledigt haben, bringen Sie gefälligst seinen Kopf zurück, als Beweis. Für dieses Stück Wu Sung werde ich Ihnen beiden dann noch zehn Tael Silber geben zur Belohnung! Verstehen Sie: Ich warte auf gute Nachricht, verpassen Sie nicht die Gelegenheit!«

Darauf tranken sie noch, dann verabschiedeten sie sich: »Auf baldiges Wiedersehen!«

Tung und Sieh trugen das Geld heim, holten ihre Reisepakete, nahmen ihr Amtsabzeichen: den schwarzroten Wasser-Feuer-Knüppel, den Verbrecher beaufsichtigende Beamte zu benützen pflegen, zur Hand, gingen zur Wache, holten Wu Sung ab und marschierten mit ihm aus der Stadt. Schon nach dreißig Li rasteten sie in einem Gasthaus. Wenn damals ein Gerichtsbeamter mit einem Verbrecher an einer Herberge vorbeikam, brauchte er nach den Gesetzen der Sun-Dynastie nichts zu bezahlen. Die drei übernachteten, aßen am nächsten Morgen etwas und gingen weiter. Es wurde sehr heiß. Als Wu Sung das schwere Halsbrett bekam, hatte er es nicht weiter beachtet, aber die schweißtreibende Hitze schwächte ihn, auf dem Marsche rieb sich Holz und rostiges Eisen an seinem Hals, trieb Blut und Eiter hervor. Die Beamten nahmen ihm die Strohschuhe weg und ließen ihn bloßfüßig laufen. Gegen Mittag waren die Steine brennend heiß – er konnte nicht mehr schnell gehen, darum schimpfte Sieh: »Marschieren Sie nicht so langsam, von hier bis Tung-Pin-Fu sind es noch viele Li, wenn Sie so weiterschnecken, können wir nie dort sein!«

Wu Sung: »Ich hatte früher ein zu leichtes Leben und wußte nicht, wie schwer es sein kann, bepackt seinen Weg zu gehen! Das Wetter ist zu heiß, bitte, verzeihen Sie mir, daß ich nicht schneller laufen kann.«

Tung tröstete ihn: »Laufen Sie nur langsamer, Sie brauchen dem seine Rede nicht ernst zu nehmen.«

Sieh aber schalt und schimpfte auf dem Weg immerzu. Es wurde spät, sie mußten wieder in einem Gasthaus übernachten. Die Beamten stellten ihre Sachen ins Zimmer. Wu öffnete sein Paket, wartete nicht erst, daß die Beamten ihren Mund aufmachten, sondern gab gleich dem Weingesellen etwas Geld, bestellte Wein und Reis und lud seine Begleiter dazu ein. Tung und Sieh bestellten auch viel starken Wein und machten den erschöpften Wu leicht trunken. Sieh stellte einen Topf voll Wasser auf den Herd, trug es in einer Waschschüssel, noch siedend heiß, in ihr Zimmer und fragte Wu:

»Hauptmann, wollen Sie nicht Ihre Füße waschen und dann erst schlafen?«

Wu war schon eingenickt, setzte sich schlaftrunken wieder aufrecht, aber sein eisenbeschlagenes Halsbrett war ihm unbequem, er konnte sich nicht gut bewegen.

Sieh: »Ich werde Ihnen die Füße waschen.«

Wu: »Nein, das geht nicht, Herr Beamter.«

Sieh: »Ach, lassen Sie den Beamten, wir sind alle weit von Haus fort, und wir brauchen uns nicht immer und ewig daran zu erinnern, daß Sie ein Verbrecher sind und ich ein Beamter bin.«

Wu ahnte nicht, daß diese Demut eine Falle war, ließ seine Füße vom Bett runterhängen. Sieh hielt beide Beine fest, stieß Wus Füße in das kochende Wasser. Wu schrie auf vor Schmerz, riß die verbrühten Füße hoch, aber sie waren bereits rot, geschwollen, die Haut war abgegangen. Trotzdem mußte Wu höflich sein und sich entschuldigen, daß er nicht einmal soviel Glück habe, seine Füße waschen zu können.

Sieh: »Überall muß der Verbrecher den Beamten bedienen, nirgends wird ein Beamter einem bestraften Kerl behilflich sein. Ich hatte die gute Absicht, Ihnen die Füße zu waschen; aber Ihr habt immer etwas auszusetzen: bald ist das Wasser zu kalt, bald ist es zu heiß, das ist der Lohn für alle gutherzigen Menschen.«

Er schimpfte und tobte die ganze Nacht; Wu Sung entgegnete kein Wort. Morgens stand Sieh schon sehr früh auf – dann konnten sie mit dem verbrühten Wu verschwinden, ehe die andern Gäste noch etwas merkten. Wegen seiner Fußschmerzen konnte Wu kaum laufen; aber sie gaben ihm obendrein ein paar neue, harte Strohschuhe anzuziehen, damit Wus Füße noch schlimmer würden. Wu Sung wollte die neuen Schuhe nicht anziehen, weil er an seinen Füßen schon sehr viel Blasen hatte, aber er fand die alten Schuhe nicht mehr – die hatten sie versteckt! So mußte er die neuen Schuhe tragen und dem Herbergswirt die Rechnung für alle bezahlen. Sie gingen weiter; aber nach kaum drei Li hatte er keine Haut mehr, die Füße bluteten, er stöhnte vor Schmerzen. Sieh fluchte: »Sie müssen schneller gehen, sonst muß ich Sie mit meinem Stock schlagen.«

Der gutmütigere Tung: »Nehmen Sie meinen Arm, damit Sie schneller vorwärts kommen!« Und half ihm so weiter. Nach vier oder fünf Li sahen sie vor sich einen düstern Tannenwald, schrecklich anzusehen, von schwarzen Wolken und Nebelrauch umlagert. Das war der sogenannte Wildschweinforst, ein berüchtigt gefährlicher Platz. Wenn irgend jemand einen Feind hatte und einem Beamten ein wenig Geld gab – dieser Hain war der Lieblingsplatz der Mörder. Gewohnheitsmäßig schleppten die Beamten Wu in diesen Wald, und Sieh schalt: »Trotz der Kühle sind wir nicht mehr als zehn Li gelaufen, wenn das so weitergeht, wann wollen wir da in Tung-Pin-Fu sein?«

»Wu Sung hat es gewiß nicht eilig. Aber ich kann auch nicht mehr«, sagte Tung. »Wollen wir hier in diesem Wald ein wenig rasten?«

Sie legten ihre Pakete unter einen Baum. Wu Sung fiel vor Schmerz gleich hin; die beiden taten, als wollten sie ein wenig schlafen. Sie legten ihre Feuer-Wasser-Stöcke auf die Erde, schlossen ihre Augen und stellten sich schlafend. Kaum aber war eine Minute verstrichen, als sie wieder aufsprangen: »Wir zwei möchten wohl schlafen, aber hier gibt es keine Eisenketten, keine Fesseln, wir haben Angst, daß Sie fortlaufen.«

Antwortete Wu Sung: »Ich bin ein Mann, ich habe Tigermenschen getötet, was dafür als gerechte Strafe kommen wird, hab' ich auf mich genommen, ich werde in meinem ganzen Leben nicht fliehen. Außerdem haben Sie mir die Füße verbrüht.«

»Nicht fliehen? Wer glaubt Ihnen das!« brummte Sieh. »Wir möchten Sie doch lieber fesseln.«

Wu: »Ja, wenn Sie das tun müssen, habe ich auch nichts dagegen.«

Sieh holte einen Strick aus seiner Tasche, band Wu mit Händen, Füßen und Halsbrett fest an einen Baum. Sie drehten sich beide um, hoben ihre Stöcke hoch, blickten Wu mit drohenden Augen an: »Wir wollten Sie nicht töten, sehr geehrter Herr Hauptmann, aber vor einigen Tagen hat Oberst Lu T'sien auf Befehl der Frau des Gouverneurs Liang und des Haushofmeisters uns beauftragt, Sie als Schatzräuber zu töten, er wartet schon lang auf Ihren Kopf, den müssen wir ihm gehorsamst bringen. Wenn wir noch ein paar Tage weitergehen, müssen Sie auch sterben; wenn es aber heute und hier geschieht, können wir zwei zu den Feiertagen wieder zu Haus sein. Also wozu Zeit verlieren?! Aber, lieber Herr Hauptmann Wu Sung, Sie dürfen uns darum nicht böse sein, das ist Justizbefehl von den Machthabern – wir kleinen Beamten können nichts dafür. Ach, zwölf Monate von heute an – um diese Zeit wird es ein Jahr sein, daß Sie gestorben sind. Wir haben Ihren werten Todestag schon lange gewußt und möchten die Sache am liebsten gleich erledigen.«

Wu weinte vor Wut und Entkräftung, bat: »Ehrliche Herren, vorher waren wir keine Gegner, heute sind wir auch keine Feinde. Bitte, wenn Sie mir ein wenig helfen, werde ich tot oder lebend Sie nie wieder vergessen.«

Tung: »Wir haben mit Ihnen Mitleid, aber helfen können wir Ihnen nicht.«

Wu Sung mußte, an Händen und Füßen gefesselt, wehrlos dort stehen und seinen Tod erwarten; in der Totenwelt gibt es kein Gasthaus, wo sollen seine drei Seelen heute nacht bleiben? Während Sieh mit seinem Stock ausholte, um ihn auf Wu Sungs Kopf niederfallen zu lassen, war Wus Leben so in Gefahr, wie wenn tausend Pfund auf ihn herabsausen würden.

Alter Leser – leider können wir nicht so schnell schreiben, wie plötzlich ein Mann mit einem Ruf, laut wie der Donner, hinter einem Baum hervorsprang und sein Eisenstab mit dem Holzstock, der auf Wus Haupt niedersausen sollte, zusammenprallte, daß der arme Holzstock bis in den Himmel flog. Heranspringend der große, starke Mann schrie:

»Ich hab' im Walde alles gehört!« Und ging mit seinem Eisenstab auf die beiden Beamten los.

Wu kam zu sich, öffnete seine Augen, erkannte seinen Lehrmeister Li Chung, rief: »Lehrmeister, die zwei darfst du nicht schlagen, komm her, ich will dir alles erklären.«

Li senkte den Stab. Die beiden Beamten waren wie im Traumland, standen starr, konnten vor Schreck keinen Finger rühren.

Wu: »Die zwei hatten strengen Befehl, mich zu töten. Sie sind unschuldig. Wenn du sie totschlägst, bist du auf ewig im Unrecht.«

Li Chung zog ein langes Dolchmesser, zerschnitt alle Fesseln, befreite Wu, half ihm, sich bequem hinzusetzen:

»Bruder, schon seit du den Fleischer Chêng niederschlugst, war ich sehr besorgt um dich. Du hast mir oft aus meiner Not geholfen, aber aus dem Gefängnis konnte ich dich nicht befreien: ich habe kein Geld. Doch als ich hörte, daß du nach Tung-Pin-Fu geschickt werden solltest, lauerte ich vor dem Yamen des Gouverneurs; aber ich fand dich nicht. Nun hörte ich, daß du auf der Wache wartetest, und habe den Weingesellen gesehen, der die beiden Beamten bat, in seine Kneipe zu kommen, wo sie ein Geheimoffizier empfing. Ich hatte Angst um dich, fürchtete, die beiden Kerle würden dich unterwegs morden. Heimlich kam ich euch nach, sah, wie die zwei dich ins Gasthaus brachten, habe auch dort übernachtet und hörte, wie listig die zwei dir die Füße verbrühten. Damals wollte ich sie gleich töten, aber in der Herberge waren zuviel Menschen, und ich nahm an, das Gesindel würde den Beamten helfen. Als sie aber früh abmarschierten, bin ich in diesen Wald vorausgelaufen, hab' mich hier versteckt und wartete, bis diese Hundlinge mit ihren dummen Holzklötzen herausrückten. Bruder, sie wollten dich morden – Grund genug, diese Halunken einige Male umzubringen.«

Wu beruhigte ihn, bat ihn, das Beamtenzeug zu schonen, da die zwei ja keine Schuld hätten. Lis Augen funkelten drohend wie Raubtierlichter: »He! Ihr Zwergflöhe, ihr Mörderchen! Wenn ich euch nicht Wu Sung zuliebe schonen würde, hättet ihr hier als gehacktes Fleisch geendet. Wu Sung schenkt euch euer dreckiges Leben.«

Er steckte sein Dolchschwert wieder in die Scheide: »Auf! Gebt meinem Kameraden den Arm, helft ihm! Vorwärts marsch!«

Seinen Eisenstab schwingend, schritt er voran. Die Beamten hatten große Angst vor ihm, wagten kein Wort zu sagen, flüsterten leise Wu zu:

»Helfen Sie uns, bitte, damit wir noch mit dem Leben davonkommen.«

Sie nahmen ihre Pakete und Stöcke, mußten Wu aus dem Wald tragen. Als sie drei oder vier Li gegangen waren, kehrten sie in einer kleinen Dorfschenke ein, ließen viel Wein, Reis, Nudeln und Fleisch auffahren. Tung und Sieh fragten Li Chung höflich, in welchem Regiment er diene?

Lachte Li laut: »Im Teufelsregiment! Warum fragt ihr mich, ihr Kröten! Meint ihr, irgendein Arschgeneral oder Sauoberst wird gleich kommen, mit mir abzurechnen? Ich habe keine Angst vor ihm! Wenn er das Pech hat, mich zu treffen, soll er dreihundert Stockschläge von mir genießen. Wie gefällt euch mein Eisenstab?«

Die beiden hatten Angst und öffneten vor ihm nicht wieder den Mund. Sie zahlten, gingen weiter. Unterwegs fragte Wu: »Lehrmeister, wo gehst du jetzt hin?«

Li: »Wenn man töten will, muß man das Blut sehen, und wenn man helfen will, muß man bis zum Schluß zur Verfügung stehen! Ich werde dich bis Tung-Pin-Fu begleiten.«

Als die beiden Beamten das hörten, sagten sie sich: Furchtbar! Da hat er unsere ganze Sache verpatzt. Wenn wir nach Haus kommen, was werden wir sagen? Aber – vorläufig müssen wir nachgeben. Sie mußten nach Lis Eisenflöte tanzen: gehen oder rasten – er befahl; sie konnten nicht gegen ihn aufkommen. Wenn sie sich gut benahmen, beschimpfte sie Li, wenn sie Fehler machten, bekamen sie Schläge, deswegen sprachen sie nie laut, aus Angst vor Li Chung.

Bald besorgte Li einen Karren, den ein Mann von hinten schieben kann; Wu mußte sich hineinsetzen, und die Beamten mußten ihn abwechselnd schieben.

»Gerichtsbeamte sind doch sehr höflich«, schmunzelte Li.

Die ganze Zeit über waren die Beamten, für ihr Leben fürchtend, sehr sorgfältig und folgsam. Auf dem Wege kaufte Li Wein und Fleisch, ließ Wu essen, trinken und sich erholen. Wenn Wu fertig war, mußten die Beamten den Rest essen, im Gasthaus mußten sie Wu und Li bedienen und für beide kochen. Sie sagten sich heimlich: »Wir sind keine Beamten mehr, sondern arme Sklaven des Li Chung. Wenn wir überhaupt lebend zurückkommen, wird uns Oberst Lu T'sien bestrafen. Schade um die zehn Silbertael!«

Sie waren schon zwanzig Tage unterwegs – nur noch ungefähr sechzig Li bis Tung-Pin-Fu. Überall am Wege wohnten Menschen, es gab scheinbar keine gefährlichen Plätze mehr. Li hatte alle Leute ausgefragt und glaubte genau Bescheid zu wissen. Während sie in einem Tannenwäldchen saßen, um auszuruhen, begann Li zu Wu:

»Bruder, hier ist es nicht mehr weit nach Tung-Pin-Fu, und ich liebe keine Gerichtsstädte. Unterwegs wohnen überall gute Menschen, es gibt keine geheimen Mordplätze mehr. Fürchte dich nicht vor dem Gericht – so wahr ich fechten kann, sie werden dich weder totprügeln noch sonstwie töten. Ich bleibe in der Nähe, um dir im geheimen besser helfen zu können. Jetzt will ich hier von dir Abschied nehmen, wir trinken hoffentlich bald wieder zusammen.«

Wu: »Lehrmeister, gib mir immer Nachricht ins Gefängnis, wo du auch sein magst. Wenn ich in der Welt bleibe, werd' ich dir stets dankbar sein.«

Li nahm etwas Silber aus der Tasche, gab ein paar Tael den Beamten: »Ihr Mörderchen, unterwegs wollt' ich euch beiden den unnützen Kopf abschlagen, nur Wu Sung zuliebe hab' ich euch Lumpen das Leben geschenkt. Tung-Pin-Fu ist nahe, wehe euch, wenn ihr wieder etwas Schlechtes tut.«

Sie versprachen Besserung: »Wir wollen Wu Sung nicht anrühren, damals war das ein Befehl des Geheimoffiziers Lu T'sien!«

Sie hatten das Geld mit einem unverschämten, aber ängstlichen Gesicht genommen. Als sie dankend sich empfehlen wollten, sagte Li leutselig zu ihnen:

»Sind eure beiden Hohlköpfe härter als dieser grüne Tannenbaum?«

Sie: »Nein, nein, unsere Köpfe haben wir von unseren Eltern bekommen; draußen ist nur Fleisch, und innen sind zarte Knochen, wie können wir uns mit einem Tannenbaum vergleichen!«

Li schlug mit seinem Eisenstab auf eine Tanne los, mit gewaltiger Kraft, hieb auf einen Streich den Baum in der Mitte entzwei: »Ihr Aasgeier, wenn mit meinem Bruder etwas passiert, werde ich es mit euren Köpfen ebenso machen wie mit diesem armen Tannenbaum.«

Er brachte seine Kleider in Ordnung, hielt seine Hand Wu hin: »Leb wohl, Bruder!« Und ging mit langen Schritten fort. Als die beiden sahen, wie er mit dem Stock den Baum zerschlagen hatte, bekamen sie einen Schreck, rissen die Augen auf, ihre Zunge fiel hervor, sie konnten sie vor Angst nicht wieder in den Mund zurück bekommen. Nach einer Weile meinte Wu:

»Ehrliche Herren, wollen wir nicht weitergehen?«

Die beiden: »Ach, was für ein roher Mensch das war, nur ein Schlag, und der Baum ist entzwei.«

Wu Sung: »Na, das war für ihn eine Kleinigkeit, er hat im Gemüsegarten des großen Kanzlertempels einen Weidenbaum mit der Wurzel glatt aus der Erde gezogen.«

Die beiden wunderten sich, befühlten ihren Kopf und schüttelten ihn staunend. Sie gingen weiter bis tief in den Nachmittag – während dieses halben Tages hatten die beiden sich wieder von ihrem Schreck erholt und ihren Atem wiedererlangt. Gegen Abend kamen sie an einen Berg und suchten ein Weinhaus oder sonst eine Unterkunft zum Übernachten. Die beiden Beamten wollten im Wald schlafen, aber Wu Sung, der mit Wäldern schlechte Erfahrungen gemacht hatte, sagte:

»Wir brauchen noch nicht zu rasten, sondern wollen schnell gehen. Bergab finden wir schon ein Gasthaus.«

Die beiden waren einverstanden, man eilte bergauf, bergab, und schon von weitem sahen sie am Abhang einige Strohhütten, große grüne Weidenbäume und am Rande einen kleinen Teich. Zwischen den Weidenbäumen zwinkerte eine Weinfahne. Sie gingen schnell auf sie zu. Auf dem Wege begegneten sie einem Holzhacker mit einer gewaltigen Holzlast auf dem Rücken. Wu Sung fragte ihn:

»Bitte, können Sie mir sagen, wie der Ort dort heißt?«

Der Holzhacker: »Das hier ist der Mong-Chu-Weg, dieser Teil heißt Kreuzwegabhang.«

Als sie noch vor Sonnenuntergang in die Nähe des Weinhauses kamen, stand dort ein wickenumwucherter Baum, so dick, daß ihn drei bis vier Personen nicht umfassen konnten. Neben der Weinstubentür vor den Fenstern saß eine Frau; sie trug eine durchsichtig dünne grüne Seidenbluse und auf dem Kopf so viel Schmuck, daß man schon von weitem den goldenen Putz leuchten sah. Ihre Haare waren über die Ohren gekämmt, hinter den Ohren staken lieblich riechende Wildblumen. Als sie Wu Sung und die beiden Beamten sah, stand sie auf und trat zu ihnen. Unten trug sie einen rotseidenen Rock, einen hellblauen, blumenbestickten Seidengürtel. Das Gesicht war gepudert, die Lippen rot gemalt. Die Bluse war vorn nicht geschlossen, die Brüste leuchteten. Aus dem Brusteinsatz kam hier und da ein pfirsichblumenrotes Mieder hervor, von Goldknöpfen zusammengehalten. Sie sagte:

»Die Herrschaften können vielleicht bei uns ein wenig rasten? Wir haben für müde Füße guten Wein, gutes Fleisch. Wenn die Herren etwas anderes möchten – wir haben auch große gefüllte Knödel mit dickem Teigüberzug: herrlicher Sauce.«

Die drei gingen in die Stube und setzten sich an einem Tisch aus rohem Holz nieder. Die beiden Beamten lehnten ihre Feuer-Wasser-Stöcke gegen die Wand, warfen ihre Pakete unter den Tisch und setzten sich auf die von Wu Sung angebotenen besten Plätze. Dann nahm Wu sein Paket und seinen Gürtel ab, ihm war von dem langen Marsch so heiß, daß er sein Leinenhemd auszog. Die Beamten sprachen freundlich:

»Hier kann uns niemand sehen – wir wollen eine unverantwortliche Sache tun. Wir nehmen Ihnen das Brett vom Hals, dann können wir lustig ein paar Becher Wein trinken.«

Sie lösten die Papiersiegel, nahmen das Halsbrett auseinander und legten es unter den Tisch. Die Hitze war unerträglich, sie gingen fast nackt. Ihre Sachen legten sie neben das Fenster und hörten schon das Weib lächelnd fragen: »Wieviel Wein möchten die Herren haben?«

Wu: »Wir können Ihnen noch nicht sagen, wieviel; bringen Sie warmen Wein her, wir möchten auch drei bis fünf Pfund Fleisch essen. Zahlen werde ich später alles zusammen.«

Die Frau: »Wir haben auch ausgezeichnete gefüllte Klöße.«

Wu: »Bringen Sie davon auch so zwanzig her zum Knabbern.«

Sie lachte über diesen Appetit und ging hinaus. Dann trat sie wieder ein mit einem großen Fäßchen Wein, auf den Tisch stellte sie drei Schalen, drei Paar Stäbchen und zwei Teller voll Fleisch. Die Schalen füllte sie mit Wein, ihre Dienstwilligkeit zu zeigen. Aus der Küche holte sie einen großen Behälter voll Klöße. Die beiden Beamten hatten großen Hunger und aßen tüchtig. Wu Sung öffnete ein Klößchen:

»Weinwirtin, sind die Klößchen mit Menschenfleisch oder mit Hundefleisch gefüllt?«

Die Frau: »Der Herr macht nur Spaß! In dieser ruhigen Welt unter einem so guten Kaiser, wie kann man Menschenfleisch in Klößchen kochen! Unsere Klöße sind sehr berühmt, seit meinem Urgroßvater ist unser Gasthaus dafür bekannt, daß wir immer nur gelbe Ochsen zur Füllung verwenden.«

Wu Sung: »Ich war auf Fluß und See und habe von vielen Leuten gehört: Großer Baum, Kreuzwegabhang – wer wird dort vorbeigehen? Dicke füllen die Klöße, Dünne füllen den Fluß.«

Sie: »Solche Sachen gibt es nicht! Wie kann man einen Menschen morden, das haben Sie selbst erdichtet.«

Wu: »Ich habe die Klöße geöffnet und gesehen, daß in einigen Haare waren. Das Haar sieht aus wie – – – darum zweifle ich!«

Alle lachten über seine Rede. Aber plötzlich fragte Wu wieder, verwundert über die Sorglosigkeit oder Unkenntnis Li Chungs, der sie vielleicht zu früh verlassen hatte: »Frau, warum können wir Ihren Mann nicht sehen?«

Sie: »Mein Mann ist irgendwohin in die Arbeit gegangen und bis jetzt nicht zurückgekommen.«

Wu schnitt ein erstauntes Gesicht: »Ach so! Dann ist es Ihnen wohl allein immer sehr langweilig!«

Sie lachte und dachte sich: Der Diebskerl will seinen Tod finden! Dieser Verbrecher möchte gern mit mir etwas anfangen, er ist so wie die Nachtschwärmer, die zuerst ums Feuer spielen und dann sich verbrennen. Er kommt – und schon möchte er mich zum Narren halten. Ich werde diesen Dummkopf erledigen!

Laut antwortete sie: »Der Herr möge nicht über meine Klöße spotten! Trinken Sie lieber noch einige Schalen Wein und gehen Sie dann nach hinten und kühlen sich im Schatten ab. Wenn Sie hier übernachten möchten – bitte!«

Wu Sung fühlte irgendwie: Die Frau hat keine gute Absicht! Na, ich werde sie schon reinlegen.

Der Wein war alle, sofort stellte Wu sie auf die Probe: »Wirtin, Ihr Wein ist zu dünn, hat zuwenig Alkohol, haben Sie keinen andern guten Wein?!«

Wirtin: »Wir haben sehr guten Wein, mit herrlichem Aroma, aber er ist nicht sehr klar!«

Wu: »Das ist sehr gut, je trüber, desto besser.«

Sie lächelte innerlich, ging und holte eine große Flasche trüben Wein. Er sah ihn und rief wie begeistert: »Das ist der beste Wein! Aber man kann ihn nur trinken, wenn er heiß ist.«

Sie freute sich: »Der Herr weiß Bescheid, ich werde gehen, ihn für Sie wärmen.«

Als sie wiederkam, sagte sie munter: »Die Herren können vielleicht riechen, ob er gut ist.«

Die beiden Beamten hatten Hunger und Durst wie die Wölfe, griffen sofort nach dem Wein und tranken.

Wu: »Ich habe nie Wein allein getrunken, jetzt gibt es kein Fleisch mehr, aber ich muß noch etwas Fleisch haben.«

Sie ging Fleisch holen, und Wu goß inzwischen den Wein schnell in die Ecke, leckte die Lippe mit der Zunge und schmunzelte: »Das schmeckt! Guter Wein, guter Wein! Nur solchen Wein kann ein alter Dattelhändler trinken!«

Die Frau war nicht nach hinten gegangen, Fleisch zu holen – hinter dem Vorhang schoß sie hervor, klatschte in die Hände: »Umfallen! Umfallen!«

Die beiden Beamten sahen Himmel und Erde weich in eines verschwimmen, ihre Augen verdrehten sich, sie öffneten den Mund und fielen hintenüber wie schwere Pakete. Wu tat zum Schein desgleichen, schloß die Augen und fiel wie ein Sack auf eine Bank. Er hörte die Frau lachen: »Jetzt hast du es bekommen! Du kannst schlau sein wie ein Teufel – trotzdem mußt du deiner alten Großmutter schmutziges Fußwasser trinken!«

Sie lief hinaus, schrie: »Kleine Kerle, kommt schnell hierher!«

Aus einem Versteck sah Wu zwei oder drei große Menschen hervorrennen, die schleppten die beiden Beamten nach hinten. Die Frau kam an den Tisch, nahm die Pakete der Beamten, prüfte die Schwere, wog sie in der Hand und dachte: Nichts als lauter Silber und Münzen! Sie grinste: »Heute die drei Kopfgeschäfte sind gut, na, so haben wir für einige Tage Fleisch auf Klöße für die nächsten Gäste. Außerdem noch Trinkgeld!«

Sie nahm alles, trug es in eine Kammer und befahl den zwei großen Kerlen, auch Wu Sung nach hinten zu bringen; aber er war zu schwer für die beiden. Er lag auf einem Stuhl und sah aus, als ob er über tausend Pfund wiege. Die Frau schrie: »Ihr Stümper! Könnt nur fressen und saufen und das Vieh nicht verstauen! Eure alte Großmutter muß selber helfen! Der große Schweinemensch da hat mich tüchtig geärgert. Er ist so dick und fett – sehr gut als gelbes Ochsenfleisch zu verkaufen! Die beiden Dünnen sind leider nur als Wasserochsenfleisch anzubringen! Bringt diesen zuerst hinein, damit wir ihn zurichten können.«

Wu hörte das, seine Augen waren geschlossen, aber er dachte: Die Frau hat ihre grüne Bluse ausgezogen und den roten Rock abgestreift; jetzt steht sie in einer farbigen Hose vor mir, ihre beiden Arme sind entblößt, und sie versucht mich hochzuheben.

Er benützte die Gelegenheit, daß sie nah an ihn herankam, umschlang sie mit beiden Armen fest, ihre Beine klemmte er zwischen seine Füße. Er warf sich herum und lag auf ihr. Sie schrie wie ein Masthund, der abgestochen wird. Die beiden Kerle wollten herbeikommen, ihr helfen. Aber Wu Sung brüllte sie so wild an, daß beide vor Schreck zurückfuhren. Die Frau lag unten und wimmerte: »Guter Held, ich bitte um Gnade!«

Sie fürchtete sich, konnte sich unter seiner Körperfülle nicht bewegen. Zur selben Zeit trat in die Tür ein Mann mit einer Last Holz. Er warf es vor die Tür, sah die Gruppe, schlug beide Hände zusammen: »Guter Held, bitte, seien Sie nicht so wild. Lassen Sie die Frau wieder frei, kleiner Mensch möchte mit Ihnen sprechen!«

Wu Sung sprang auf, stellte einen Fuß auf sie. Beide Hände ballte er zu Fäusten, sah den Mann an. Der trug auf dem Kopf eine schwarze Bergmütze, die seine Haare zusammenhielt. Sein Körper war mit einem weißen Leinenüberzieher bekleidet, die Beine waren bis zum Knie mit Gamaschen umwickelt. An den Füßen trug er Strohschuhe, mit acht Schnüren fest um die Fesseln geschnürt, an der Hüfte einen Gürtel mit Tasche. Das Gesicht war knochig, Bartstoppeln standen um Mund und Wangen. Sein Alter schätzte Wu auf fünfunddreißig Jahre. Der Mann faltete seine Hände, wandte sich respektvoll an Wu:

»Ich möchte um den Namen des guten Helden bitten.«

Wu: »Mein Name muß nicht geheim bleiben! Ich bin Hauptmann Wu Sung!«

Der Mann: »Sind Sie nicht der Held, der auf dem Ching-Yang-Berg den Tiger erschlagen hat?«

Wu: »Der bin ich.«

Der Mann kniete nieder und begrüßte ihn feierlich:

»Ich habe Ihren Heldennamen schon oft gehört und habe heute die unverdiente Ehre, Sie bei mir empfangen zu können.«

Wu: »Sind Sie nicht der Mann dieser Frau?«

Er: »Das ist meine Frau! Sie hat Augen, hat aber das Tai-Gebirge nicht erkannt! Weiß nicht, wieso sie den Offizier beleidigt hat! Bitte, sehen Sie auf kleinen Zwerges mageres Gesicht und entschuldigen Sie, bitte, ihre Tat!«

Wu ließ die Frau frei: »Ich sehe, ihr beiden, Mann und Frau, seid keine gewöhnlichen Bürger, darf ich nach dem Namen fragen?«

Die Frau lief fort, brachte ihre Kleider in Ordnung und bat dann um Verzeihung.

Wu: »Eben war ich sehr rauh, hoffentlich nimmt es mir große Schwägerin nicht übel!«

Sie: »Ich habe Augen, habe Sie aber nicht erkannt, bitte, kommen Sie ins Gastzimmer.«

Er fragte sie dort abermals nach ihren Namen und woher sie beide seinen Namen kannten.

Der Mann: »Kleiner Mensch heißt mit Familiennamen Chang, und sein eigener Name ist Chin. Früher war hier ein blitzheller Tempel eines Augengottes bei der Feuerverwaltung, und ich war der Gemüsegärtner des Tempels. Wegen einer Kleinigkeit habe ich mich geärgert und den unnützen Mönch dieses Kun-Min-Tempels getötet, dem Feuergott seinen Tempel angezündet und alles vernichtet. Später hat mich niemand angezeigt, niemand fragte. Kleiner Mensch blieb am Abhang, die Wanderer zu plündern. Eines Tages sah ich einen alten Mann mit einer Holzlast vorbeigehen. Kleiner Mensch sah, daß der Mann alt war, und wollte ihn ausrauben; aber er hat mit mir gekämpft und mich mit seinem Stock niedergeschlagen. In seiner Jugend nämlich hatte dieser Alte auch herumgeräubert. Er sah, daß bei mir Hand und Fuß flink waren, brachte mich zu sich nach Haus und gab mir Unterricht im Fechten und Faustkampf, dazu seine Tochter zur Frau. Später konnte ich wegen der Teuerung in der Stadt nicht mehr leben, zog wieder hierher, baute einige Strohhütten, nähre mich scheinbar vom Weinausschank. In Wirklichkeit lebe ich nur von den Kaufleuten und Wanderern. Wenn wir den Leuten etwas Geld anmerken, geben wir ihnen gute Schlafmittel ins Getränk. Während sie scheintot sind, schlachten wir sie schmerzlos. Die dicksten verwenden wir als gutes gelbes Ochsenfleisch, das Magerfleisch, die dünnen und kleinen Kerle, zerhacken wir in winzige Stücke und füllen damit die Klöße. Öffentlich bin ich Holzhauer und verkaufe Holz in der Nähe des Dorfs. Die Männer, die ins Gras gefallen sind: die Helden auf Fluß und See – alle Räuber wissen, daß ich gern mit tapfern Menschen Bekanntschaft mache, und nennen mich den Gemüsegärtner Chang Chin. Meiner Frau Familienname ist Sun. Sie hat bei ihrem Vater gut Fechten gelernt. Die Leute nennen sie Teufel Sun. Eben kam ich als Holzhauer zurück aus dem Wald und hörte von weitem meine Frau schreien und habe nicht geahnt, ich würde den Herrn Offizier treffen. Ich habe meiner Frau oft gesagt, es gäbe drei Sorten Menschen, die sie nicht betäuben und verhacken dürfe. Die ersten sind die überall herumwandernden Mönche, Bonzen und Taoisten. Die haben nie mehr als das Nötigste zum Leben, außerdem sind sie aus dieser Welt geschieden. Die zweite Sorte Menschen sind Straßenmädchen oder Straßensängerinnen. Die sind hier und dort umhergewandert, haben viele Männer zu sich nehmen müssen, haben ihr armes Fleisch verkauft, um Geld zu bekommen und dies Leben bestreiten zu können. Wenn wir diesen Armen etwas antun, wird eine zur andern bald darüber sprechen und auf der Bühne sagen: ›Die guten Helden auf Fluß und See sind gar nicht heldenhaft, sie tun unmoralische Dinge!‹ Ich habe ferner zu meiner Frau gesagt, die dritte Art Menschen, die wir verschonen müssen, sind die Verbannten, die überallhin verschickten Sträflinge. Unter ihnen gibt es sehr viel Helden und ungerecht Verurteilte, darum darf man ihnen nichts antun. Ich habe nicht gedacht, daß meine Frau wieder auf mein Wort nicht hören und heute den Offizier belästigen würde.«

Teufel Sun: »Ich wollte anfangs keineswegs so etwas tun, aber später merkte ich an Onkels Paket, wie schwer es war, und dann ärgerte ich mich, weil er eine zudringliche Sprache führte, und ich glaubte, er sei kein anständiger Mensch – dadurch bin ich auf solche Gedanken verfallen.«

Wu Sung: »Ich bin ein ehrlicher Mann. Wie könnte ich mit anderer Leute Frauen spielen? Ich merkte, daß Schwägerin immer auf mein Paket guckte. Zuerst zweifelte ich, darum habe ich mit Ihnen in leichtem Ton gesprochen, um Sie aufs Eis zu führen. Was den Wein, den Sie für mich gebracht haben, betrifft, den habe ich gleich fortgegossen und tat wie vergiftet, aber als Sie kamen, mich auf die Schlachtbank zu holen, da habe ich Sie natürlich festgehalten. Es war rauh von mir – hoffentlich nimmt Schwägerin mir's nicht übel.«

Chang Chin lachte und bat Wu Sung, in eine kleine Kammer zu kommen.

Wu: »Bruder, bitte, befreien Sie zuerst die beiden Beamten.«

Chang Chin führte ihn in seine Menschenschlächterei. Als sie hineinkamen, roch es überall nach verwestem Fleisch.

An der Wand hingen einige abgezogene Menschenhäute, an den Trägern Beinknochen, auf der Schlachtbank lagen die zwei Beamten.

Wu: »Großer Bruder, lassen Sie die beiden wieder zu sich kommen.«

Chang Chin: »Offizier, darf ich Sie zuerst vorsichtshalber fragen, was für eine Strafe Sie haben? Wohin sollen Sie geschickt werden?«

Wu Sung erzählte kurz seine Abenteuer. Mann und Frau staunten und freuten sich, wurden dann aber besorgt.

Chang Chin: »Kleiner Mensch möchte Ihnen einen Rat geben – ich weiß nicht, ob der Offizier daran denkt?!«

Wu: »Großer Bruder, sprechen Sie – das schadet doch keinesfalls.«

Chang Chin: »Es kommt aus keiner schlechten Absicht, was kleiner Mensch Ihnen rät. Da Sie drei Menschen: Goldlotos, Si Mên, Schlächter Chêng, getötet haben, da ein Ihnen anvertrauter großer Schatz geraubt wurde, muß Ihnen klar sein, daß Sie bei Gericht viel Unannehmlichkeiten erleben könnten. Es ist am besten, Sie lassen die beiden Beamten schön bei mir sterben, dann können Sie selbst für immer hierbleiben. Wenn der Herr Offizier ins Gras fallen möchte, wird der kleine Mensch Sie persönlich an die besten Räuber empfehlen. Was denken Sie davon?«

Wu Sung: »Ihr Plan kommt aus gutem Herzen, aber eine wichtige Sache spricht dagegen: Wu Sung schlägt während seines Lebens nur die härtesten Menschen der Welt! Die beiden Beamten können nichts für den schlimmen Auftrag, den man ihnen gab; wenn ich die zwei ermorden lasse, wird mich der Himmel dafür strafen. Wenn Sie mich wirklich schätzen, bitte, helfen Sie meinen beiden Begleitern ins Leben zurück und tun Sie ihnen nichts.«

Chang Chin sprach: »Gerichtsbeamte zu töten ist kein Verbrechen! Aber wenn der Offizier so übertrieben gewissenhaft ist, werde ich die beiden sofort wieder zu sich bringen, obwohl es schad' um das gute Fleisch ist. Ich rate Ihnen dann: Wandern Sie von hier allein fort, und lassen Sie die zwei Beamten bei mir Räuber werden!«

Wu: »Ich bin ein Mann, ich werde nicht fliehen. Aber wenn Tung und Sieh damit einverstanden sein sollten, Ihre Gehilfen zu werden – desto besser!«

Chang Chin rief seine zwei Gesellen herbei, sie hoben die zwei Beamten von der Schlachtbank hoch, und Teufel Sun brachte eine Schüssel mit einem Gegengift. Chang hielt die Beamten mit einer Hand beim Ohr fest und goß ihnen die Medizin in den Mund. Nach einer halben Stunde erwachten beide wieder aus ihrem schweren Traum. Sie sahen Wu an und sagten:

»Wie konnten wir uns hier so betrinken! Die Leute haben aber sehr guten Wein! Wir haben nicht viel getrunken und fühlen uns so gut! Wir müssen uns das merken, und wenn wir zurückkommen, kehren wir wieder ein, hier Wein trinken.«

Wu lachte, und Chang Chin und seine Frau lachten auch, aber die zwei Beamten wußten noch nicht, was los war. Changs Gesellen schlachteten Hühner und Gänse, kochten sie gut und deckten den Tisch mit Weinbechern, Stäbchen und Tellern. Unter der Weinlaubhütte standen Stühle und Tische, Chang Chin lud Wu Sung und die beiden Beamten ein, Platz zu nehmen. Die zwei Beamten saßen auf dem Ehrenplatz, Wu und Chang auf dem Gastplatz, die Frau auf dem Querplatz. Die Gesellen füllten die Becher mit Wein und brachten Gemüse und Fleisch. Dann erzählte Chang Chin den beiden Beamten, daß Wu Sung ihnen das Leben gerettet. Tung und Sieh hörten es, erschraken, staunten und knieten nieder, um Wu Sung ihre tiefe Achtung zu zeigen. Sie sprachen:

»Sie haben uns grausamen, bösen Menschen verziehen, Sie haben uns zum zweitenmal das Leben gerettet, Sie sind frei!«

Wu hob sie hoch: »Es ist Schicksal, daß ihr zwei mich hierher gebracht habt; ich habe keine Absicht, euch Schlimmes zu tun. Aber ich betrachte meine verbrühten Füße als genügende Strafe für den Tod dreier Tigermenschen. Wenn ich nun noch außerdem in Tung-Pin-Fu vor Gericht komme, wird man mich töten, und ihr werdet schuld haben an meinem Blut. Da ist es besser, wir schließen uns den Helden auf Fluß und See an und tun einander kein Unrecht! Bitte, trinken Sie weiter Wein, und bleiben Sie dann hier als Chang Chins Gesellen. Eh ich allein weitergeh' ins Gebirge und dort ins Gras falle, werd' ich Sie beide noch belohnen.«

Tung und Sieh waren ganz einverstanden, nickten:

»Kleine Räuber oder kleine Beamte – was ist der Unterschied?! Wir können aber auch irgendeinen andern Kopf aus der hiesigen Schlächterei dem Geheimoffizier Lu T'sien als Wu Sungs Schädel mitbringen.«

So übernachteten alle fröhlich bei Chang Chin. Am nächsten Tag wollte Wu Sung allein weitergehen; aber Chang Chin ließ ihn nicht fort und behielt ihn noch drei Tage. Alle fühlten sich beieinander in tiefer Schuld und tranken trunken Blutsbrüderschaft. Wu aber, der ruhelos war, wollte endlich von ihnen scheiden, da tranken sie noch einmal guten Wein. Er öffnete sein Paket, schenkte den Beamten, was er an Geld oder Silber besaß, und dankte ihnen für die Freiheit. Dann nahmen die Beamten sein Halsbrett, verbrannten es, ums Feuer tanzend, und wärmten daran den letzten Abschiedswein. Mit tränenden Augen nahmen sie dann Abschied von Wu, der betrunken um Sonnenaufgang in den Wald stolperte – ohne Stock, ohne Schwert.


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