Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wu Sung ging wieder kleine struppige Tigerwege – auf den großen Landstraßen und in den Städten gab es Plakate, vor denen standen Leute und lasen eifrig einen Steckbrief. Ein Sterntiger oder ein ehemaliger Hauptmann, seines Zeichens ein Schatzräuber und mehrfacher Totschläger, wurde gesucht von Behörden, die noch jeden Schatz geraubt, jeden Menschen getötet hatten, den sie ohne Furcht vor Strafe berauben oder ermorden konnten. Wu Sung ging kleine, struppige Wege, denn er war nicht mehr Befehlsbeamter, sondern gehetzt, und hatte also keine Zeit mehr, den richtigen Weg zu suchen. Er stieg nicht ins Gebirge, er schlug sich immerhin nicht zu den Räubern, obwohl er dergleichen Chang Chin, Tung und Sieh versprochen hatte: Es schien ihm nämlich, als hätte er im Blutrausch bereits genug getötet. Er lebte in mondlosen Wäldern, aß Spinnwebbeeren und Wasserschwämme, und nur wenn ihm die wilden Schalenfrüchte und Dornengemüse gar nicht mehr schmeckten, fing er im Traum Wild und stillte damit seinen Hunger, weil die Steine noch immer zu hart, zu unverdaulich waren. So hungerte er viel, und es ist ungewiß, ob er nicht manches von dem, was er nun litt, am Ende nur zusammengeträumt hat? Da aber die meisten Klöße aus Menschenfleisch nie zum Leben erwachen, vielmehr geboren werden, Bärte bekommen oder Brüste, dann sterben, ehe ihnen so viel Klarheit geschenkt wird, daß sie wissen, wann sie träumen oder was sie träumen, sei ohne vermessenes Urteil über Wahn, Traum oder Wachen auch fernerhin berichtet, was Wu Sung im Rauschtraum oder sonstwie erlebte.
Etwas begann damit, daß in allen Weinstuben die Weingesellen Wu Sung sagten: »Der große Herr hat uns allen verboten, Ihnen Wein zu verkaufen.«
Er fragte: »Welcher große Herr?«
Aber niemand antwortete ihm. Er wollte sie verachten, im Warmen übernachten, aber keine Herberge nahm ihn auf. Auch die Bäume drohten wie Feuer-Wasser-Stöcke, in den Höhlen war es dunkel, und den Göttern war es nicht recht, wenn er in ihren leeren Tempeln umsonst übernachtete. Sie verlangten dafür Silbertael. Es blieb nichts übrig, als mit langen Schritten vorwärts zu laufen. Die wunden Füße, unter dem Leib abgelaufen, brannten. Gutes konnte trotz aller Eile nicht kommen, nur immer wieder der Abend, Verlust des roten Sonnenballs, die Nacht.
Es war fast dunkel, und wenn es auch infolge des Rausches nicht ganz klar ist, warum Tung und Sieh, wenn sie überhaupt vollzählig vorhanden waren, Wu Sung, der schon wieder sein schweres Halsbrett schleppte, begleiteten (vielleicht hatten sie ihn nie verlassen) –, eines schien klar: alle drei fürchteten sich. Ihre müden Füße fragten: »Gehen oder nicht gehen?« – Ihre Köpfe wackelten: »Wie konnten wir nur den großen Herrn so erzürnen? Nun bekommen wir keinen Wein mehr, es gibt keinen Rauschtrank, Licht gibt es nicht und keinen richtigen Weg, und in den Herbergen machen die Frauen Klößchen aus uns, wenn wir schlafen. Nur den Dattelhändlern geschieht nichts. Wenn wir Armen auch noch so viele Li weit laufen, bleiben wir doch vorbestrafte Gefangene. Wir haben leider genug getan, den Ruf unserer Geburtsstadt für alle Ewigkeit zu vernichten, wir haben für immer die Schlafstelle verloren. Früher gingen wir zu jeder Stunde mit Stock und Schwert herum und zankten engherzig mit den Soldaten oder erbärmlichen Hofoffizierchen, nun tappen wir im Düstern zwischen zerbrochenen Strohhütten hin und her, und das Unglück wird uns in den Fluß werfen, weil es nach Rache dürstet. Warum will es nicht bei den Nachbarn anklopfen und dort suchen?«
Die Beamten trugen ihre Pakete, Wu Sung schleppte sein Halsbrett. Unter dem Sternenlicht flohen sie alle drei, endlich den richtigen Weg zu suchen. Viele Gongzeiten waren sie gelaufen wie Wandermönche, bis sie vor sich nur Schilf sahen. Hinter dem Schilf schnarchte ein großer Fluß, breite Wellen bewegten sich, heute flach, morgen hoch. Von hinten rief jemand das Gewässer. Qualmendes Licht wurde sichtbar, irgendein Tung schrie: »Himmel hilf!« Sung brüllte: »Wenn ich kein Halsbrett trüge, sondern mein Schwert, würd' ich mit denen kämpfen!«
Sie mußten sich alle drei im blutroten Schilf verstecken, das Licht drohte immer näher und näher. Sie krochen langsam im scharfen Schilf vor, bis an den breiten Fluß, der von keinem Weg wußte. Wu Sung stöhnte in den Strom:
»Wenn ich solche Gefahren geahnt hätte, wär' ich am liebsten im Mutterleib geblieben. Wer dachte, daß wir unser Leben hier abgeben müssen!«
Sie lugten vorsichtig umher, sahn ins Schilf, das tief im Wasser fror, ein Boot dringen, schrien mörderisch:
»Mann, bringen Sie das Boot rasch her, helfen Sie uns doch. Wir geben Ihnen Silber, Silber, Silbergeld!«
Der lange, hagere Fährmann fragte: »Wer seid ihr drei, wie könnt ihr hierherkommen?«
Wu Sung: »Hinter uns sind Räuberbeamte, die wollen uns bestehlen, wir mußten deshalb diesen Weg einschlagen, der keiner ist, bringen Sie Ihr Boot her, und schenken Sie uns das andere Ufer, wir geben Ihnen dafür noch mehr Geld, Silbertael!«
Der Ruderer brachte sein Boot in die Nähe, alle drei sprangen hinein. Tung legte die Pakete eilends auf den Boden des Bootes, Sieh schob, stieß es mit seinem Feuerstock ab vom Schilf. Der Fährmann ruderte hinten stehend das Boot in die Mitte des Stroms: er hörte das schwere Paket auf den Boden schlagen und freute sich über den Klang.
Bald waren sie weit vom Ufer entfernt, aber schon standen auch Wu Sungs Verfolger am Strand im Feuerschein brennender Bäume. Die Anführer waren zwei große Männer mit breiten Schwertern in den Händen, dahinter über zwanzig Menschen mit Ackergeräten, Lanzen und Stöcken. Sie schrien:
»Sie! Fährmann, bringen Sie Ihr Boot schnell her!«
Sung und die beiden Beamten kauerten eng aneinandergeschmiegt in der kleinen Schiffskajüte und baten: »Schiffer, tun Sie das nicht, wir geben Ihnen noch mehr Geld zum Lohn.«
Der Fährmann nickte mit dem Kopf, gab den Feinden keine Antwort, ruderte das Boot schnell stromabwärts. Die im Schilf riefen:
»Sie, Fährmann, wenn Sie das Schiff nicht sofort zu uns herrudern, werden wir euch alle töten!«
Der Fährmann lachte Eis, tat nichts dergleichen. Die Feinde brüllten:
»Fährmann, Sie haben eine große Galle, viel Mut, daß Sie nicht an den Strand rudern!«
Der Fährmann, kühler als das Wasser, lachte auf:
»Ich bin der älteste Großvater, ich bin der Ruderer Pei-lai-ho! Sie alle miteinander können mir auch nicht ein Stückchen Fleisch abbeißen! Sie können nur morgen oder übermorgen mit mir sprechen, heute möchten meine Fahrgäste so schnell wie möglich hinüber. Jenseits ist das beste Ufer!«
Ein Anführer der Feinde steckte vor Wut das trocken rasselnde Schilf in Brand, tobte im Rauch:
»Ich muß die drei Fahrgäste festnehmen! Es sind Beamte, die keine Räuber sein wollen!«
Der Fährmann: »Die drei Fahrgäste sind meine Verwandten, meine Broteltern, eben lade ich alle drei ein, einen guten Schluck Flußwasser zu trinken!«
Der Häuptling der Feinde: »Darüber läßt sich sprechen! Bringen Sie doch die drei Kerle hierher!«
Der Fährmann: »Das ist mein Brot! Es würde Ihnen gut passen, mich darum zu bringen. Viele Nächte lang hab' ich keinen einzigen Fahrgast gehabt, eben erwisch' ich eine gute Drei-Kopf-Ware, und schon wollen Sie sie mir wegschnappen!«
Wu Sung freute sich über diese Rede, flüsterte Tung und Sieh ahnungslos zu:
»Es ist sehr schwer, einen so guten Fährmann zu finden! Er hat unser Leben gerettet und ist noch dazu mit unseren Feinden in Wortwechsel geraten. Wir dürfen seine Güte nie vergessen! Ist es nicht ein Glück für uns, so ein Boot zu bekommen, so einen Fährmann?«
Der Fährmann ruderte ruhig weiter – schon war von der Kajüte aus das brennende Schilf nicht mehr zu sehen, verschwunden die flammenden Bäume. Und Wu Sung frohlockte:
»O Himmel! Wir haben einen guten Menschen getroffen, und die schlechten entfernen sich – er hat uns vor dem Unglück bewahrt!«
Der Fährmann ruderte und sang:
»Ich Flußgroßvater bin ein Ufer, das trennt von der Welt!
Ich mag keine Freundschaft, ich liebe nur Geld.
Gestern nacht gab es blutroten Wetterlichtschein –
Zum Abschied her mit eurem goldenen Stein!«
Wu Sung und seine Beamten wurden schneeweiß. Sie überlegten noch: »Vielleicht singt er so nur zum Vergnügen?« – als plötzlich der Schiffer sein Ruder hinwarf:
»Ihr Landläuse! Ihr Beamten zieht anderen Menschen den ganzen Tag nur das Geld aus. Heut aber ist euer Glück in meine Hand gefallen! Möchtet Ihr Brettschwertnudeln oder Fleischvögel essen?«
Wu Sung: »Der Herr Fährmann möge mit uns nicht so scherzen! Was heißt das: Brettschwertnudeln? Was heißt das: Fleischvögel?«
Der Fährmann öffnete seine Augen weit: »Der alte Flußgroßvater spielt mit euch nicht! Wenn ihr Brettschwertnudeln essen wollt – hier habe ich ein sehr scharfes Schwert, es liegt hinter dem Brett. Ich werde damit nur zwei-, dreimal auf einen Menschen losschlagen, und er liegt wie eine Nudel im Wasser! Wenn ihr lieber Fleischvögel spielen wollt, zieht euch schnell eure Kleider aus und springt nackt ins Wasser. Ertrinken ist auch gut!«
Wu Sung besaß keine Waffe, er konnte nicht schwimmen, nur trinken, und da er Wasser nicht liebte: ertrinken. Er umarmte verzweifelt die Gerichtsbeamten: »Mein Glück kommt nicht zusammen, das Pech kommt nicht allein. Man wollte mich ins Gefängnis schicken: man wollte mir das Leben schenken!«
Der Fährmann: »Wer will euch drei begnadigen? Was redet ihr für Unsinn? Ich tue nichts halb. Ich bin ein böser Hund: Ich beiße alle! Ich kenne niemand, nur Geld! Ins Wasser mit euch!«
Wu Sung kniete nieder: »Herr Silbertael! Wir geben Ihnen unser ganzes Geld, alle Kleider, die wir im Paket haben, lassen Sie uns unser Leben!«
Der Fährmann aber holte unter dem Brett ein helles strombreites Schwert hervor: »Was verdient ihr drei?«
Wu Sung krümmte sich: »Weil ich Himmel und Erde nicht achtete, weil ich meinen Eltern nicht gehorchte, weil ich meine Mutter allein sterben ließ, habe ich meine Strafe bekommen. Aber der unschuldige Mörder will euch zwei nicht reißen in seinen Tod!«
Die kleinen jämmerlichen Gerichtsbeamten hielten Wu Sung fest und quäkten: »Hauptmann, laß! Laß! Wir drei können ganz gut zusammen sterben!«
Der Fährmann quetschte die drei zusammen: »Was? Ihr Todesdrillinge wollt nicht schnell die Kleider ausziehen und ins Wasser gehen? Ich habe nicht genug Zeit, euren Wind anzuhören, ich werde euch ins Wasser abschlagen!«
Die drei kauerten sich immer mehr zusammen, bis sie ein Mensch waren. Wu Sung lauschte, schaute; von weitem kam auf dem Wasser daher ein schnelles Boot. Der wilde Fährmann drehte sich um, zu sehen, was auf den Wasserwellen wie fliegend herbeikam. Auf dem Eilboot standen drei Leute: Ein großer Mann hielt in der Hand eine gabelartige Waffe, die im Sternenlicht funkelte, hinten standen zwei junge Ruderer. Der große Mann rief:
»Wer da? Wer darf bei mir auf dem Wasser ein Geschäft machen? Was drin im Schiff ist und was ich sehe, daran muß ich teilhaben. Ist es etwas Gutes?«
Flußgroßvater: »Da werden Sie sicher lachen! In den letzten Tagen hab' ich im Spiel viel Geld verloren und besitze keine einzige Münze. Als ich am Sandstrand saß und mich ärgerte, kamen viele Menschen und jagten eine Drei-Kopf-Ware mir zu. Es sind zwei Räuberbeamte und ein großer dicker Gefangener. Die Hinterherläufer wollten mir die Beute abnehmen. Ich aber sah, daß es etwas Gutes war, und stieß ab. Zwei sind vor Angst in den Rauschstrom gesprungen, der dritte –«
Der große Mann, zum Flußgroßvater ins Boot springend und den Fahrgast scharf ansehend: »Ist Tigerhauptmann Wu Sung! Und ich heiße ›Regen-zur-rechten-Zeit‹. Herr Hauptmann – ich bin der Oberste der Geheimen Salzverkäufer –, wollen Sie mit uns ehrlichen Schmugglern eine Fischsuppe essen?«
»Was heißt Fischsuppe?« fragte geängstigt Wu Sung, dem noch die Brettschwertnudeln, die Fleischvögel und der Schluck Flußwasser schwer im Magen lagen.
»Fischsuppe heißt bei mir Fischsuppe«, lachte Regen-zur-rechten-Zeit, »aber sie schmeckt nur, wenn man nüchtern ist. Herr Hauptmann, ich habe Sie oft im Amt gesehen und noch öfter auf den Steckbriefen. Aber bei mir sind Sie sicher, wenn auch die Eselsregierung tausend Münzen für Ihren Kopf übrig hat.«
»Tausend Münzen!« schnaufte der Flußgroßvater.
Regen-zur-rechten-Zeit: »Nicht einen Silbertael bekommst du, wenn du den Tigertöter angibst, aber von mir meine Fischgabel in den Hintern. Wir Helden auf Fluß und See wissen einen Bluträcher wie Hauptmann Wu Sung zu ehren. Es gibt genug anständige Geschäfte auf dem Yang-Tzu-Fluß. Wenn ich Ihnen etwas davon erzähle, werden Sie uns sofort vertrauen, Offizier. Auch haben wir einen gemeinsamen Freund, einen Schwurbruder, er heißt Li Chung und kann fechten!«
Wu Sung erwachte, als er diesen Namen vernahm, aus seiner Beklemmung, wurde neugierig – bat höflich: »Darf ich weiter hören?«
Regen-zur-rechten-Zeit: »Mein junger Bruder, dieser Flußgroßvater, hat seit seiner Geburt eine Haut weiß wie Schnee. Er kann im Fluß ohne Pause fünfzig, sechzig Li weit schwimmen oder sich im Wasser sieben Tage und sieben Nächte lang verstecken. Weil er im Wasser lebt, nennen ihn viele Leute ›Schaumstreif auf den Wellen‹: Chang Shun. Wenn wir unser Geld verspielt hatten, ruderte ich ein Boot an den Strand, Fahrgäste zu erwarten, heimliche Fahrten zu machen. Die Vorübergehenden wollen gern Geld sparen und schneller hinüberkommen als auf den staatlichen Fähren und liefen alle mir zu. Ich wartete, bis alles voll war, und ließ dann meinen Bruder als letzten Gast mit einem großen Paket ins Boot nachkommen. Wenn wir in der Mitte des Stroms angekommen waren, ruderte ich nicht mehr, sondern warf die Ankersteine aus. Ich packte mein Schwert und verlangte von allen Fahrgeld. Ich fing bei meinem Bruder an, und er tat so, als ob er mit meinem Preis nicht zufrieden sei – ich hatte vorher fünfzig Münzen verlangt und jetzt plötzlich sechsmal so viel. Dann schlugen wir uns, ich überwältigte ihn und warf ihn ins Wasser. Die andern Fahrgäste erschraken vor diesem Schicksal, gaben mir sofort, was ich haben wollte. Sowie ich alle am andern Ufer abgesetzt hatte, tauchte mein Bruder aus dem Wasser auf, und wir teilten brüderlich unsere Beute, um an einem ruhigen Platz, immer ein wenig stromabwärts, weiterspielen zu können.«
Wu Sung höflich zum Flußgroßvater: »Es war mir ein Vergnügen, von Ihnen überfallen zu werden!«
Flußgroßvater: »Das ist Ihre Schuld! Warum sind Sie im Rausch ohne Waffe zu mir gekommen? Damit Sie sich aber immer gern an das Stromspiel, die eisernen Brettschwertnudeln, die gefüllten Fleischvögel, das gute Flußwasser und die saure Fischsuppe, erinnern, schenke ich Ihnen mein Schwert.«
Wu Sung wollte ablehnen, aber die Brüder zwangen es ihm lachend auf.
Regen-zur-rechten-Zeit: »Wir sind keine armen Leute. Man kennt uns weit und breit an allen Bootfeuern des Stroms. Nehmen Sie ruhig das Schwert. Mein Bruder ist, wie Sie sehen, ein tüchtiger Flußaufseher, und ich mache nicht nur heimliche Salzgeschäfte, sondern bin auch da … in der Stadt Chiang Chou Fischmarktmeister. Meine Fischsuppe ist berühmt … Ich habe als Fischmarktmeister in Chiang Chou auch einen vornehmen Freund namens Tai Tsung, der ist Oberaufwärter zweier Gefängnisse.«
Wu Sung stöhnte laut: »Fischsuppe! Gefängnis!«
»Ich heiße Regen-zur-rechten-Zeit. Ich mache meine Freunde immer mit den richtigen Menschen bekannt. Und Tai Tsung ist mein Schwurbruder und kann vieles, was andere nicht ahnen. Wenn Sie, Herr Hauptmann, beim Oberaufseher zweier Gefängnisse wohnen – dort wird niemand einen steckbrieflich verfolgten Totschläger suchen. Opfern Sie Ihren Bart und Ihr Haar uns Flußgottheiten – dann kann niemand Sie erkennen!«
Wu Sung faßte Mut, versprach, sein Haar bald zu lassen. Aber als er am Sandstrand vor der Stadt mit den Brüdern, das Schwert in der Hand, aus dem Boot sprang, war er doch froh, wieder festeren Boden, Land unter den wankenden Füßen zu haben.
Wu Sung wohnte schon eine Woche lang beim Oberaufwärter Tai Tsung, und weil der sehr freundlich zu ihm war, glaubte er, sich von Bart und Haaren nicht trennen zu müssen. Bis ihm eines Tages in der Stadt Chiang Chou jemand von hinten mit der Hand auf die Schulter schlug: »Hallo! Herr Chêng, wo kommen Sie her?«
Wu Sung erblaßte, aber die fremde Hand schloß sich um sein Handgelenk – zog ihn in eine Seitengasse fort. Wu Sung drehte sich, zum Äußersten entschlossen, um und erkannte in dem Mann den alten King, den Beschützer seiner Schwester, dem er zur Flucht aus der Stadt We Chou verholfen hatte. Der Alte zog den vor Freude willenlosen Wu Sung bis zu einem Ruheplatz unter einer Haustür und mahnte:
»Mein Retter, Sie sind sehr unvorsichtig, überall hängt Ihr Steckbrief mit einer Belohnung, und Sie stellen sich noch davor! Wenn jemand Sie erkennt, wird der Folterknecht Sie zertrümmern.«
Wu Sung: »Ich wundere mich, Sie hier zu treffen. Sie sagten doch, Sie wollten in die Osthauptstadt zurück?«
King: »Seit dem Tag, da wir aus We Chou auf und davon fuhren, hatte ich Angst, die Leute des Schlächters Chêng könnten uns nachfahren, so sind wir statt nach Osten gegen Norden gefahren. Unterwegs trafen wir unsern Nachbar aus der Osthauptstadt, der geschäftlich hier zu tun hat. Er nahm uns mit, und seit wir hier sind, geht es uns vorzüglich. Durch ihn ist meine Ziehtochter Munglan die Freundin eines reichen Herrn Chau geworden. Wir haben sehr viel mit Herrn Chau über Sie gesprochen – er möchte gern bei Ihnen fechten lernen. Sie müssen einige Monate oder Jahre bei uns bleiben und Herrn Ehrenbürger Chau kennenlernen, dann können wir weitersehen.«
Der alte King führte Wu Sung in seine Wohnung, dankte Wu Sung noch viele Male für alles Gute, bot ihm einen Stuhl an, kniete vor ihn hin und berührte sechsmal die Erde mit der Stirn.
Wu Sung: »Wenn Sie mir immer so danken, wird mich der Himmel bald bestrafen. Was habe ich Großes für Sie getan, so verehrt zu werden?!«
Der alte King: »Sie sind unser edler Retter! Wir haben Ihren Namen auf ein rotes Blatt Papier geschrieben, davor beten wir täglich für Ihr Wohlergehen, um unsere Dankbarkeit abzutragen. Ich bin sehr froh, daß wir Sie hierhaben!«
Dann rief der alte King seine Ziehtochter.
»Munglan! Schwester!« weinte Wu Sung. »Ich habe solchen Durst nach dir gehabt!«
Wir müssen die beiden nun viele Stunden lang ihren Toten, Tränen, Zärtlichkeiten, Erzählungen überlassen. Wir wissen nicht, wieviel Geflügel, Fleisch, Wein, Früchte der alte King kaufte und wie Munglan alles zubereitete. Sie saßen auf dem Balkon, aßen und tranken, weinten und lachten, plauderten und schwiegen – bis sie vor der Tür Lärm hörten. Wu Sung sah auf, sah hinab, erblickte dreißig, vierzig Kerle mit eisernen Knütteln bewaffnet; der Anführer saß auf einem Pferd, kommandierte: »Achtung! Laßt den Räuber nicht entwischen! Verhaftet ihn!«
Als Wu Sung das hörte, packte er einen schweren Stuhl und wollte gern mit den Leuten kämpfen. Aber der alte King bat ihn, nicht gleich so zornig zu sein, er wolle selbst auf die Straße gehen und mit dem Anführer sprechen. Er ging, sprach leis' einige Worte mit dem Reiter, worauf der lachte und das bewaffnete Gesindel fortschickte. Der Anführer stieg vom Pferd, ging ins Haus, kam auf den Balkon, begrüßte Wu Sung als Retter Munglans – es war der Herr Ehrenbürger Chau.
Herr Chau erklärte, er hätte gehört, daß der alte King einen jungen Kerl mitgebracht habe, und gedacht, das sei ein neuer Geliebter für Munglan. Deshalb sei er so zornig mit seinen Dienern herbeigeeilt. Nun waren alle beruhigt, setzten sich an den Tisch, tranken und schmausten. Dabei erzählte Wu Sung dem Ehrenbürger Chau seine Abenteuer und schloß: »Ich bin ein einfacher Mann und habe gesetzwidrige Sachen gemacht. Wenn Sie mich nicht als Sünder behandeln und mir helfen können, würde ich alles für Sie tun.«
Sie blieben beisammen und tranken bis Mitternacht. Am nächsten Tag dachte der Ehrenbürger Chau, es wäre nicht sehr gut, wenn Wu Sung in der Stadt bliebe, da würden die Leute ihn leicht bemerken, nahm ihn mit sich in sein Landhaus, bewirtete ihn dort liebevoll als seinen nächsten Verwandten: Wu Sung zu Ehren hielt Chau Hochzeit – er nahm Munglan zur rechtmäßigen, ersten Gattin. Nach einigen frohen Tagen aber kam der alte King zu ihnen und sagte, Beamte, die wühlerischen, erpresserischen, kleinen Beamten seien auf der Suche nach Wu Sung und hätten mehrmals in Chaus Stadthaus nach ihm gefragt. Seit dem Tage, wo Herr Chau mit seinen Dienern vor dem Stadthaus Lärm gemacht, seien die Beamten auf der Blutspur, Wu Sung möge doch recht vorsichtig sein, damit man ihn nicht finde.
»Dann muß ich wieder weiterziehen«, seufzte Wu Sung, »damit man mich nicht hier findet, wo ich alles gefunden, wo ich Gastfreundschaft genossen habe.«
Auch Ehrenbürger Chau wurde nachdenklich: »Wenn Sie hierbleiben, habe sogar ich Angst, daß man Sie findet.«
»Ich bin ein Sünder«, ächzte Wu Sung, »und wenn es noch irgendwo auf der Erde einen Platz für mich gibt, wo ich nützlich sein kann, geh' ich gern hin. Ich will den Herrn Oberaufwärter Tai Tsung heute nacht um Rat bitten.«
Tai Tsung war nicht zu Haus, er hatte Nachtdienst in dem Warteraum, wo die Gefangenen eingeliefert wurden. Wu Sung nahm sein Schwert und ging ruhig hin, denn auf der Erde fürchtete er sich nicht. Da Tai Tsung mit einem eben angelangten Transport noch viel zu tun hatte, wartete Wu, bis Tai fertig sein würde. Es kamen Gefangene an, an deren Halsbrett die langen Papiersiegel fehlten, und die bestochenen Geleitbeamten logen:
»Unterwegs gab es oft Frühlingsregen, die schlechten Siegel wurden vom Wasser weggewaschen.«
Der Vorsteher des Gefangenenlagers befreite jeden der Sträflinge oder Verbannten eigenhändig vom Halsbrett, um jeden Verurteilten leise fragen zu können, ob der Neuangekommene wisse, daß seit alter Zeit, seit den Regierungstagen des ersten Drachenkaisers, alle Neueintreffenden hundert Schläge auf den Rücken zu bekommen hätten?
Dann ließ der Vorsteher den Ankömmling auf den Boden werfen. Alle Lagerbeamten, die mit den Gefangenen in Berührung kamen, erhielten oder erwarteten von ihnen Geld. Sagte der Sträfling:
»Kleiner Mensch war unterwegs krank und ist noch nicht ausgeheilt!«, und hatte der Vorsteher von ihm viel Geld bekommen, lautete das Urteil:
»Der Mann sieht sehr krank aus, er ist so dunkel und mager. Diesmal erlasse ich Ihnen die Strafe. Sie scheinen ein gebildeter Mensch zu sein, Sie können sich im Lageramt mit Schreibarbeiten beschäftigen.«
Gab der Gefangene kein Geld, wurde das Prügelgesetz des Kaisers unbarmherzig vollzogen. Wu Sungs Herz empörte sich gegen den Silbertael, aber weder er konnte helfen noch Oberaufwärter Tai Tsung, der die Geprügelten wieder gesund zu pflegen hatte – für neue Prügel.
Endlich war das letzte Geld der Sträflinge in den Taschen der Beamten, der letzte Prügel zertrümmert, und Wu Sung konnte den müden Oberaufwärter heimbegleiten.
Als sie ungestört im Zimmer beisammensaßen, begann Wu Sung dem Oberaufseher sein Schicksal zu klagen – die zwei Helden auf Fluß und See hatten männlich über alles geschwiegen.
»Alle Gerichte verfolgen mich, aber ich darf nicht unter dieser Gerechtigkeit sterben, eh ich meine Familie nicht an dem falschen Verwandten, dem Wang-kai-wei gerächt habe, der meine Eltern und meine Schwester und mich in den Hunger, ins Elend, in den Tod getrieben hat.«
Tai Tsung: »Sie leben noch, Herr Hauptmann, für einen Mörder leben Sie noch sehr gut, Ihre Schwester lebt noch, Herr Hauptmann; sie ist in Ehren die Frau eines guten Mannes geworden. Aber Sie wissen nicht, wo dieser Wang-kai-wei lebt, ob er Mandarin ist oder welcher Krankheitsteufel ihn geholt hat. Warum wollen Sie die Leichen der Vergangenheit rächen? Seien Sie nicht eigensinnig, kümmern Sie sich nicht um diesen törichten Wang-kai-wei! Sie haben genug Böses getan. Wer darf es rächen?!«
Wu Sung: »Ich will rächen! Ich habe sonst nichts auf der Erde zu tun. Ich hörte auf Fluß und See, daß Sie viele Schicksale wissen.«
Tai Tsung: »Ich bin Oberaufwärter zweier Gefängnisse, ich weiß vieles, aber ich weiß nicht alles.«
Wu Sung: »Helfen Sie mir den Wang-kai-wei finden und liefern Sie mich dann dem Gericht aus!«
Tai Tsung: »Ich kenne einen Mann, einen Weisen, einen Meister, der alles weiß. Aber es ist schwer, ihn zu finden, noch schwerer, ihn zu sprechen.«
Wu Sung: »Erfüllen Sie den Wunsch meines Lebens!«
Tai Tsung: »Der Meister wohnt unerreichbar hoch über den Menschen im Gebirge, wo es tot, weiß und einsam ist. Aus eigener Kraft kann ein engstirniger Befleckter nicht dorthin kommen.«
Wu Sung: »Nehmen Sie mich mit. Sie können es. Das wäre Regen zur rechten Zeit.«
Tai Tsung: »Ich trinke keinen Wein, ich esse kein Fleisch, ich töte nicht. Man nennt mich den heiligen Läufer. Mir sind unsichtbare Beinschienen verliehen, vielleicht sind es kleine geflügelte Geisterpferde. Mit ihrer Hilfe kann ich täglich fünfhundert, ja achthundert Li weit laufen. Wenn ich meinem Begleiter ein ähnliches Zauberpferdchen gebe, kann er ebenso schnell laufen. Wenn Sie mir folgen wollen, dürfen Sie unterwegs nur fleischlose Nahrung zu sich nehmen, keinen Wein trinken, müssen mir aufs Wort gehorchen!«
Wu Sung: »Das ist doch nicht schwer; das alles kann ich tun.«
Tai Tsung: »Wir können sofort aufbrechen. Abschied gibt es nicht.«
Wu Sung: »Ich hole mir nur ein Paket: Kleider und Geld und Gebirgswaffen.«
Tai Tsung: »All dies wird Ihnen nur beschwerlich sein, aber ich will Sie nicht hindern.«
Sie nahmen ihre Pakete: Tai Tsung ein winziges, Wu Sung ein großes, machten sich auf den Weg. Nach zwanzig Li hielt Wu Sung seinen Fuß an: »Großer Bruder, kaufen wir eine Schüssel Wein zum Trinken, dann können wir wieder weitergehen.«
Tai Tsung: »Wenn Sie später mit mir zusammen ›die heilige Laufkunst‹ benützen werden, müssen Sie aber Wasser trinken.«
Wu Sung lachte: »Wenn wir etwas Fleisch dazu essen, schadet es auch nicht.«
Tai: »Sehen Sie, schon jetzt wollen Sie das Gebot übertreten! Essen und Trinken hat Zeit, zuerst müssen wir eine Herberge finden.«
Sie liefen noch dreißig Li weiter und fanden endlich ein Gasthaus, als es schon ziemlich dunkel war. Sie zündeten ein Feuer an, kochten sich etwas und tranken. Wu Sung brachte zuerst eine fleischlose Suppe und Gemüse ins Zimmer – für Tai. Der fragte: »Warum essen Sie nichts?«
Wu: »Ich habe bis jetzt noch keinen Hunger.«
Tai dachte sich: Ho! Der Entronnene wird wieder lustig! Der Kerl wird heimlich etwas Fleisch essen.
Als Tai mit dem Essen fertig war, schlich er nach hinten. Richtig sah Tai den Hauptmann an einem Tisch stehen – in der Hand hielt Wu eine Flasche Wein, vor sich hatte er auf einem Teller einen Klumpen Ochsenfleisch: eilends verschlang er es. Tai sprach zu sich: Was habe ich gesagt? Ich werde es ihn nicht gleich fühlen lassen, morgen werde ich ihn damit necken. Weil er dem Kerker entronnen ist, glaubt er, sich gegen jedes Gesetz empören zu müssen. Er ging in sein Zimmer und legte sich schlafen. Nach einer Weile kam Wu ganz leise hereingeschlichen; fürchtend, daß Tai ihn etwas fragen könnte, legte er sich lautlos zu Bett.
Am nächsten Morgen erhoben sich beide sehr zeitig. Sie wählten fleischlose Speise, nahmen ihre Pakete, zahlten Schlafgeld und verließen die Herberge. Zwei Li waren sie schon gelaufen, da sagte Tai:
»Gestern haben wir unsere ›heilige Laufkunst‹ nicht benützt, heute müssen wir das Versäumte einholen. Schnüren Sie ihr Paket fester, ich werde Ihnen das Zaubermittel gleich geben, dann können wir achthundert Li weit laufen.«
Tai nahm zwei Paar unsichtbare »Flügelpferde« aus seinem Paket heraus, schnallte das eine Paar an Wu Sungs Beine und schmunzelte:
»Warten Sie auf mich vorn in einem Speisehaus.«
Er sprach leise Sprüche, blies den Atem gegen Wus Beine. Wu lief mit großen Schritten weiter, fühlte sich wie in den Wolken, wie fliegend. Tai lächelte: »Heute soll er einen Tag hungern!«
Er band sich an seine Beine das andere Paar und lief ihm nach. Vorher hatte Wu die heilige Laufkunst nicht gekannt und dachte, es wäre wie anderes Laufen auf der Erde. Jetzt hörte er um seine Ohren den Wind heulen, zu beiden Seiten flogen Häuser und Bäume dahin. Wu bekam Angst, wollte seinen Fuß anhalten; aber die verzauberten Beine achteten nicht auf seinen Befehl – es war, als wenn ihn jemand von hinten vorwärts schöbe. Wein- und Speisehäuser flogen an ihm vorbei, winkten mit den Fahnen, er roch den Wein, aber er konnte nicht hineingehen, etwas kaufen. Er schrie: »Großer Vater! Halt an! Hunger und Durst!«
Von früh bis abends war er gelaufen, im gefräßigen Magen fühlte er klägliche Leere, konnte aber nicht stillstehen. Vor Schreck schwitzte er schlechten Geruch aus, vermochte kaum Atem zu holen. Tai kam näher heran:
»Großer Bruder Wu, warum kaufen Sie nicht etwas zum Essen und laufen erst dann weiter?«
Wu: »Bruder! Hilf mir! Der arme Hauptmann Wu Sung ist verhungert!«
Tai nahm einen Bohnenpuffer heraus und begann zu essen.
Wu schrie: »Ich kann meinen Fuß nicht lenken, er will nicht halten, er will nicht ins Gasthaus gehen! Geben Sie mir etwas, meinen verhungerten Leib zu füllen!«
Tai: »Bruder, bleiben Sie stehen, dann gebe ich Ihnen was!«
Wu hielt seine Hand hin, etwas abzubekommen, aber sie blieben immer drei Schritte voneinander entfernt, und Wu konnte die Speise nicht greifen. Er rief:
»Guter Bruder! Laß mich ein Weilchen halten!«
Tai: »Heute ist es komisch, ich kann heute meine zwei Beine auch nicht anhalten.«
Wu: »Ach! Meine dummen Füße wollen kein bißchen nachgeben! Sie laufen mir immer davon! Wenn ich wütend werde, werde ich sie mit dem Beil abhacken!«
Tai: »Vielleicht wird das besser sein, sonst können Sie bis nächstes Jahr im Winter auch nicht halten.«
Wu bat: »Guter Bruder! Sie dürfen mit mir keinen Scherz treiben. Wenn die beiden Beine abgehackt sind, kann ich nie wieder gehen!«
Tai: »Vielleicht haben Sie gestern mein Verbot nicht beachtet? Heute kann auch ich meinen Fuß absolut nicht bremsen!«
Wu: »Guter Großer Vater! Ich bitte um Gnade!«
Tai: »Meine Kunst verbietet mir, Fleisch zu essen. Vor allen Dingen darf man kein Ochsenfleisch essen; wenn man auch nur ein kleines Stückchen davon gegessen hat, muß man das ganze Leben lang immer weiterlaufen.«
Wu sagte: »Das ist schmerzvoll! Gestern abend habe ich es vor Bruder geheimgehalten, aber in Wirklichkeit habe ich fünf oder sieben Pfund Ochsenfleisch gegessen. Was soll man dagegen tun?«
Tai: »Darum muß ich heute so leiden! Sie Ochsenmörder haben mein Schicksal verschlechtert!«
Wu bat laut Himmel und Erde um Hilfe, verschwor sich, dann fluchte er. Lachte Tai: »Wenn Sie mir etwas fest versprechen, werde ich Ihnen helfen.«
Wu: »Großer Vater! Sagen Sie es schnell, ich werde alles tun!«
Tai: »Werden Sie nochmals im geheimen Fleisch essen?«
Wu: »Wenn ich später je wieder Fleisch esse, soll auf meiner Zunge ein schüsselgroßer Pickel wachsen. Als ich Bruders fleischloses Essen sah, konnte ich den Geruch nicht ertragen. Ich habe, Bruder, meine Sünde diesmal Ihnen verheimlicht. Ich will es nie wieder tun!«
Tai: »Wenn es so ist – werde ich Ihnen diesmal noch verzeihen!«
Er lief schneller, strich mit seiner Hand über Wus Beine und rief: »Halt!«
Wu konnte seinen Fuß sofort anhalten.
Tai: »Ich gehe voran, kommen Sie langsam nach.«
Wu wollte seinen Fuß hochheben, aber er konnte keine Bewegung machen, es war, als ob sein Fuß mit tausend Pfund Eisen behangen wäre. Wu schrie dem Oberaufwärter nach: »Es ist noch immer schmerzvoll! Bruder, hilf mir noch einmal!«
Tai drehte sich um, lachte: »Was Sie vorhin schwuren, ist das alles wahr?«
Wu: »Sie sind wie mein eigener Großer Vater, wie könnte ich Ihnen nicht gehorchen!«
Darauf kam Tai heran, faßte Wus Beine an und befahl: »Hoch!«
Langsam liefen sie weiter. Wu bettelte: »Haben Sie doch Mitleid mit einem Toten, ich möchte heute früher rasten.«
Bald sahen sie ein Gasthaus und gingen hinein. Tai Tsung schnallte die Zauberpferdchen ab, nahm etwas Geldpapier und verbrannte es. Dann fragte er Wu, wie er sich jetzt fühle. Wu nahm seinen Fuß in die Hand und stöhnte: »Ach! Nun gehören die zwei Beine wieder mir.«
Diesmal richtete er gern Speisen ohne Fleisch zu. Nach dem Essen wuschen sie ihre Füße und gingen zur Ruh. Als sie am nächsten Tag wieder auf dem Weg waren, nahm Tai die Geisterpferdchen heraus:
»Bruder, ich werde Ihnen die Zauberei wieder an die Beine hängen, diesmal lasse ich Sie langsamer laufen.«
Wu: »Mein Großer Vater, ich brauche keine Zauberei. Ich habe keine Eile. Soll Wang-kai-wei einen Tag länger leben.«
Tai: »Sie haben zu gehorchen. Wir sind aufgebrochen, eine große Angelegenheit rasch zu erledigen, ich werde Sie kein zweites Mal mehr necken! Aber wenn Sie mir nicht aufs Wort folgen, lasse ich Sie ebenso wie gestern festwachsen, dann können Sie jahrelang warten, bis ich Sie befreie.«
Wu bekam einen Schreck: »Hängen Sie! Hängen Sie mir das Zeug an!«
Es geschah. Von nun an, ob sie standen oder liefen, ging alles ganz nach Tai Tsungs Wunsch. Wu aß nur noch fleischlose Speisen, trank keinen Wein, und so liefen sie immer weiter.
Zehn Tage waren so vergangen, da kamen sie beide in ein Gasthaus der Stadt Su Chou. Am nächsten Tag kleidete Tai Tsung sich als Herr, Wu Sung als Diener. Sie gingen beide in die Stadt und suchten den ganzen Tag irgend jemanden – ohne Erfolg. Gegen Abend kehrten sie in die Herberge zurück. Am zweiten Tag war es genauso. Wu Sung wurde ungeduldig: »Der Bettlertaoist! Wo hat der Vogel sich versteckt? Wenn ich ihn sehe, ziehe ich ihn an den Haaren zu Wang-kai-wei.« Tai blickte ihn bös an: »Sehen Sie – jetzt sind Sie wieder so! Haben Sie Ihre Schmerzen schon vergessen?«
Wu: »Nein! Nein! Ich spreche nur so zum Scherz!«
Tai warnte ihn abermals, Wu wagte keine Antwort zu geben. Beide gingen wieder in ihre Herberge übernachten. Am dritten Tage suchten sie außerhalb der Stadt. Wenn Tai irgendwo einen alten Mann sah, grüßte er und fragte ihn nach dem Heim des Taoisten Kungsun Sheng; aber kein einziger Mensch konnte ihm darüber Auskunft geben. Tai bemühte sich bis in den Nachmittag, vom vielen Laufen verspürten beide großen Hunger. Neben der Straße lag ein vegetarisches Nudelspeisehaus. Sie traten beide ein, etwas zu essen. Wegen Überfüllung standen beide allen im Weg, endlich kam der Bedienende: »Wenn die Herren Nudeln essen möchten, können Sie mit dem alten Herrn da an einem Tisch zusammen sitzen.«
Tai sah neben sich einen freien Tisch – es saß nur ein alter Mann daran. Er grüßte ihn und setzte sich nieder. Wu saß neben ihm. Tai bestellte vier große Schüsseln Nudeln, da schaute ihn Wu Sung an.
Tai: »Ich esse nur eine Schüssel, sind die drei für Sie zuwenig?«
Wu: »Das geht nicht, bringen Sie rasch sechs her, ich verzehre alles allein!«
Damit brachte er zwar den Bedienenden zum Lachen, aber noch nach vielen Jahren kam keine Speise. Wu merkte: der Bedienende trug alles ins Hinterzimmer. Er war innerlich damit gar nicht zufrieden. Endlich brachte der Bedienende eine heiße Nudelsuppe und stellte sie vor den alten Mann hin. Der verbeugte sich nicht vor seinen Nachbarn, sondern packte die Schüssel und aß sofort. Die Nudeln waren sehr heiß, der alte Mann ließ den Kopf hängen und aß nicht weiter. Wu wurde heftig:
»Bedienender! Sie haben mich, ihren Großvater, über einen halben Tag lang warten lassen!«
Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch: die Nudelschüssel sprang so hoch, daß die heiße Brühe dem alten Mann ins Gesicht spritzte. Die Schüssel kippte um, und die Nudeln lagen auf dem Tisch. Der alte Mann hatte Nudeln und Geduld verloren, packte Wu: »Was für eine Art ist das, meine Nudeln auszuschütten!«
Wu wollte streiten, Tai aber hielt ihn fest und verbot ihm, zu sprechen. Bei dem Alten entschuldigte Tai sich:
»Alter Mann dürfen nicht böse sein, kleiner Mensch wird Ihnen sehr gern noch eine Schüssel Nudeln bestellen!«
Der alte Mann: »Der Herr weiß nicht, warum ich eile. Alter Mann hat einen weiten Weg zu laufen, wollte rasch die Nudeln essen und dann schnell gehen, einen Vortrag anhören. So verlier ich meine Zeit und kann nicht von Beginn an zuhören.«
Tai wollte ihn beruhigen, fragte den Greis, woher er käme und wessen Vortrag er hören wolle.
Der Greis: »Alter Mann wohnt jetzt in der Stadt ›Neun Paläste‹ im Bezirk Su Chou. Zwei-Engel-Gebirge ist meine Heimat. Ich komme zur Stadt, guten Weihrauch zu kaufen, und gehe ins Gebirge, um bei dem wahren Menschen Lo den Vortrag zu hören über langes Leben und niemals Sterben.«
Tai dachte: Vielleicht wird Kungsun Sheng auch dort sein?
Der alte Mann wurde gefragt, ob in seinem Dorf ein Kungsun Sheng wohne?
Er erwiderte: »Meine Herren, wenn Sie andere Leute fragen, wird niemand ihn kennen. Alter Mann ist sein Nachbar. Kungsun hat nur eine alte Mutter. Der Taoist wandert die ganze Zeit draußen umher, jetzt ist er aus seiner Familie ausgeschieden, und man nennt ihn den Klaren Taoisten. Kungsun Sheng ist sein bürgerlicher Name, unter dem kennt ihn niemand mehr.«
Tai Tsung: »Man kann Eisenschuhe durchlaufen und trotzdem einen Menschen nicht finden. Und wenn man Glück hat, findet man ihn in einer Nudelsuppe!«
Wu: »Das hab' ich doch gut gemacht?!«
Tai dankte dem alten Mann abermals, fragte ihn:
»Wie weit ist es von hier bis zum Zwei-Engel-Gebirge und zur Stadt ›Neun Paläste‹? Ist der Klare Taoist wohl noch daheim?«
Der alte Mann: »Zwei-Engel-Gebirge ist von hier nur fünfundvierzig Li entfernt. Der Klare Taoist ist der Lieblingsschüler des wahren Menschen Lo. Sein Lehrer will ihn nicht fortgehen lassen.«
Tai war über diese Auskunft sehr froh. Die bestellten Nudeln wurden nun endlich gebracht, man aß und zahlte, dann gingen alle drei. Der alte Mann zeigte Tai den Weg, der fand dann die Ausrede:
»Alter Mann, gehen Sie nur voraus, kleiner Mensch will nur noch Weihrauch und Geldpapier kaufen, dann kommt er gleich nach.«
Tai und Wu kehrten wieder in die Herberge zurück, nahmen ihr Gepäck, legten die Zauberpferdchen an. Rasch waren sie in der Stadt Neun Paläste. Das Zwei-Engel-Gebirge war nur fünf Li weiter. Als sie so weit waren, trafen sie am Fuß des Gebirges einen Holzfäller. Tai Tsung grüßte ihn:
»Darf ich wissen, wo des Klaren Taoisten Haus ist?«
Der Holzfäller zeigte es ihm: »Nur über diesen Gebirgsvorsprung, dann liegt vor einer Tür eine kleine Steinbrücke, dort ist es.«
Die beiden hielten diese Richtung ein und kamen bald an zehn Strohhütten. Die waren von einer kleinen Mauer umgeben. Vor dem Tor lag eine kleine Steinbrücke. Als sie dort ankamen, trafen sie ein Dorfmädchen. Tai grüßte:
»Die Dame kam eben aus dem Haus des Klaren Taoisten, wissen Sie, ob er daheim ist?«
Sie antwortete: »Er ist hinten, er kocht Medizin.«
Tai freute sich innerlich und bat Wu Sung: »Verstecken Sie sich, wo es viel Bäume gibt. Warten Sie, bis ich mit ihm gesprochen habe, dann rufe ich Sie.«
Tai ging; die Strohhütte hatte drei Räume. Auf dem Flur hing ein Schilfvorhang. Tai hüstelte, um sich bemerkbar zu machen. Eine weißhaarige Frau kam heraus, Tai grüßte: »Ich wollte die alte Mutter nicht stören. Darf ich den Klaren Taoisten sprechen?«
Die alte Frau: »Wie ist des Herrn werter Name?«
Tai nannte ihn, aber die Greisin schüttelte den Kopf: »Mein Junge ist überall in der Welt umhergewandert und bis jetzt nicht nach Hause gekommen.«
Tai: »Kleiner Mensch ist ein alter Bekannter und will mit ihm eine sehr wichtige Sache besprechen.«
Die alte Frau blieb dabei: »Er ist nicht zu Haus! Wenn Sie etwas Wichtiges haben, können Sie alles hier schriftlich hinterlassen.«
Tai verbeugte sich, er wolle lieber noch einmal wiederkommen. Ging in den Wald und rief Wu Sung:
»Jetzt kann ich Sie gut brauchen. Eben sagte seine Mutter, er sei nicht zu Hause. Nun gehen Sie hin und verlangen ihn zu sprechen. Wenn sie dasselbe sagt, lärmen Sie ein wenig und machen Krach, aber mit Maß. Wenn ich rufe, müssen Sie sofort aufhören.«
Wu packte sein Paket aus, nahm zwei Stahlbeile heraus und hängte sie sich um. Er trat lärmend ein, wie eine Schar von Hauptleuten, und rief laut: »Jemand soll sofort herauskommen!«
Die Greisin hastete herbei: »Wer ist da?«
Als sie Wu Sung sah und was für zwei große, wuterfüllte Zornaugen er hatte, fürchtete sie sich schon, fragte sanft:
»Was wünscht der Bruder?«
Wu: »Ich bin ein schwarzer Wirbelwind, ich komme aus dem Moor. Auf hohen Befehl muß ich sofort Kungsun Sheng sprechen. Rufen Sie ihn sofort heraus, und ich werde Sie mit Buddhas sanften Augen anschauen. Sonst werde ich ein verdammtes Feuer anzünden und Ihre Hütte einäschern!«
Laut schrie er: »Schnell und sofort herauskommen!«
Die alte Mutter bat: »Guter Held, Sie brauchen nicht so zu schreien. Hier meine Wohnung ist nicht Kungsun Shengs Heim. Hier wohnt ein Klarer Taoist.«
Wu Sung: »Er mag heißen, wie er will, er muß sofort herauskommen, ich werde ihn schon erkennen.«
Die Frau benutzte dieselbe Ausrede wie Tai gegenüber. Wu packte seine zwei Beile und schlug wortlos die Erdwand, die dazu da war, Fremde nicht ins Innere der Zimmer blicken zu lassen, nieder. Die Frau sah, wie brutal er war, und wollte ihn beruhigen. Wu Sung drohte:
»Was? Sie wollen Ihren Sohn nicht herausrufen? Kann Ihnen rasch Gelegenheit zu einem neuen Leben geben!«
Er hob wild seine beiden Beile hoch, vor Aufregung fiel die alte Frau um. Kungsun Sheng kam jetzt von hinten hervor: »Wer wird so grob sein!«
Gleichzeitig trat Tai Tsung ein und rief Wu Sung zu:
»Hauptmann! Sie dürfen einer alten Frau keinen solchen Schreck einjagen!«
Er half Kungsuns Mutter auf. Wu warf seine zwei Beile weg, entschuldigte sich: »Bruder darf es mir nicht übelnehmen; hätt' ich nicht so gebrüllt, wären Sie noch immer nicht hervorgekommen.«
Kungsun brachte zuerst seine Mutter in Sicherheit, dann kam er wieder, die beiden zu begrüßen, bat sie, mit ihm zu kommen und in einem ruhigen Zimmer Platz zu nehmen. Dort fragte er sie nach dem Zweck ihrer Reise. Tai Tsung erzählte ihm, daß er schon einmal in der Hütte gewesen und ihn nicht hätte sprechen können.
Kungsun: »Armer Taoist wanderte von jung auf, die guten Helden auf Fluß und See kennen mich. Es ist nicht, daß ich mich verberge, aber meine Mutter ist zu alt und hat niemand, der sie ernährt und bedient. Und dann will mein Lehrer, der wahre Mensch Lo, mich in seiner Nähe behalten, und fürchtend, daß mich jemand hier im Gebirge findet und stört, hat er mir den Namen Kungsun genommen und mich den Klaren Taoisten genannt, damit ich Ruhe habe. Ich selbst weiß wenig, und zu ihm darf ich euch leider nicht begleiten.«
Beide bedrängten ihn, Wu Sung zuletzt sogar kniend. Kungsun hob ihn hoch: »Wir können noch einmal darüber sprechen.«
Er bat sie, ein wenig bei ihm zu bleiben, bereitete fleischloses Essen und lud sie ein. Nach dem Essen bat Tai ihn dringend, mitzukommen. Kungsun versprach endlich, sie bei seinem Lehrer, dem wahren Menschen Lo, anzumelden.
Tai: »Vielleicht können wir gleich jetzt ins Gebirge steigen?«
Kungsun: »Bitte, beruhigen Sie sich hier eine Nacht, morgen früh können wir hingehen.«
Tai: »Ich bin Oberaufwärter zweier Gefängnisse, mir ist ein Tag wie ein Jahr. Ich bitte den Bruder, doch Zeit zu sparen.«
Kungsun mußte sie aufwärts ins Gebirge führen. Es war Ende Herbst, Beginn des Winterwetters, die Tage starben früh, die Nächte nie. Als die drei halbwegs im Gebirge waren, sahen sie die rote Sonne sinken. Ein kleiner Pfad führte an einem Tannenwald vorbei – gerade in den Tempel. Vor dem Tempel hing ein rotes Schild mit goldenen Buchstaben: »Dunkler leerer Tempel.« Die drei gingen zuerst in ein Häuschen, ihre Kleider in Ordnung zu bringen. Von der Veranda aus kamen sie in die Tannen- und Kranichhalle dieses Wandertaoistentempels. Drinnen sahen zwei Knaben sie und meldeten sie an. Sie erhielten Erlaubnis und wurden alle drei weitergebeten. Als sie eintraten, war des wahren Menschen Los Seele soeben vom Himmelsbesuch zurückgekehrt. Er saß auf seinem Wolkenbett. Kungsun trat vor und begrüßte ihn kniend, dann stand er auf und trat ehrfurchtsvoll zur Seite, Tai Tsung folgte in allem seinem Beispiel. Nur Wu stand einfältig herum und sah sich überall um. Dann trat Tai abermals vor und sprach:
»Meister, warum verstoßen Sie mich immer wieder in die Welt, holen Sie mich endlich aus dem Gefängnis!«
Lo: »Es braucht Zeit, bis ein Oberwärter befreit ist aus der Feuerhölle und sich als reiner Taoist dem wahren Leben widmen darf.«
Tai: »Ich pflege die totgeprügelten Sträflinge, mir hilft niemand. Erfüllt mir wenigstens für meinen Begleiter eine kleine Bitte. Er ist ein dumpfer, ehrlicher Mensch.«
Wu Sung trat befangen-lärmend vor: »Ich bitte den wahren Menschen, mir sofort zu sagen, wo mein Oheim Wang-kai-wei lebt.«
Lo: »Es ist genug, daß du noch lebst! Erbitte nichts anderes!«
Wu Sung: »Ich bitte nur um Wang-kai-wei!«
Lo: »Ihr beiden wißt nichts! Menschen, die aus der Familie schieden, dürfen sich um wilde Angelegenheiten nicht kümmern. Ihr sollt das Gebirge noch heute verlassen und nicht wieder davon sprechen.«
Kungsun Sheng führte die zwei noch am selben Abend bergabwärts. Auf dem Wege fragte Wu Sung: »Was hat der alte zauberbärtige Geisttaoist gemeint?«
Tai: »Haben Sie es nicht gehört?«
Wu: »Gehört wohl, aber ich verstehe nicht ganz des Vogels Gesang.«
Tai: »Wir haben nichts erreicht, wir müssen wieder heim!«
Wu: »Was? Wir zwei sind so viele Wege gelaufen, ich habe viele Schmerzen bekommen und durfte nie Fleisch essen! So weit weg sind wir gewandert, endlich haben wir ihn gefunden, dann wagt dieser Himmelsbart noch, so schlechten Wind auszublasen! Er soll seinen alten Vater nicht erbosen. Mit einer Hand werd' ich in sein Haar fassen, mit der anderen an seine Weste und werde den toten Taoisten von seinem Zauberturm herunterwerfen!«
Tai sah ihn ein wenig von der Seite an: »Sie wollen Ihren Fuß der Abwechslung halber hier festwachsen lassen?«
Verzog Wu sein Gesicht ins Lachende: »Ach, ich treibe nur Scherz.«
Als die drei wieder in Kungsun Shengs Wohnung waren, bereiteten sie sich ein Abendessen. Tai und Kungsun aßen, Wu saß nachdenklich da und berührte nichts. Kungsun beruhigte die zwei: »Wir können heute ruhig schlafen. Morgen gehen wir wieder, den Lehrer bitten; wenn es Sinn hat, wird er helfen.«
Tai brachte seine Sachen in Ordnung und ging mit Wu Sung in ein ruhiges Zimmer schlafen.
Während der ganzen Nacht konnte Wu vor Wut kein Auge schließen. Leis erhob er sich, hörte Tai Tsung laut schnarchen, holte aus seinem Paket eine große Flasche Wein hervor und trank, trank. Er dachte sich: Schlechte Luft! Schlechte Luft! Ich ersticke. Wozu wieder diesen Bartaffen fragen? Ich will ihn mit meinem Beil liebkosen, um endlich frei Luft schöpfen zu können! Wenn ich ihn nicht töte, kann ich nicht atmen! Vielleicht ist er Wang-kai-wei? Ich kann das alles nicht mehr dulden, am besten, ich ermorde den alten Gottesdieb!
Wu nahm seine zwei Beile an sich, im Dunkeln öffnete er leise die Tür – unter dem Sternen- und Mondlicht stieg er ins Gebirge. Als er vor dem Tempel ankam, waren die Tore schon geschlossen. Nebenan die Mauer war nicht sehr hoch: er sprang darüber, öffnete die Tür, schlich still nach hinten. Als er vor die Tannen- und Kranichhalle kam, hörte er durchs Fenster, wie jemand betete. Wu kletterte hoch, schob das Fensterpapier zur Seite und sah den wahren Menschen Lo allein dort – genauso, wie er ihn am Tage gesehen hatte. Vor Lo stand ein Tisch, einem Becher entwirbelte viel Rauch. Zwei dicke Kerzen waren das Licht des Zimmers. Wu dachte: Der Tagdieb von einem langlebigen Taoisten wird jetzt Zeit haben, tot zu sein!
Lautlos schlich er zur Tür, stieß sie mit den Händen, beide Flügel sprangen auf. Wu stürmte hinein, hob seine Beile hoch, schlug den wahren Menschen auf die Stirn. Lo fiel sofort auf sein Wolkenbett. Wu blickte hin: aus dem Kopf tropfte weißes Blut. Er lachte: »Sieh mal, der Tempelkerl hat einen reinen Knabenkörper. Sein Inneres ist so sauber und unberührt – kein sinnliches Bedürfnis ist eingedrungen, deshalb ist sein Blut nicht rot.«
Wu sah noch einmal hin und bemerkte, daß er den Kopf des Lo von der taoistischen Haarspange bis zum Hals gespalten hatte. Er rief: »Den Zauberer habe ich doch umgebracht! Er hätte mir eben sagen sollen, wo dieser Wang-kai-wei lebt!«
Er drehte sich um und wollte die Veranda verlassen, kam ein schwarzgekleideter Knabe, versperrte ihm den Ausgang, schrie:
»Sie haben unseren Lehrer ermordet, da gibt es keine Flucht!«
Wu Sung: »Noch so ein kleiner Taoist will also den Kopf verlieren!«
Er schwang seine Beile, tötete – lachte: »Nun hab' ich Ruh.«
Verließ den Tempel, lief schnell das Gebirge hinunter, bis er vor Kungsuns Haus war, ging unbemerkt hinein, trat in sein Zimmer, merkte, daß Tai noch nicht erwacht war, legte sich hin – nun konnte er ruhig schlafen.
Als es hell war, stand Kungsun zeitig auf und bereitete Essen vor. Tai stieß Wu: »Ersuche den Herrn Taoisten, uns beide ins Gebirge zu führen, damit wir den wahren Menschen noch einmal bitten können.«
Wu Sung hörte das, biß in seine Lippen und lachte innerlich. Die drei gingen den alten Weg ins Gebirge. Als sie vor die Tannen- und Kranichhalle kamen, sahen sie die beiden Knaben wieder dort stehen. Kungsun fragte: »Wo mag der wahre Mensch sein?«
Der eine Knabe: »Er sitzt auf seinem Wolkenbett und übt seine Seele.«
Wu hörte das, ließ vor Erstaunen seine Zunge heraushängen. Die drei schlugen den Vorhang zurück, traten ein, der Knabe hatte die Wahrheit gesprochen: Lo saß versonnen auf dem Wolkenbett. Wu erschrak: Vielleicht hab' ich gestern nacht einen falschen Wahren getötet!
Lo: »Ihr drei Männer, was wollt ihr noch hier?«
Tai kniete nieder: »Ich komme nur, unseren Lehrer um Mitleid zu bitten … uns zwei aus unserer schweren Lage zu befreien.«
Lo: »Wer ist der große wilde Mann?«
Tai: »Er ist des kleinen Menschen ehrlicher Bruder Wu.«
Lo nickte: »Ein ehrlicher Mensch!«
Wu dachte: Der Kerl weiß, daß ich ihn gestern getötet habe – er will sich mit solchen Komplimenten bei mir beliebt machen.
Aber schon verhieß Lo: »Ich kann euch drei in wenigen Minuten nach Pung-lai versetzen, nach der Insel der ewigen Jugend! Was denkt ihr darüber?«
Tai dachte sich: Lo versteht es noch besser als ich mit meiner heiligen Laufkunst!
Der wahre Mensch ließ seine Knaben drei Tücher bringen, Tai fragte:
»Darf ich Sie bitten – wie können Sie uns in einigen Minuten nach der Insel Pung-lai zaubern?«
Lo erhob sich: »Folget mir.«
Alle verließen den Tempel, Lo legte ein rotes Zaubertuch auf einen Stein und sagte:
»Ein Klarer steht hier!«
Kungsun setzte beide Füße auf das Tuch, Lo winkte mit seinem Arm und befahl: »Steigen!«
Das Tuch ward zu einer roten Wolke – trug Kungsun nach und nach empor, bis er ungefähr dreißig Schritte hoch in den Lüften schwebte. Rief Lo: »Halt!«
Die rote Wolke blieb stehen. Lo nahm ein schwarzes Tuch, ließ Tai darauf treten – auf seinen Ruf flog das Tuch als schwarze Wolke mit Tai in die Luft. Die beiden standen still auf ihren Wolken, aber Wu Sung wurde unruhig und glotzte wie ein Ochse nach oben. Lo nahm ein weißes Tuch, befahl Wu, sich draufzustellen. Wu lachte:
»Das ist kein Spaß! Wenn ich von da oben herunterfalle, werd' ich mir sicher eine große Beule holen!«
Lo: »Haben Sie die zwei nicht gesehen?«
Wu mußte sich auf das Tuch stellen, ein Wink – das Tuch, eine weiße Wolke, trug ihn aufwärts. Wu rief:
»Oh! Mein Tuch ist nicht so sicher, laßt mich herunter!«
Lo winkte mit der Hand – neigten sich die schwarze und die rote Wolke abwärts. Tai dankte Lo, zur Rechten des wahren Menschen stehend, zur Linken Kungsun Sheng.
Wu Sung zappelte oben und schrie:
»Ich will ein Bedürfnis verrichten! Wenn Sie mich nicht herunterlassen, wird alles auf Sie fallen.«
Lo donnerte: »Ich bin ein Friedfertiger! Ich bin aus dem Haus in die Einsamkeit gegangen und habe Ihnen nichts getan! Warum sind Sie gestern nacht über die Wand gestiegen und haben mich mit einem Beil erschlagen? Wenn ich nicht die Große Lehre besäße, hätten Sie mich ermordet und außerdem einen unschuldigen Taoistenknaben!«
Wu brüllte von oben: »Das ist nicht meine Tat! Sie haben vielleicht falsch gesehen!«
Lo lachte: »Na ja! Sie sind ein ehrlicher Mensch! Jedenfalls haben Sie meine beiden Kübel zerschlagen und hatten keine gute Absicht. Ich werde Sie jetzt dafür Schmerzen fühlen lassen! Halt! Sie wollen noch wissen, wo Wang-kai-wei ist? Sie sind Wang-kai-wei. Wenn Sie und Ihr Bruder bei den alten Eltern geblieben wären und sie mit Ihrer Hände Arbeit ernährt hätten, statt davonzulaufen und für einen Silbertael Nichtstuer und Soldat und Bohnenpufferverkäufer zu werden, lebten Ihre Eltern noch heute. Ihre Schwester wäre nicht das Opfer des Chêng geworden und Sie kein Mörder und Tigermensch! Jetzt werde ich Sie die Schmerzen der Eltern fühlen lassen, Wang-kai-wei! Sie Mörder, statt reumütig Buße zu tun, wollen Sie Rache verüben?! Nun kommen Sie ein wenig an den Ort, wohin Sie gehören!«
Mit einer Hand strich ihn Lo fort: »Weg!«
Ein heftiger Wind blies – trug Wu Sung in den Himmel. Dort empfingen ihn zwei kräftige Hagelgeister, nickten drohend mit den gelben Stirntüchern und nahmen ihn mit. Wu hörte, wie an seinen Ohren vorbei Sturm heulte, Regen prasselte, vor Schreck erstarrte seine Seele, Hände und Füße zitterten, er wußte nicht, wo er war – bis er merkte, daß er vom Dach des Amtes von Tung-Pin-Fu durch den Rauchfang hinunterrollte und auf die Erde fiel. Es war am Tage; der Gouverneur Liang hielt Gericht. Vor Liang lag Wu Sungs blutiger Degen, vor Liang kniete alte Wang, ein schweres Brett um den Hals, da stand Hê, der Neunte Onkel, die schwarzen, halbverbrannten Knochen Wu Tas in der Hand, da stand Yüng Kê und biß in eine Birne, da standen die Soldaten, da standen die Nachbarn, Hu Chen Chin, alle, alle. Der dicke Bruder des Schlächters Chêng neben dem verprügelten Herbergswirt aus We-Chou, der alte Haushofmeister und auch die zwei Hofoffizierchen– lauter Ankläger!
Vor der Halle standen viele Beamte. Alle sahen aus dem Hagelhimmel einen schwarzen Mann herunterfallen und erschraken. Nur der Gouverneur blieb ruhig, befahl seinen Beamten, den Ruhestörer zu verhaften. Über zehn Henkersknechte eilten herbei, fesselten Wu, schleppten ihn vor des Gouverneurs Tisch, zwangen ihn ins Knie.
Gouverneur Liang: »Wo kommen Sie Geisterbeschwörer her? Wie können Sie es wagen, aus dem Himmel mir ins Gericht zu fallen?«
Wu war vom Fall am Kopf verwundet, konnte, benommen, lange Zeit nicht sprechen. Der Gouverneur nahm an, daß der Kerl vielleicht ein böser Geist sei, und ließ die schmutzigen Sachen herbeibringen. Am sichersten nämlich fesseln die Menschen einen Geist an die Erde, indem sie ihn mit Dreck beschmieren. Die Henker führten Wu Sung aus der Halle, brachten eine Schüssel Hundeblut und gossen es über seinen Kopf, andere brachten Kot und beschmierten damit seinen Körper. Hauptmann Wus Mund und Ohren waren voll Schmutz, in seiner Nase klebte Dreck, mit dem die Leute ihn beschmierten, weil sie wußten, daß sich kein Geist mit soviel Dreck entfernen könne. Also ermuntert, gestand Wu:
»Ich bin kein Geisterbeschwörer! Ich … ich … ich bin des wahren Menschen Schüler, der Jünger des Meisters Lo!«
Da die Henkersknechte von Tung-Pin-Fu wußten, daß der wahre Mensch Lo ein irdischer Engel war, wollte niemand seinen Jünger belästigen, und sie brachten ihn wieder in die Halle.
Einer meldete dem Gouverneur, der wahre Mensch Lo sei ein weltbekannter Erdengel und dieser hier sein Schüler. Darum dürfe man ihn nicht bestrafen. Gouverneur Liang lachte lange:
»Ich habe über tausend Werke gelesen, ich habe auch sehr viel Geschichten gehört, aber ich habe nie gesehen, daß ein Engel einen solchen Schüler hat. Wahrscheinlich ist es ein höllischer Geisterbeschwörer! Henker! Prügelt mir den Kerl gehörig durch!«
Zehn Henker warfen mit Mühe den ermatteten Wu Sung zu Boden und schlugen ihn so, daß Gouverneur Liang schrie:
»Sie Kerl, geben Sie schnell zu, daß Sie ein Teufelsgeistbeschwörer sind, dann haben Sie Ruh, ich lasse Sie nicht mehr schlagen!«
Des Hauptmanns Körper beschloß dumpf, sich weitere Schmerzen zu ersparen, und wider Willen blutete seine Zunge laut:
»Ich bin Wu Sung.«
Gouverneur Liang errötete vor Wut, die Frage nach dem Schatz lag auf seinen Lippen, aber vorsichtig bezwang er sich noch. Auf seinen Wink feierte Wu Sung das Wiedersehen mit einem schweren Halsbrett und wurde ins Todesgefängnis gebracht. Als er drin war, brüstete er sich:
»Ich bin die Geisterwache, wie können Sie mir ein Brett um den Hals legen! Ich werde auf jeden Fall das ganze Volk der Stadt Tung-Pin-Fu durch Pest töten.«
Die Aufwärter und Henkersknechte erschreckte er damit; sie alle hatten schon vorher große Ehrfurcht vor dem wahren Menschen, und obwohl sie von Wu viel gehört, sie alle kamen, ihn fragen, was für ein Mensch er sei. Wu, witternd einen geheimen Auftrag des Gouverneurs:
»Ich bin des großen Taoisten Geisterwache, ich habe einen Fehler begangen, und Lo hat mich hierher verbannt, mich Schmerzen erdulden zu lassen. Einige Tage nur, und ich werde von hier feierlich abgeholt werden. Mir gehorchen gewöhnlich zwei Hagelgeister mit goldenen Stirnbinden. Wenn ihr mich nicht mit Wein und Fleisch gut bewirtet, lasse ich eure Hundefamilien töten!«
Alle fürchteten die Wahrheit seiner Worte, kauften Wein und Fleisch, um es ihm zu verehren; Wu merkte, daß sie Angst vor ihm hatten, erzählte weiter die unglaublichsten Dinge. Drohte:
»Wenn ich nächstens vom Himmel stürze, werde ich auf einen von euch Weichköpfen fallen.«
Sie fürchteten ihn immer mehr und mehr, brachten dem über und über Beschmutzten heißes Wasser, damit er ein Bad nehmen könne, und saubere Kleider.
Wu: »Wenn Wein und Fleisch alle werden, werde ich von hier fortfliegen, und ihr alle werdet dann elend krepieren!«
So mußten die Henker ihn kniefällig um Schonung bitten. Wu war ins Gefängnis der Stadt Tung-Pin-Fu gefallen, aber zunächst ging es ihm gut. Der Grund war: Über einen vom Himmel Gefallenen konnte ein einfacher Gouverneur, wenn er auch noch so ungläubig war und selbst wenn er eine Tochter des Reichskanzlers zur Frau hatte, nicht so ohne weiteres zu Gericht sitzen. Er hatte sich vielleicht sogar schon ins Unrecht gesetzt, als er ihn nicht nur beschmutzen, sondern sogar prügeln ließ. Liang mußte sofort, noch in der Nacht, einen Vertrauten mit einem Geheimbericht und seinen Urteilsvorschlägen für das Justizministerium auf den wochenlangen Weg nach der Osthauptstadt senden, und das Justizministerium wiederum mußte untertänigst beim Drachenthron anfragen – denn von dem Kaiser hing die Entscheidung über alle himmlischen Angelegenheiten ab.
Um aber Wu Sung inzwischen das ohnehin durch die grauenvolle Wartezeit, die Erwartung des Richterspruches unsäglich verbitterte Leben noch mehr zu vergällen, ließ Liang den Hauptmann an einem der nächsten Tage in die menschenstrotzende Halle führen, las in seiner Gegenwart folgendes kaiserliche Urteil ab:
»Wir ersehen, daß Frau Wang absichtlich wilde Liebschaften anbahnte, um andere Leute zu verführen und zu unmoralischen Sachen zu verlocken. Sie riet einer Ehefrau, den Mann mit Gift zu töten, sie riet der Witwe des Ermordeten, den Bruder nicht an der Seelentafel beten zu lassen. Frau Wang verführte einen Mann und eine Frau zu unmoralischen Unsauberkeiten, die mit Mord und Totschlag endeten. Das Gesetz fordert, daß ihr Körper zerschnitten wird. Der unmoralische Mann und das unmoralische Weib hätten auch schwere Strafe zu bekommen, da sie sich dem aber leider durch Tod entzogen haben, kann über sie kein Urteil mehr gefällt werden. Die Zeugen werden auf freien Fuß gesetzt. Der gewesene Hauptmann Wu Sung, der in diese und andere Untaten verwickelt ist, hat demnächst vor ein Militärgericht gestellt zu werden. Das Urteil über die Kupplerin Wang tritt sofort in Kraft.«
Frau Wang setzte man auf einen Holzesel und band sie mit einem Strick fest. Auf eine lange Papiertafel wurde ihr Name geschrieben, und sie mußte das Urteil unterzeichnen. Die Papiertafel ward ihr über den Rücken gehängt. Man trug sie auf dem Holzesel hinaus, Musikbeamte voran, auf zertrümmerten Trommeln Lärm machend. Zu beiden Seiten schritten Soldaten mit Langschwertern, Kleinbeamte gingen mit, die Bestrafte vor dem Zorn oder Mutwillen des Volkes zu schützen. In der Mitte der Stadt, auf einem Marktplatz, wurde die Strafe vollzogen. Unter dem Volk befand sich auch Wu Sung mit seinen Wärtern. Aber in seine Nähe drängte sich einer der Nachbarn aus Yang Gu: Der hatte Wu Tas Haus verkauft und brachte nun, wie verabredet, das Geld Wu Sung. Die Wärter sahen ehrerbietig zu.
Von nun an behandelte Wu Sung seine Wärter sehr freundlich; gute, alte Sprichwörter fielen ihm ein: »Man hat keine Angst vor den höchsten Beamten; aber man fürchtet den Kleinen, der über einem steht.« – »Wenn man unter anderer Leute Dach tritt, muß man den Kopf tiefer hängen lassen.«
Der Erfolg stellte sich, je williger sich Wu Sung von seinen Silbertaels trennte, desto sichtbarer ein. Die Henkersknechte und Wärter wurden zutraulich: »Wir alle haben es nicht besser und sind nicht besser als Gefangene. Wir sind keine Richter. Haben Sie nicht gehört: Als der arme Hase vom Jäger getötet wurde, war der Fuchs sehr traurig, weil ein Tier mit dem andern Mitleid hat.«
Aber sie wußten nichts von dem Geheimbericht und witterten im Aufschub des Urteils und der Strafe ängstlich eine böse Absicht: »Herr Hauptmann, man wird Ihnen heimlich das Leben nehmen!«
Wu: »Wie kann man mir mein Leben nehmen?«
Einer sagte: »Man wartet bis zum Abend und bringt Ihnen zwei Schüsseln, voll mit gelbem Reis, zum Essen, und nachher nehmen die Kerle die Gelegenheit wahr, daß Sie satt und wehrlos sind, und führen Sie ins Erdgefängnis! Mit einem Strick werden Sie gefesselt, in eine Strohmatte gewickelt, Ihr Gesicht wird mit irgendeinem harten Gegenstand zerschlagen. Sie werden auf dem Kopf stehenbleiben, und es dauert keine halbe Stunde, dann sind Sie von dieser Welt geschieden! Das heißt eine Henkersschüssel.«
Wu: »Haben Sie noch eine andere Art, zu töten?«
Man antwortete: »Es gibt noch eine Art: Zuerst fesselt man Sie, dann füllt man einen großen Sack mit Sand. Der Sack wird auf Sie gelegt, in wenigen Stunden sind Sie erdrückt! Das heißt ein Sandsack.«
Wu: »Gibt es noch etwas Schlimmeres?«
Sie sprachen: »Das sind schon die schlimmsten Todesstrafen, alle anderen Todesarten sind nicht so arg.«
Als die Wärter kaum zu Ende gesprochen hatten, kam ein Soldat mit einem Kasten herein, fragte: »Welcher ist der vom Himmel gefallene Offizier Wu Sung?«
Wu: »Ich bin aus allen Himmeln gefallen, womit können Sie mich auf der Erde trösten?«
Soldat: »Man hat mich hierhergeschickt, Ihnen eine kleine Speise zu bringen.«
Wu öffnete den Kasten, drin standen eine Riesenschale Wein, ein Teller Fleisch, ein Teller Nudeln und eine Schüssel Suppe. Er dachte bei sich: Na, die wollen mich zuerst füttern und später beseitigen … Ich werde ruhig essen, dann wollen wir weitersehen!
Er trank die Schüssel Wein auf einmal aus und aß alles andere auf. Der Soldat räumte ab und ging wieder fort. Wu saß im Zimmer und machte sich Mut durch kühnes Gelächter: »Wollen sehen, was mir begegnen wird!«
Es wurde dunkel, und der Soldat, der vorher bei ihm gewesen, kam wieder mit einem Kasten.
Wu: »Warum kommen Sie schon wieder?«
Der Mann: »Ich bringe Ihnen das Abendessen!«
Es war dasselbe Essen wie vorher, nur einige Gemüsegänge mehr. Wu dachte bei sich: Wenn ich jetzt esse, kommen sie mich morden … Meinetwegen! Wenn ich tot bin, werde ich wenigstens ein satter Teufel sein! Der Soldat wartete, bis Wu alles aufgegessen hatte, säuberte den Tisch, nach kurzer Zeit kam er wieder mit einem zweiten Soldaten. Der brachte eine große Badewanne, der erste trug Kannen mit heißem Wasser herbei: »Wir bitten den Offizier, zu baden!«
Wu erwog: Warum müssen die mich zuerst baden und dann töten? … Aber ich fürchte mich nicht vor denen! Ich werde gleich baden!
Er badete, und die Soldaten reichten ihm die Trockentücher, damit er sich abreibe. Einer trug Wasser und Wanne fort, der andere brachte eine Ruhetruhe, seidenüberzogen, und außerdem noch ein gutes Bett, dann gingen beide hinaus. Wu riegelte die Tür von innen zu – dachte: Was soll das heißen? Ach was! Ich werde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen! Sollte ich wirklich der Schüler des wahren Menschen Lo sein?
Er legte sich ins Bett und schlief. Die Nacht über war es sehr ruhig; in der Frühe, kaum Wu die Tür geöffnet hatte, kam derselbe Soldat mit Waschwasser herein und brachte auch Essenzen zum Mundspülen. Ein Haarkünstler kam, Wu Sung das Haar zu kämmen und zu einem Knoten zu drehen. Einen neuen Hut erhielt er und wurde bewirtet wie zuvor. Gegen Nachmittag bekam er Tee, und der Soldat sagte ihm kopfschüttelnd: »Hier ist nicht gut rasten, bitte, Offizier, kommen Sie ins nächste Zimmer, dort kann ich Sie bequemer bedienen.« Wu Sung fühlte: Jetzt kommt es … Ich werde ihm folgen, ich bin neugierig, was diese zuvorkommenden Mörder eigentlich mit mir vorhaben!
Der eine nahm die Sachen mit, der andere führte ihn hin. Wu trat ein, schaute sich überall um, alles war sehr sauber. Die Einrichtung war fast neu. Er wunderte sich: Ich fürchtete, ich müßte jetzt ins Erdgefängnis gehen, wieso darf ich mich in einem so angenehmen Zimmer aufhalten? Das ist ja gar kein Vergleich mit dem gestrigen Raum!
Sie brachten ihm Abendessen und bereiteten ihm das Bett wie zuvor. Am dritten Tag, nach dem Essen, geruhte Wu aus seinem Zimmer zu gehen, um sich ein wenig umzuschauen. Er sah die Gefangenen Wasser tragen, Holz hacken und Gartenarbeiten verrichten. Die Sonne brannte heiß, und die Gefangenen mußten arbeiten; einen kühlen Rastplatz gab es nicht. Wu Sung legte seine Hände auf den Rücken, lief überall herum und fragte:
»Warum bleiben Sie alle in der Sonne und arbeiten so fleißig?«
Die Gefangenen lachten bitter: »Held! Sie verstehen nicht, daß man uns hier Essen und Arbeit gegeben hat – es gibt einen großen Unterschied zwischen Himmel und Erde! Wie können wir damit unzufrieden sein, daß wir unter der Sonne sind? Es gibt Gefangene, die keine Empfehlung und kein Geld haben, die werden an einer Eisenkette in den Kerker geschlossen. Dort können sie nicht leben, nicht sterben! Diese Menschen müssen sich auch gedulden!«
Wu hörte das, die ganze Bewirtung – mitten in diesem Elend wurden ihm die ewigen Henkersmahlzeiten immer rätselhafter. In seinem neuen Zimmer erhielt er täglich gutes Essen, guten Wein. Er dachte nach, grübelte, konnte sich nicht klarwerden, was die Leute von ihm wollten.
Eines Nachmittags brachte der Soldat wieder Wein und Essen, Wu Sung hatte keine Geduld mehr, legte die Hand auf den Kasten: »Wer sind Sie? Was erlauben Sie sich? Warum bringen Sie mir immer Wein und gutes Essen? Wer hat Ihnen das befohlen? Wenn ich immer so esse, was soll dann später werden, wenn ich nicht mehr in diesem Gefängnis bin?«
Der Soldat schüttelte den Kopf: »Kleiner Mensch weiß von nichts«, verschwand.
Fragen bei den Wärtern hatten keinen Erfolg. Er erfuhr nur, daß der Gouverneur für einige Tage verreist sei, und führte sein Wohlleben darauf zurück.
Eines Nachmittags, gegen Abend, als er in der Dämmerung saß, öffnete sich die Tür, ein großer Mönch trat ein. Wu fragte: »Wer da?« Wollte Licht machen, aber die Gestalt winkte ab, verriegelte das Zimmer, Wu sah näher hin – es war Teufel Sun, die Frau des Chang Chin; er wollte vor Freude sprechen, aber sie packte ihn lieber beim Geschlecht.
Nach Wolken und Regen begann sie leise: »Ihre Schwester Munglan, Ihr Schwager Chau, Herr King, Herr Li Chung und mein Mann sind sehr besorgt um Sie, sie ließen Ihr Essen verbessern. Unter den Frauen der Henker habe ich eine gute Freundin, ich besuchte sie heute als Zeremonienmönch – mein Mann und ich haben einmal einen Mönch vergiftet, warum trank er auch Wein?! Hier, nehmen Sie die Kleider des Mönchs, seinen schwarzen Überzieher, Gebetkranz und, was gut zu Ihnen passen wird: eine Kette – statt aus Perlen, aus hundertacht Menschenschädelknöchelchen. Hier haben Sie vor allem den Ausweis des Mönchs und in einer Krokodillederhülle ein frommes Schwert. Ich werde Ihnen den Bart abschneiden, das Haar kurz scheren und Sie als Reisemönch verkleiden. Wenn die Haare gefallen sind, ist Ihr Gesicht kaum wiederzuerkennen, der Beamten Hornochsenaugen sind so zu blenden. Sie gehen beim Tor hinaus als der Mönch, der kam; mich begleitet später die Freundin, die Henkersfrau, aus dem Gefängnis. Wenn Sie verschwunden sind, wird sich niemand wundern: Wer vom Himmel gefallen ist, kann auch von der Erde verschluckt werden.«
Sie hielt ihm die Hand vor den Mund, ließ ihn nicht reden.
»Tung und Sieh lassen Sie grüßen.«
»Sie leben also?«
»So gut, wie Sie leben würden, wenn Sie auch bei uns geblieben wären. Aber verlieren wir jetzt keine Zeit mit Familiennachrichten. Sie müssen gleich ins Zwei-Drachen-Gebirge fliehen, dort werden Sie Li Chung treffen.«
Wu mußte sich einkleiden. Als er sich anzog, besah er sich und schmunzelte: »Es ist Schicksal, daß die Sachen mir genau passen. Muß ein strammer Bruder gewesen sein.«
Er hatte den Überzieher angezogen, den kurzen Gürtel umgehängt, nahm den Filzhut ab, kämmte sein Haar auseinander und knotete es. Dann setzte er den Gebetkranz auf, die Knochenperlenkette hing er sich um. Teufel Sun guckte ihn an – sie klatschte leicht in die Hände: »Ausgezeichnet!«
Wu nahm einen Spiegel, schaute hinein und lachte auch.
Sun: »Jetzt muß ich Ihr langes Haar kurz schneiden.«
Sie holte eine Schere hervor und schnitt ihm jedes Haar bis an den Hals kurz ab. Wu packte sein Paket, wollte gleich Abschied nehmen. Das Schwert in der Hülle ließ er an der Seite herabhängen. Teufel Sun aber steckte ihm den Mönchsausweis in eine kleine gestickte Tasche und hängte sie Wu vor die Brust. Ehe er, für seinen grenzenlosen Dank ohne Worte, ging, sagte Teufel Sun:
»Bruder, unterwegs müssen Sie sehr achtgeben! Wenn etwas passiert, nehmen Sie nicht immer anderer Leute Sachen auf sich. Trinken Sie weniger und zanken Sie mit niemand, dann wird man Ihnen den Mönch glauben! Sobald Sie im Zwei-Drachen-Gebirge sind, bei den Räubern oder bei guten Bauern, schreiben Sie uns, wir wollen auch nicht mehr hierbleiben. Wir haben das ewige Menschenfleisch satt! Bruder, seien Sie vorsichtig!«
Wu verabschiedete sich still, überschwenglichen Herzens. Ging unbehelligt fort. Teufel Sun sah ihm nach, lachte: »Er sieht wirklich wie ein Wandermönch aus!«
Wu wanderte einen Tag und eine Nacht lang, bis so etwas wie Tung-Pin-Fu längst nicht mehr zu sehen war. Er konnte auf den großen Heerstraßen wandern, auf den alten Steckbriefen mitleidig seine unähnlich gewordenen Bilder belächeln; kleine, struppige Tigerwege hatte er nicht mehr nötig, da er ein Mönch schien – ein sehr kräftig ausschreitender Mönch mit einem richtigen Mönchsausweis.
Er dachte manchmal an seine Schwester Munglan – oh, zuviel Morde trennten sie nun! Er würde sie nie wiedersehen. Sonst dachte er wenig an die Vergangenheit, denn er begriff sie nicht mehr. Hatte er sich ins Gesicht gespien, als er Teufel Sun umfing?! Er wußte sich frei von Lüsternheit. Er hatte immer nur streng dafür gelebt, seinen Körper für den Kampf in Form zu erhalten. Und da war Lust schädlich, viel Essen und viel Trinken vorgeschrieben. Aber unablässig dachte etwas in ihm selbstverächtlich:
Mit der armen Goldlotos hab' ich es nicht getan, ich habe sie verschmäht und ermordet – meinem Bruder zuliebe! Aber die andere Giftmischerin: diese wilde, tapfere, schmutzige Räuberin, die aus geschlachteten Männern Fleischklößchen macht, habe ich umarmt, ich habe sie nicht getötet, ich habe diese Mörderin, diese Frau eines andern mit Inbrunst beschlafen, beschlafen, weil sie mich erlöste, weil ihre Scham, ihr Herz mir die Freiheit versprach, mich mit der Freiheit bestach! Silbertael! Silbertael! Ich weiß nicht, warum mich Lügner der wahre Mensch Lo am Leben läßt? Aber vielleicht weiß er, daß ich Gutes tun und das blutige Schwert fortwerfen will.
Und es fielen ihm irgendwoher – hatte das nicht sein Vater oft vor sich her gesagt? – die Worte, Verse des alten Weisen Po Chü-i ein: »Ich suche den Mann der Arbeit, der heimkehrt zu des Altertums Sitte, fähig, den Herrscher zu zwingen, abzuschaffen das Gold; ich suche den gewaltigen Mann, festhaltend des Reiches Töpferscheibe, die allen spendet das alte Geld der Arbeit: die Rundtafel aus Ton.«
Zum erstenmal rastete Wu Sung, als er frei im Blauen die gelben Räuberfelsen des Zwei-Drachen-Gebirges erblickte. Es war gegen Sonnenuntergang, als er von fern eine Weinfahne erspähte, auf der triumphierend der Vers stand: »Nach drei Bechern kann niemand über den Berg.« Windzerfetzt warf er sich unter das Wetterdach der leeren Bauernschenke, schrie: »Wein! Wein!« Und trank, trank, bis er seine Einsamkeit übersang:
Abend ist, die müden Vögel
Stillt der Wald.
Über ihnen die Wolken
Kehren heim an die Berge.
Unten unter den Menschen bin ich allein,
Der Wanderer des langen Weges »Nie zurück!«
Zu Roß ritt ich dahin,
Zu Wasser fuhr ich dorthin,
Ich bin der Wanderer Weitaus.
Quält mich der Wirbelwind meiner Gefühle,
Sticht mich Heimweh ins Herz,
Werf ich in mich ein, zwei, drei Becher Wein
Und lache, lach über mein ernstes Gesicht.