Georg Ebers
Die Nilbraut
Georg Ebers

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Orion befand sich in dem weiten Gemach allein, und es war ihm, als ob die Welt nach Ungewitter und Sturm rings um ihn her in das leere Nichts versinke. Er empfand zunächst nur, daß sich etwas Furchtbares zugetragen und ihn weit hinaus aus dem Bereich alles dessen zu schleudern drohe, wovor er sich zu beugen und was er für heilig zu halten gewohnt war.

Seinem guten Engel zur Ehre und zu liebe hatte er dem Patriarchen den Krieg erklärt, und groß wie die Gestalt dieses Mannes war auch das, was er vermochte. Doch der Geliebten Bild überragte vor des Jünglings Auge den furchtbaren Greis hoch und siegreich, und sein Vater erschien ihm wie ein Bundesgenosse bei dem Kampfe, den er, ganz auf sich selbst gestellt, bestehen sollte.

Und nun vergegenwärtigte sich der Jüngling mit Aufgebot seines kräftigen Gedächtnisses und scharfen Geistes jedes Wort, das er aus des Prälaten Mund vernommen. Wie die Katze mit der Maus, so hatte der gewaltige, von Glaubenseifer übersprudelnde Greis mit ihm gespielt. Ihn auszuhorchen und zu ergründen hatte er gesucht, bevor er mit dem letzten ans Licht getreten war, womit er hätte beginnen sollen und wovon er unterrichtet gewesen, bevor er ihm zum erstenmal heiter, und als habe er keinerlei ernsten Vorwurf gegen ihn auf dem Herzen, die Hand geboten. Ohne ihn, nahm sich Orion vor, wollte er festhalten an seinem Glauben und sich durch ihn die beiden anderen höchsten Güter der Christenseele, Liebe und Hoffnung, nicht schmälern lassen.

Wie durch ein Wunder schien die Mutter trotz der Not ihres blutenden Herzens dem Kirchenfürsten noch nichts über den Fluch des Vaters mitgeteilt zu haben, und welche Waffe gegen ihn hätte dies in Benjamins Hand gegeben!

Mit tiefem Mitleid gedachte er der armen, unglückseligen Frau, und dabei durchfuhr ihn der Argwohn, daß der Kirchenfürst sich zu ihr zurückbegeben habe, um ihn anzuklagen und sie zu neuen Geständnissen zu bewegen.

Eine lange Reihe von Minuten war seit der Entfernung des Patriarchen vergangen, und ohne ihm das Geleit zu geben, hatte Orion den hohen Gast ziehen lassen, und das mußte Aufsehen erregen. Dieser Verstoß gegen die gute Lebensform, das unparagraphirte Gesetz der Gesellschaft, erschien dem Sohn eines alten, vornehmen Hauses, der die Achtung davor gleichsam mit der Muttermilch eingesogen, wie eine sich selbst angethane Unbill, und um diese wieder gutzumachen, fuhr er rasch ordnend über das zerwühlte Haupthaar und eilte in das Viridarium zurück.

Dort sollte sich sein Verdacht sogleich bestätigen; denn die Begleiter des Patriarchen standen noch vor dem Eingang in das Brunnenzimmer, wo seine Mutter sich aufhielt, und Benjamin trat soeben daraus hervor.

Mit höflicher Würde, und als sei zwischen ihm und Orion nur Freundliches verhandelt worden, nahm der Greis seine Begleitung an. Im Viridarium fragte er seinen jungen Wirt nach dem Namen einiger seltenen Gewächse und erteilte ihm den Rat, auf seinen Gütern für die Anpflanzung schattenspendender Bäume zu sorgen. Im Vorsaal standen an den Pilastern zur Seite der hohen hinteren Thür die Marmorstatuen der Wahrheit und der Gerechtigkeit, beides schöne Werke des Alexandriners Aristeas, der zur Zeit des Kaisers Hadrian gelebt hatte. Diese trug Wage und Schwert in den Händen, jene blickte in einen Spiegel. Als der Patriarch sich ihnen näherte, rief er dem Priester, welcher ihn begleitete, zu: »Noch immer!« Dann stand er still, wandte sich halb an Orion, halb an jenen und sagte: »Dein Vater hat, wie ich sehe, meinen Wink, diese heidnischen Figuren gehörten nicht in ein christliches Haus und am wenigsten in eins, woran sich eine öffentliche Behörde schließt, nicht beachtet. Wir wissen ja, wozu ihre Abzeichen sie stempeln; doch wie leicht kann der gemeine Mann, der hier wartet, das Weib mit dem Spiegel für die Eitelkeit und das mit der Wage für die Käuflichkeit halten: zahlet, was uns genehm ist, sonst – darauf deutet das Schwert – sonst geht es ans Leben!«

Damit schritt er lächelnd vorwärts und sagte dann leichthin zu Orion:

»Wenn ich wiederkomme – Du weißt ja – und mein Auge wird nicht mehr durch diese Gebilde vergangener Abgötterei beleidigt, so soll es mich freuen.«

»Wahrheit und Gerechtigkeit,« versetzte Orion mit gepreßter Stimme, »sie haben beinahe ein halbes Jahrtausend an dieser Stelle gestanden und in diesem Hause geherrscht.«

»Es wäre schöner und rühmlicher,« entgegnete der Kirchenfürst, »Du könntest das von dem einzigen sagen, dem im Christenhause die erste Stelle gebührt; in seinem Reich gedeiht jede andere Tugend von selbst. Der Christ soll aus seiner Wohnung jedes Bildwerk verbannen, nur vor das Thor des Herzens stelle er an den einen Pfosten den Glauben, an den andern die Demut.«

Damit waren sie aus dem Hof und an den Wagen der Witwe Susanna gelangt. Orion half dem Prälaten, ihn zu besteigen, und als ihm dieser im Angesicht von mehreren hundert auf die Kniee gesunkenen Beamten und Sklaven die Hand zum Kuß entgegenstreckte, berührte sie der Jüngling leise mit den Lippen. Tief geneigt blieb er stehen, so lange der heilige Mann der Menge den Segen aus der offenen Seite des Fuhrwerks zuwinkte; dann begab er sich schnell zur Mutter.

Er hatte die unglückliche Frau erschöpft durch die mit dem Besuch des Priesters verbundene Erregung zu finden erwartet; doch er fand Frau Neforis gefaßter, als er sie seit dem Tode des Vaters gesehen, ja, ihr sonst so nüchterner Blick strahlte in einem schwärmerischen Glanz, der Orion überraschte.

Hatte sie an den Vater gedacht? War es dem Patriarchen gelungen, ihr frommes Gemüt so zu begeistern, daß es sich gleichsam über sich selbst hinaus schwang?

Sie war zum Kirchgange gerüstet und forderte Orion auf, nachdem sie die Ehre gepriesen, welche ihr und dem ganzen Hause durch den Besuch des allerheiligsten Vaters zu teil geworden, sie in das Gotteshaus zu begleiten, und der liebevolle Sohn erfüllte, obgleich er die nächsten Stunden ganz anderen Dingen bestimmt hatte, ungesäumt diesen Wunsch, hob sie in den Wagen, raunte dem Lenker zu, langsam zu fahren, und ließ sich neben ihr nieder.

Unterwegs fragte er sie, was sie dem Patriarchen mitgeteilt habe, und ihre Antwort hätte ihn beruhigen können, aber sie erfüllte ihn nach einer neuen Richtung hin mit ernster Besorgnis. Der sonst so verständige, ruhige Geist dieser nüchternen Frau mußte unter der Wucht des Unglücks gelitten haben; denn was sie sagte, klang verworren und war ihm nur zur Hälfte verständlich; doch das eine ging klar daraus hervor, daß sie den Patriarchen nicht zum Vertrauten des Fluches gemacht hatte, mit dem der Vater geschieden. Der Kirchenfürst mußte auch ihr gegenüber des Verstorbenen Handlungsweise getadelt haben, und das hatte ihr die Lippen geschlossen. Sie klagte dem Sohn, daß Benjamin den Entschlafenen niemals verstanden, daß sie den heißen Wunsch, sich ihm ganz zu erschließen, habe zurückdrängen müssen. Erst in der Kirche, im Angesicht des Erlösers selbst, werde sie es über sich vermögen, ihn in ihrem Herzen lesen zu lassen wie in einem offenen Buche. Im Gotteshause, nur dort, eine Stimme habe es ihr gesagt, werde sie Erlösung finden für sich und den Sohn, doch die Stimme, sie höre sie oft bei Tag und bei Nacht, und, so weh es ihr thue, ihn zu bekümmern, jetzt müsse er's hören: die Stimme lasse nicht ab, ihr zu befehlen, seine Verbindung mit der Melchitin auseinanderzureißen. Gestern habe sie geglaubt, es sei ihr ältester verstorbener Sohn, der zu ihr rede, er, der für seinen jakobitischen Glauben gestorben. Die Stimme habe wie die seine geklungen und ihr zugerufen, daß das alte Haus des Menas untergehen müsse, wenn die Melchitin das reine Blut ihres Stammes trübe. Und Benjamin habe ihre Besorgnis bestätigt und sei zu ihr zurückgekehrt, eigens um sie zu beschwören, dem frevelhaften Verlangen Orions nach der Tochter des Thomas mit dem Aufgebot ihres ganzen mütterlichen Ansehens entgegenzutreten, und weil der Patriarch dasselbe begehre wie die Stimme, so sei sie von Gott, und sie müsse ihr gehorchen.

Der alte Groll gegen Paula war wieder erwacht, und man hörte ihrer Stimme an, daß er sich mit jedem Satze steigerte, in dem sie ihrer gedachte.

Da bat Orion sie, sich zu mäßigen, und erinnerte sie an die Zusage, die sie ihm am Sterbebette des Vaters gegeben, und wie die Mutter ihm darauf mit Wimmern und Klagen zu antworten anhob, hielt der Wagen vor der Kirche. Nun wandte er alles auf, um sie zu beruhigen, und weil der weiche, zärtliche Klang seiner Stimme ihr wohl that, nickte sie ihm wieder freundlich zu, während sie ihm in das Gotteshaus folgte.

Hinter dem Narthex, dem Vorraum der Kirche, wo sich neben einem kleinen marmornen Brunnen drei Büßer im Angesicht der eintretenden Menge den Rücken mit Geißelhieben zerfleischten, mußten sie sich trennen; denn die Frauenstände befanden sich abgesondert von denen der Männer hinter einem Gitter von zierlich geschnitztem Holzwerk. Während Frau Neforis ihnen zuschritt, schüttelte sie leise den gesenkten Kopf. Sie gedachte der Wahl, vor welche Orion sie stellte, sich den Befehlen des Patriarchen oder des Sohns Wünschen zu fügen. Wie gern hätte sie den Jüngling wieder heiter gesehen, doch Benjamin hatte sie mit dem Verluste der himmlischen Seligkeit bedroht, wenn sie zu der Verbindung Orions mit der Ketzerin die Einwilligung gab; die ewige Seligkeit aber schloß für sie ein Wiederfinden und Wiederbesitzen in sich, für das sie den Sohn und dazu alles, was ihrem Herzen sonst noch lieb war, willig preisgegeben hätte.

Von dem Platz seiner Familie, dicht vor dem Hekel oder Allerheiligsten, aus, wo der Altar stand und die Priester den Gottesdienst versahen, wohnte Orion ihm bei. Er war von dem dreiteiligen Hauptschiffe durch eine mit elenden Bildern und leicht vergoldetem Zierat geschmückte Scheidewand getrennt und machte wie das ganze Gebäude einen weder ansprechenden, noch prächtigen, noch gar erhebenden Eindruck. Die ursprünglich reich ausgestattete Basilika war bei einem Zusammenstoß der Jakobiten und Melchiten von den letzteren ausgeplündert worden, und die verarmende Stadt nicht im stande gewesen, den alten Glanz ihrer ehrwürdigen Hauptkirche auch nur annähernd wieder herzustellen. Orion schaute um sich her; aber nichts, was er sah, vermochte seine Andacht zu steigern.

Die gesamte Gemeinde war gehalten, dem Gottesdienste stehend beizuwohnen, und da er sehr lange zu dauern pflegte, stützten sich nicht nur die Frauen hinter der Schranke, sondern auch viele Männer gleich Lahmen und Siechen auf Krücken. Wie unschön klang der immerfort von dem schrillen Ton einer geschlagenen Metallscheibe unterbrochene ägyptische Gesang, in den sich die Stimmen plaudernder Menschen mischten, die ein Priester, sobald das Gespräch in Zänkerei ausartete, vom Hekel her laut und heftig zur Ruhe verwies.

Sonst war, wenn das Abendmahl nicht verteilt wurde, mit diesen liturgischen Uebungen alles zu Ende; doch in dieser Angstzeit bestieg nun schon seit einer Woche ein Priester oder Mönch Tag für Tag die Kanzel.

Bald nachdem der Jüngling seinen Platz eingenommen, begann die Predigt, und mit einer peinlichen Empfindung erkannte er in dem hohläugigen, zerlumpten Mönch, der sie hielt, einen Geistlichen, dem er mehr als einmal, bis zur Sinnlosigkeit berauscht, in der Herberge des Nesptah begegnet war. Und dieser widrige Gesell, der mit dem Schmutz und der Verwahrlosung seines Körpers selbst auf der Kanzel prunkte, donnerte in die bebende Gemeinde hinein, das Ausbleiben der Nilschwelle sei die Folge ihrer Sünden und die Strafe Gottes für ihre Missethat. Statt die geängstigten Gemüter zu trösten, ihren Glauben freundlich zu beleben und sie mit Hoffnung auf bessere Zeiten zu erfüllen, stellte er ihnen in glühender Rede vor, welche Strafe ihres sündigen Kleinmutes harre.

Gott der Herr plage sie und das Land mit großer Hitze, aber diese sei wie ein kühler Nordwind in der Adventszeit verglichen mit der Glut der höllischen Oefen, welche Satanas schon für sie heize. Die brennende Sonne auf Erden erleuchte den Tag, aber die Flammen dort unten verbreiteten kein Licht, damit der Schrecken derer nicht aufhöre, welche die Knechte des Teufels mit Lanzen- und Gabelstichen, mit Keulenschlägen und tiefen Bissen ins Fleisch über die schmale Brücke trieben, die in sein gräßliches Reich führe. In der Todesangst und bei dem Gedränge auf diesem Stege trete die Mutter den Säugling, der Vater die Tochter zu Boden, und wenn die Verdammten die stachelige Schwelle des Höllensaales betreten, qualme ihnen ein grausamer, giftiger Gestank entgegen, der sie ersticke und ihnen doch wie die frische Luft Kraft verleihe, neue Qualen mit gesteigerter Empfindlichkeit aller Sinne zu fühlen. Und nun dröhne ihnen das Jammergeheul des Teufels entgegen, vor dem das Gewölbe der Hölle erzittere, und plötzlich ergreife er sie mit fürchterlichem Gezeter von dem Roste aus, auf dem er liege, zerpresse und zermalme sie wie Trauben zwischen seinem eisernen Gebiß und schlucke sie nieder in seinen brennenden Bauch, wenn sie nicht von den Knechten des Satans in glühenden Oefen an den Zungen aufgehängt oder bald durch Flammen, bald durch Eis gezogen und endlich auf dem Ambos der Hölle in Stücke zermalmt oder mit Tüchern und Stricken zu Tode geschnürt und gewunden würden. Gegen den Schmerz, den es da zu erdulden gebe, sei jede Seelenpein süß wie ein Kuß der Geliebten. Die Mutter höre das kochende Hirn im Schädel ihres Säuglings brodeln . . .

Bei diesem gräßlichen Ausspruch des Mönches wandte Orion sich schaudernd von ihm ab. Der Fluch, mit dem der Patriarch ihn bedroht hatte, kam ihm in den Sinn, und es war ihm, als sei das ganze heiße, dumpfe, mit Weihrauchqualm erfüllte Gotteshaus mit flatternden Dohlen und häßlichen Fledermäusen erfüllt. Tiefer Abscheu ergriff ihn, und plötzlich bäumte sich der frische Jugendmut, der Freiheitsdrang und die Daseinslust hoch auf in seiner Seele, und es war ihm, als riefe eine innere Stimme ihm zu: »Fort mit dem Zwang und den Ketten, rege deine Schwingen, beflügelter Geist. Fort mit dem Gotte des Schreckens, der ein anderer ist als der himmlische Vater, dessen Liebe die Menschheit umfaßt. Frei, ungefesselt vorwärts, auf die eigene Kraft gestützt, gelenkt vom eigenen Willen, rüstig hinaus in das offene, sonnige Leben! Frei, frei! Aber nicht wie der Sklave, der, kaum ausgebrochen und auf sich selbst gestellt, sich in die Knechtschaft der eigenen Sinne begibt, sondern aus freiem Antrieb, mit Schweiß auf der Stirn, rastlos bestrebt, das hohe Ziel zu erreichen, alles zur Entfaltung und Geltung zubringen, was groß und gut ist in diesem Geiste und dieser Seele. – Ja, ein Dienst sei das Leben! Wie von den Jüngern der Stoa sei auch von mir das, was sie Tugend nannten, erstrebt, zu keinem andern Zwecke, als weil es schön ist, weil es ungetrübte Lust verleiht, es zu üben. Ganz aus mich selbst gestellt, das suchen, was das Wahre ist, das thun, was ich als das Gute und Rechte empfinde, das sei hinfort das hohe Ziel meines Strebens. Zu den beiden großen Wünschen meines Herzens: die Versöhnung mit dem Vater und Paulas Besitz, trete hinfort der dritte: das Suchen nach dem höchsten Ziel, das für mich erreichbar, und das rüstige Ringen, ihm so nahe zu kommen, wie meine Kraft es gestattet. Der Weg, der dahin führt, ist die Arbeit, der Leitstern, dem ich zu folgen habe, um nicht irre zu gehen, meine Liebe!«

Mit glühenden Wangen und tief atmend schaute er um sich, als suche er einen Gegner, um mit ihm die Kräfte zu messen. Die widrige Predigt war zu Ende, und aus dem Gesang der Gemeinde klangen ihm die Worte ans Ohr: »Herr, strafe mich nicht um meine Missethat.« Da fiel ihm wieder aufs Herz, was er gefehlt, und allem voran der Fluch des sterbenden Vaters, und das kühne Haupt sank ihm auf die Brust, und er sagte sich, daß er zu schwer belastet sei, um den kühnen Flug zu wagen, zu dem er die Schwingen erhoben. Noch war der Bann nicht von ihm genommen, noch fühlte er sich nicht erlöst von seiner Wucht. Doch mit dem Worte »erlöst« trat ihm das Bild dessen ins Bewußtsein, der die Sünden der Welt auf sich genommen, und je tiefer er sich in das Wesen des Heilands versenkte, den er von Kind an lieb gehabt hatte, desto deutlicher empfand er, daß es der Freiheit des eigenen Willens keinen Abbruch thun, sondern einem alten Verlangen folgen heiße, wenn er alles, was ihn bedrückte, Jesu sage, daß die Liebe zu ihm, der Glaube an ihn auch für seine Seele erlösende Kraft besitze, und er erhob Auge und Herz zu ihm, und wie einem treuen Freunde vertraute er ihm alles an, was ihn ängstigte und hemmte, und bat ihn um seinen Beistand.

In der Liebe zu ihm wußte er sich eins mit Paula, wenn sie ihn auch anders faßte als er. Sinnend vergegenwärtige er sich, worin ihre Anschauungen abwichen von den seinen: sie sah neben der göttlichen auch eine menschliche Natur in Christus. Und als er dieser noch jüngst so tief von ihm verabscheuten Anschauung nachdachte, kam es ihm vor, als trete die einzige, Liebe und Wahrheit ausstrahlende Gestalt des Erlösers ihm näher, wenn er sich denke, daß er, der Makellose, Vollkommene, menschlich empfunden, und mit aller Daseinslust des Menschen im Herzen, empfindlich für jedes Leid und Weh, das den Sterblichen quält, unter Menschen gewandelt, sich mit ihnen gefreut und aus lauter Liebe für das elende Geschlecht, zu dem er sich aus seiner Höhe herabgelassen, unsägliche Demütigung, Schmerz und Tod, bangen, blutenden und doch opferfrohen Herzens auf sich genommen. Ja, dieser Christus konnte auch sein Erlöser sein: aus dem allmächtigen Herrscher ward er ihm zum vollkommensten, liebreichsten Freunde, zum herrlichen, nachsichtigen, teuren Bruder, dem man gern das ganze Herz schenken mochte, der alles verstand, alles zu vergeben bereit war, auch das, was in seiner, Orions, wunden, nach Läuterung schmachtenden Brust vorging, weil er einst selbst als Mensch menschlich gelitten.

Heute wagte er, der Jakobit, zum erstenmale sich dies alles einzugestehen, und nicht nur um Paulas willen . . .

Heftige Schläge auf eine zersprungene Metallscheibe weckten ihn mit lautem Lärm aus dieser Betrachtung: das heilige Abendmahl ward wie am Schluß eines jeden jakobitischen Hauptgottesdienstes gespendet. Der Bischof trat vor die Schranke des Hekel, goß Wein in einen silbernen Becher und brockte zwei mit dem koptischen Kreuze gestempelte Brötchen hinein. Von dieser Mischung genoß er selbst und reichte sie dann in einem Löffel den einzelnen Mitgliedern der Gemeinde, die sich ihm nahten. Nachdem zwei Kirchenälteste das Ihre empfangen, bekam Orion das Seine. Zuletzt säuberte der Priester den Pokal und trank auch den Spülwein, damit nichts von dem erlösenden Tranke zu Grunde gehe.

Wie hatte dem heranwachsenden Knaben das Herz gepocht, als er zu diesem heiligsten aller christlichen Gebräuche zum erstenmale zugelassen worden war! Er kannte seinen tiefen, herrlichen Sinn, er hatte die reinigende, erlösende, erquickende und zu allem Guten stärkende Wirkung des Abendmahls oft empfunden, wenn er es mit den Eltern und Brüdern zusammen genossen. Wie frisch gekleidet an Leib und Seele, fester als sonst mit einander verbunden waren sie damals Hand in Hand nach Hause gewandelt. Und heute war es ihm, der keinen Anstoß nahm an den widrigen Kultusformen der Konfession seiner Kindheit, als werde durch das Brot und den Wein, das Blut und Fleisch des Erlösers, der Bund besiegelt, den er still mit ihm geschlossen, und als nehme der Heiland mit unsichtbarer Hand die Schuld und den Fluch von ihm, die ihn so schwer belastet. Tiefe Andacht überkam ihn, und es war ihm, als werde sein künftiges Leben ihn Gott näher bringen denn je, und in Liebe und ernster, freier, mühevoller Verwertung der Gaben dahinrinnen, die ihm der Himmel verliehen.


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