Georg Ebers
Die Nilbraut
Georg Ebers

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Fünfzehntes Kapitel.

Der Arzt hatte Paula in ihr neues Heim eingeführt und sie schnell mit denen bekannt gemacht, welche sie von nun an behüten und ihr ein schöneres Dasein bereiten sollten.

Nur wenige Minuten war es ihm selbst vergönnt, sich ihr und ihren Wirten zu widmen; denn kaum hatte er sie in die mit Blumen reich geschmückten, weiten Gemächer geführt, welche sie nun aufnahmen, als zwei Boten zugleich angemeldet wurden, welche ihn zu sprechen wünschten. Sie wußte, wie bedenklich es mit ihrem Oheim stand, und angesichts des nahen Verlustes wurde ihr erst lebendig klar, was sie an ihm besessen. So war ihr erster Hausgenosse ein Schmerz, der durch das Behagliche der neuen, luftigen, schönen Wohnung eher verschärft wurde.

Von den Boten war der eine ein junger Araber, der vom jenseitigen Ufer des Nil kam und Philipp einen Brief des Kaufherrn Haschim überreichte. Der alte Herr teilte ihm darin mit, daß er infolge eines schweren Sturzes seines ältesten Sohnes sich gezwungen sehe, sogleich nach Dschidda am Roten Meer aufzubrechen. Er bitte Philippus weiter für seinen verwundeten Karawanenführer, der ihm lieb sei, zu sorgen, und ihn, wenn er es für gut finde, aus der Statthalterei zu entfernen und an einem stilleren Orte gesund zu pflegen. Die Sache der edlen Tochter des Thomas werde er im Auge behalten. Dies Schreiben begleitete ein von Goldstücken strotzender Beutel.

Der zweite Bote sollte Philippus auf dem Wägelein mit dem Harttraber sogleich zu dem schwerer erkrankten Mukaukas führen.

Ungesäumt folgte er diesem Rufe, und der Renner, den sein Lenker nicht schonte, führte ihn schnell in die Statthalterei.

Ein Blick auf den Leidenden lehrte ihn, daß der Anfang des Endes gekommen sei; doch treu seinem Grundsatz, die Hoffnung nie aufzugeben, bevor das Herz des Leidenden zum Stillstand gelangt, richtete er, ohne Orions zu achten, welcher zu Häupten seines Vaters auf den Knieen lag, den Bewußtlosen in die Höhe, winkte der mit der Krankenpflege wohl vertrauten Diakonissin, legte neue Umschläge auf die Stirne und den Nacken des vom Schlage getroffenen Mannes und ließ ihm zur Ader.

Da erhob der Mukaukas mühsam die schweren Lider, wandte sie beunruhigt hierhin und dorthin, und als er seinen knieenden Sohn, seine in Thränen zerfließende Gattin und den Arzt erkannt hatte, stammelte er undeutlich und tonlos; denn die gelähmte Zunge wollte seinem Willen nicht mehr gehorchen: »Zwei Kügelchen, Philipp!«

Der Arzt gab ohne Widerspruch dieser Bitte des Sterbenden nach, welcher nun die Augen wiederum schloß, aber nur um sie bald neu zu öffnen und mit der gleichen Anstrengung wie vorher, doch auch mit ebenso klarem Bewußtsein zu lallen: »Es geht zu Ende! Der Segen der Kirche . . . Den Bischof, Orion!«

Der junge Mann eilte sogleich hinaus, um den Prälaten, welcher bereits mit zwei Diakonen, einem Exorcisten und dem Meßner, der das nötige Küchengerät trug, im Viridarium harrte, in das Krankenzimmer zu führen.

Ruhig und ergeben ließ er sich das letzte Abendmahl reichen, sah und hörte er dem Treiben des Exorcisten zu, welcher sich mit Handbewegungen und frommen Sprüchen bemühte, die bösen Geister und den Anteil des Teufels aus ihm zu bannen und zu vertreiben; aber er vermochte den Wein und das nach jakobitischer Sitte mit ihm vermischte Brot nicht mehr hinunter zu schlucken. Orion that es an seiner Stelle, und dabei lächelte der Sterbende und stammelte leise:

»Dir allen Segen, mein Junge! Der Herr, so scheint es, verweigert mir sein kostbares Blut, und doch – doch – Laß mich noch einmal versuchen.«

Diesmal gelang es ihm, etwas Wein und wenige Brotkrümlein zu verschlucken, und darauf tröstete ihn der Bischof Plotin, ein milder Greis von schönem, würdigem Ansehen, und fragte ihn, ob er bußfertig und in vollem Glauben an die Gnade seines Herrn und Heilandes sterbe, ob er seine Sünden bereue und seinen Feinden vergebe.

Da nickte der Kranke mühsam mit dem Kopfe und lallte: »Auch den Melchiten, die meine Kinder gemordet, und auch, auch dem Haupt unserer Kirche, dem Patriarchen, der nur zu gern durch mich Armen vollbringen ließ, was in ihm selbst Bedenken erweckte. Das . . . das . . . Aber Plotinus – Du würdiger, weiser Diener des Herrn – antworte mir nach bester Ueberzeugung: Darf ich auch sterbend noch glauben, es sei keine Frevelthat gewesen, daß ich Frieden schloß mit den arabischen Vertreibern der Griechen, darf ich die Melchiten auch in dieser Stunde für Andersgläubige halten?«

Da richtete der Prälat die ungebeugte Greisengestalt höher auf, und seine milden Züge gewannen einen entschiedenen, ja strengen Ausdruck, wie er ausrief:

»Du kennst die Worte, welche auf der Synode von Ephesus erklungen sind, und die in jedes rechten Jakobiten Brust wie in Marmor und Erz eingegraben stehen sollen: ›Mögen diejenigen, welche Christus teilen – und das thun die Melchiten – mit dem Schwerte geteilt, mögen sie in Stücke zerhauen, mögen sie lebendig verbrannt werden!‹ Einen gleichen Fluch hat kein Haupt der Kirche gegen die Muslimen, die Anbeter eines einzigen Gottes erhoben!«

Da atmete der Leidende tief auf, doch bald darauf sagte er seufzend:

»Und Benjamin, der Patriarch und Johannes von Niku haben meine Seele dennoch geängstigt! Auch Du, Plotin, trägst den Krummstab, und ich will Dir bekennen: Deine Brüder im Amte, die Hirten der jakobitischen Herde, haben mir mit Furcht und Qualen hundert Tage und Nächte verdorben, und ich war nahe daran, ihnen zu fluchen. Aber bevor es Nacht ward, erleuchtete der Herr meine Seele, und ich vergab ihnen, und durch Dich bitte ich sie um Segen und Vergebung. – Unwillig öffnete mir die Kirche in diesen letzten Jahren das Thor; aber welchem Knechte wäre es gestattet, seinem Herrn, von dem er alle Gnade erwartet, zu grollen! So höre mich denn! Als ein treuer und ergebener Diener der Kirche schließe ich die Augen, und des zum Zeichen will ich sie beschenken nach bester Kraft, will ich sie schmücken mit reichen, kostbaren Gaben, will ich . . . Doch ich . . . es geht nicht mehr weiter! Rede Du an meiner Stelle, Orion. Du weißt ja . . . die Edelsteine . . . der Teppich . . .«

Nun eröffnete der Sohn des Sterbenden dem Bischof eine wie reiche Schenkung an unschätzbaren Juwelen sein Vater der Kirche zugedacht habe. In der des Johannes in Alexandria wünsche er neben seinem Vater bestattet, vor der Grabkapelle seiner Ahnen in der Totenstadt eingesegnet zu werden, und für die Gebete, welche für ihn gesprochen werden sollten, habe er in seinem Testament eine besondere Summe ausgesetzt. Die Geistlichen hörten dies gern und verliehen ihm Absolution, ganz und voll und ohne Bedingung, dann segneten sie ihn mit feurigem Eifer und verließen das Zimmer.

Philippus atmete auf, wie die Kleriker es verlassen und wechselte die Umschläge häufig, während der Sterbende lange Zeit stumm und mit geschlossenen Augen dalag. Dann rieb er sie wie neu belebt, hob das Haupt mit Hilfe des Arztes ein wenig, schlug die Lider wieder auf und sagte:

»Zieh mir den Ring vom Finger, Orion, und trag' ihn in Ehren. Wo ist die kleine Maria, wo Paula? Auch von ihnen verlangt mich, Abschied zu nehmen.«

Der Jüngling und seine Mutter tauschten verlegene Blicke, doch diese besann sich schnell und sagte:

»Wir haben schon nach Maria geschickt; aber Paula – Du weißt ja, daß es ihr bei uns nicht behagte – und seit dem gestrigen Vorfall . . .«

»Nun?« fragte der Kranke.

»Hat sie unser Haus schnell verlassen, und in Frieden mit mir, daß Du's weißt; doch sie ist noch in Memphis und hat sehr liebreich von Dir gesprochen und Dich sehen wollen und mir viele Grüße an Dich aufgetragen, und wenn es Dir daran liegt, sie zu sehen . . .«

Da versuchte der Kranke mit dem Haupte zu nicken, aber vergebens. Er bestand auch nicht darauf, sie rufen zu lassen, doch tiefe Wehmut lagerte sich langsam über seine Züge, und leise klang es dabei von seinen Lippen: »Die Tochter des Thomas! Edler und schöner als alle!«

»Edler und schöner als alle!« wiederholte Orion mit lauter, von tiefer, aufrichtiger Bewegung zitternder Stimme, und bat dann den Arzt und die Diakonissin, ihn auf einige Minuten allein mit den Eltern zu lassen.

Sobald sich die Fremden entfernt hatten, rief der Jüngling dem Kranken leise und dringend ins Ohr:

»Du hast das rechte Wort getroffen, Vater; sie ist besser und edler, sie ist schöner und höher gesinnt als jede andere Jungfrau. Ich liebe sie und setze alles daran, ihr Herz zu gewinnen. Gott, Gott! Gütiger Himmel! Das freut Dich, das billigst Du, Vater? Du liebster, Du bester; ich sehe Dir's an!«

»Ja, ja, ja,« lallte der Kranke, seine gelblichen, mit starken Blutadern durchästelten Augen wandten sich nach oben, und dabei stammelte er mit großer Anstrengung weiter: »Segen, meinen Segen, Dir und der Paula . . . Sollst es ihr wiederholen. Hätte sie dem Alten freudig wie früher vertraut, wäre der Freigelassene nicht zum Dieb an uns geworden. – Brave Seele, wie sie für den armen Burschen gekämpft hat! Will es nachher ausführlicher hören, wenn die Kraft noch ausreicht. Warum sie nur nicht hier ist?«

»Sie hätte Dir so gern Lebewohl gesagt,« versetzte Neforis, »aber Du schliefst . . .«

»Hatte sie's mit dem Gehen so eilig?« fragte ihr Gatte mit einem bittern Lächeln. »Ist vielleicht auch Furcht wegen des Smaragds dabei mit im Spiele? Aber wie könnt' ich ihr zürnen? Der Hiram hat sicher ohne ihr Vorwissen gehandelt, nicht wahr? Nun, ich wußt' es! Ach, ihr schönes, liebes Gesicht! Es noch einmal wiedersehen dürfen! Mein Augentrost, meine Genossin beim Brettspiel! Treues Herz! Wie es an dem Vater hing und für ihn alles hingeben wollte! Aber Du, Du, meine Alte . . . Doch jetzt keinen Vorwurf! Du, Mutter, Du, meine Neforis . . . Dank, tausend Dank, für so viel Liebe und Güte! Was für mystische Zauberbande schlingt doch solch eine christliche Ehe! Merk Dir's, Orion! Und Du, Mutter. Es ängstigt mich! Du: thu dem Mädchen nicht wieder weh. Sage – es erleichtert mein Ende – sage, Du segnest den Bund: Paula, Orion. Für beide, beide . . . Ich wagte es nur nicht früher . . . Was könnten wir beiden Besseres wünschen?«

Da schlug die Matrone die Hände zusammen und schluchzte:

»Alles, alles, was Du nur wünschest; aber, Vater, aber, Orion, unser Glaube und – lieber Heiland – die arme kleine Katharina!«

»Katharina?« wiederholte der Sterbende, und auf seinen schlaffen Lippen bildete sich ein mitleidiges Lächeln. »Unser Junge und das Bach . . . Bach . . . Du weißt, was ich meine!«

Dann begannen seine Augen heller zu leuchten, und leise, aber so lebhaft, als stehe sein Tod noch in weiter Ferne, rief er:

»Georg, der Sohn des Mukaukas, heiß' ich, bin der große Mukaukas; und unser Geschlecht: starke Männer von stolzem Schlag, alle, alle; der Vater, der Oheim, unsere verstorbenen Söhne, und hier der Orion – lauter Palmen und Eichen! Und nun solcher Zwerg, solch ein Nichts als Reis an dem alten, großen, herrlichen Stamme! Was da nachwächst, o – o – klägliche Jammergestalten! Aber Paula – die Ceder vom Libanon – Paula, sie verjüngt das alte, große Geschlecht.«

»Aber der Glaube, der Glaube!« stöhnte Neforis. »Und Du, Orion, weißt Du denn auch, wie sie Dir gesinnt ist?«

»Ja und nein; laß es ruhen in dieser Stunde,« bat der tief ergriffene Jüngling. »O Vater, wenn ich weiß, daß Dein Segen . . .«

»Der Glaube, der Glaube!« unterbrach ihn der Mukaukas mit brechender Stimme.

»Ich bewahre den meinen!« rief Orion und zog des Vaters Hand an die Lippen. »Denk Dir, und stelle Dir nur vor, wie Paula und ich in diesem Hause walten, und wie ein neues Geschlecht darin aufwächst, würdig des großen Mukaukas, wert seiner Ahnen!«

»Ich seh' es, ich seh' es,« lallte der Kranke und sank leblos in die Kissen zurück.

Ungesäumt ward Philippus gerufen, und zugleich mit ihm betrat die kleine Maria weinend das Zimmer.

Des Arztes neue Belebungsversuche blieben nicht ohne Erfolg: der Sterbende öffnete nochmals die Augen und sagte hörbarer und kräftiger als zuvor:

»Es riecht hier nach Moschus – das ist der Duft, der dem Todesengel voranzieht.«

Darauf blieb er lange stumm und regungslos liegen. Seine Augen waren geschlossen, aber seine gespannte Stirn gab zu erkennen, daß er mit Anstrengung nachsann. Endlich seufzte er auf und rief kaum verständlich:

»So war es; so ist es: der Grieche hat die Meinen wie die Hunde mit Willkür geknechtet; auch der Muslim ist ein Fremder, aber er handelt gerecht. Was da geschehen, ich konnt' es nicht ändern; aber es ist gut, gut, wie es gekommen!«

Dann wiederholte er das Wort »gut« eine Reihe von Malen, schauderte zusammen und stöhnte:

»Die Füße sind mir so kalt, aber laßt, laßt nur; ich liebe das Kühle!«

Sogleich machte der Arzt sich mit der Diakonissin auf, um Holz zur Erwärmung seiner Füße zu erhitzen, und der Kranke schaute ihm dankbar nach und fuhr fort:

»Bei der Kirche, im Gotteshause, hab' ich oft die schönste Kühlung gefunden, und jetzt erleichtert sie mir den Tod durch ihre Vergebung. Du, mein Sohn, halte Dich zu ihr. Ein Glied unseres Hauses darf kein Abtrünniger werden. Der neue Glaube – mit unbegreiflicher Macht unterwirft er sich Reich auf Reich – Ehrgeiz, Gewinnsucht treibt ihm Tausende in die Arme. Aber wir, wir stehen fest zu Jesus Christus und sind keine Verräter! Hätt' ich, ich, der Mukaukas, dem Chalifen darin den Willen gethan, ich würde als ein Fürst, im Purpur, in seinem Namen mein Land regieren. Wie viele sind zu den Muslimen übergelaufen. Auch an Dich kommt die Versuchung, und ihr Glaube, ja er bietet viel, was die Menge anzieht. Sie denken sich ein Paradies mit unsagbar lockenden Freuden, aber nicht wahr, Sohn, wir, wir sehen uns in dem unseren wieder?«

»Ja, ja, ja, Vater,« rief der Jüngling. »Ich bleibe Christ, stehe fest und treu . . .«

»Schön, gut!« unterbrach ihn der Kranke. Er wollte geflissentlich nicht erinnert sein, daß sein Sohn eine Melchitin zum Weibe begehrte, und fuhr hastig fort:

»Paula . . . Aber nichts mehr davon . . . Der Glaube . . . Bleibe treu bei dem Deinen . . . Sonst . . . Im Uebrigen, Kind, suche den eigenen Weg; Du bist . . . wandelst auf dem rechten, und weil, eben weil ich das weiß, sterb' ich so ruhig. Für euer zeitliches Wohl hab ich reichlich gesorgt. Ein guter Gatte, ein – treuer Vater, nicht wahr, mein Heiland, nicht wahr, Neforis, – das bin ich gewesen? Und was mein bester, sicherster Trost ist – viele, viele Jahre lang hab' ich Recht gesprochen in diesem Lande und nie, nicht ein einzigesmal – Du mein Hort und Tröster, Du bist mein Zeuge – war ich – o, das thut gut! – war ich mit Wissen und Willen ein ungerechter Richter. Der Arme ist vor mir gewesen wie der Reiche, der Mächtige wie die hilflose Witwe. Wer hätte gewagt . . .«

Hier stockte er, und während seine Augen machtlos umher irrten, begegneten sie der kleinen Maria, welche sich Orion gegenüber an der andern Seite des Kopfendes neben dem Sterbelager auf die Kniee niedergelassen hatte, und sogleich stellte der scheidende Mann, der soeben das Facit eines langen, thatenreichen Lebens gezogen, das Nachdenken ein, und wie das Kind sah, daß er sich vergebens bemühte, ihm das regungslose Haupt zuzuwenden, warf es sich in leidenschaftlicher, schmerzlicher Erregung über den Sterbenden, küßte ihm ohne Scheu vor dem starren Blick seiner Augen und der veränderten Farbe seines geliebten Gesichtes den Mund und die Wangen und rief:

»Großvater, liebes Großväterchen, verlaß uns doch nicht; bleib, o bitte, bitte, bleib bei uns!«

Da flog etwas, das einem Lächeln gleich sah, über seine trockenen Lippen, und die ganze Zärtlichkeit, welche ihn für diese junge, liebliche Menschenknospe erfüllte, sollte ihr aus seiner Stimme entgegenklingen, aber er konnte nur tonlos lallen:

»Maria, mein Liebling! Um Deinetwillen lebt' ich noch gern lang, sehr lange, aber die andere Welt . . . ich stehe, steh' auf der Schwelle. Der Abschied . . . es gilt, Abschied zu nehmen.«

»Nein, nein, ich will beten, o so inniglich beten, bis Du gesund wirst,« rief das Kind; er aber versetzte: »Nicht doch! Der Heiland, er hält mich schon bei der Hand. Lebe wohl, nur noch lebe wohl! Hast Du Deine Paula . . . Hast Du sie – ich sehe sie nicht – hast Du sie nicht mitgebracht, Herzchen? Sie . . . ist sie unwillig von uns gegangen? Wenn sie nur wüßte . . . Deine Paula hat uns doch unrecht gethan.«

Da schmiegte das Kind, welches, voll von dem Schrecklichen, das sein ganzes wahrhaftiges Wesen empörte und das ihm nun schon einen Abend, eine lange Nacht und einen Morgen lang die Ruhe genommen, das Köpfchen dicht an das Haupt seines alten, besten, geliebtesten Freundes. Jahrelang hatte er ihr den Vater so freundlich ersetzt, und nun sollte er sterben, sie auf immer verlassen! Aber sie konnte ihn nicht hingehen sehen mit einer falschen Meinung von der Freundin, der die ganze reiche Liebe ihres warmen Kinderherzens gehörte, und so rief sie ihm mit gedämpfter Stimme, doch mit feurigem Eifer ins Ohr:

»Das eine, Großvater, mußt Du noch wissen, bevor Dich der Heiland in seine himmlische Seligkeit aufnimmt. Paula hat die Wahrheit gesagt und niemals, nie, auch nicht wegen ihres Hiram gelogen. Ein Goldblech, nicht die Gemme hing gestern Mittag an ihrem Halsband. Was Orion auch sagt: ich hab' es gesehen und irre mich nicht, so wahr ich Dich und mein armes Väterchen droben wiedersehen möchte. Und Katharina, sie ist vorhin auch in sich gegangen und hat mir gestanden, daß sie eine große Sünde begangen und falsches Zeugnis abgelegt hat vor den Richtern, um ihrem lieben Orion den Willen zu thun. Ich weiß nicht, was Hiram ihm angethan hatte, aber auf Katharinas Zeugnis hin haben die Richter über den armen Menschen das Todesurteil verhängt, und Paula – das sollst Du nur wissen – hatte mit dem Smaragddiebstahl nichts, nichts und gar nichts zu thun.«

Orion war verdammt, in seiner knieenden Stellung jedes Wort, das die Kleine so eifrig flüsterte, zu hören, und jedes traf sein Herz wie ein Dolchstich. Mehrmals hätte er über das Bett greifen und sie vor des eigenen Vaters Augen zu Boden reißen mögen, aber er fand in dem Schmerz und der Ueberraschung, die sein ganzes Wesen lähmten, nicht einmal die Kraft, sie mit einem einzigen Wort zu unterbrechen.

Das Gesagte war gesagt.

Wie zerschmettert klammerte er sich an die Bettstatt, und wie ihm der Vater die Augen zuwandte und röchelnd hervorstieß: »So hat das Gericht, unser Gericht, ein falsches Urteil gefällt?« nickte er zerknirscht mit dem Kopfe.

Nun stammelte der Sterbende noch undeutlicher und ohne rechten Zusammenhang die Frage:

»Stein . . . Aus dem Teppich . . . Du . . . etwa . . . Hast Du . . . Hast Du, Du selbst den Smaragd . . . Ich kann nicht . . .«

Und Orion half dem Vater, der vergeblich rang, das unselige Wort über die Lippen zu bringen, und versetzte demütig und leise, denn er hätte lieber mit dem Hinscheidenden sterben, als ihn in dieser Stunde belügen mögen:

»Ich, Vater, hab' ihn genommen; aber so wahr ich Dich und die Mutter liebe, soll diese erste leichtfertige That meines Lebens, die so Entsetzliches nach sich ziehen mußte . . .«

»Auch die letzte sein,« hatte er schließen wollen, aber schon als ihm das »ich hab' ihn genommen« von den Lippen war, hatte ein starkes Beben den Leib des Sterbenden ergriffen und der Blick seines Auges sich schrecklich verändert, und bevor der Sohn sein Gelöbnis beendet, richtete sich der unglückliche Vater mit einer gewaltigen Kraftanstrengung in die Höhe und rief dem bleichen Jüngling, dessen Brust ein lautes, reuiges Schluchzen erschütterte, so rasch seine schwere, gelähmte Zunge es zuließ, mit gurgelnden, zornigen Lauten ins Antlitz:

»Du. Du. Schmach des alten, untadeligen Gerichtshofes! Du? Weg von hier! Ein Räuber, ein falscher Richter, ein Zeugnisfälscher, der letzte Enkel des Menas! Könnt' ich Dir doch mit diesen Händen . . . Du . . . Du . . . Fort mit Dir, Bube!«

Mit diesem wilden Aufschrei sank Georg, der milde und gerechte Mukaukas, in die Kissen zurück, die Augen starrten, von rotem Blut überfüllt, ungeschlossen ins Leere, dem offenen Mund entrang sich in häufiger Wiederholung, aber leiser und immer leiser das Wort »Bube«, die geschwollenen Hände krallten sich in die leichte, über ihn gebreitete Decke, ein wunderlich schrilles Pfeifen drang ihm aus den weit geöffneten Lippen, und mit gelösten Gliedern sank die kraftlose Leiche des großen Würdenträgers wie ein gefällter Palmenstamm Orion entgegen.

Wie rasend, mit zerwühltem Haar und geröteten Augen richtete dieser sich in die Höhe und rüttelte an dem Leichnam, als wollte er ihn zwingen, weiter zu leben, damit er sein Versprechen, sein Gelübde vernehmen, die Thränen seiner Reue sehen, ihm vergeben und die furchtbare Verstoßung zurücknehmen möge, mit der er von ihm, dem vielgeliebten Verwöhnten, geschieden.

Während dieser wilden Ausbrüche seiner Verzweiflung kehrte der Arzt zurück, warf einen Blick auf das entstellte Antlitz des Verstorbenen, legte ihm die Hand auf die Stelle des Herzens und sagte, indem er die kleine Maria von dem Lager zurückzog, ernst und bekümmert:

»Dieser brave und gerechte Mann hat aufgehört, unter den Lebenden zu wandeln.«

Da schrie Orion laut auf und stieß Maria von sich, die sich ihm genähert hatte, weil sie, so jung sie auch war, dennoch fühlte, daß sie unbedacht das furchtbarste Unheil über den Oheim gebracht und daß es an ihr sei, ihm Liebe zu erweisen.

Dann eilte das Kind der Großmutter zu, aber auch sie stieß es zur Seite und warf sich neben dem verzweifelten Sohn auf die Kniee, um mit ihm zu weinen und den Untröstlichen, von dem sie noch vor wenigen Minuten den besten Trost für sich selbst erwartet, mit warmen Worten zu trösten. Doch der mütterliche Zuspruch fand keinen Widerhall in seiner gebrochenen Seele.


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