Georg Ebers
Die Nilbraut
Georg Ebers

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Am Abend saß Rufinus mit den Seinen und seinem Freunde Philippus im Garten. Auch Paula war unter ihnen und ließ von Zeit zu Zeit die Hand auf Pulcherias seidiges Goldhaar sinken; denn diese hatte sich zu ihren Füßen niedergelassen und schmiegte das Haupt an ihr Knie.

Es war Vollmond, und so hell im Garten, daß jedes das andere erkennen konnte, und des Rufinus Vorschlag, die Mondfinsternis, welche eine Stunde vor Mitternacht eintreten sollte, abzuwarten, fand um so ungeteilteren Beifall, je angenehmer die Luft war.

Die Männer hatten über das zu erwartende Phänomen am Himmel gesprochen, sich beklagt, daß die Kirche noch immer, dem Aberglauben der Menge nachgebend, ihm üble Vorbedeutungen beilege und Gott auch heute Abend durch einen Bittgang zu bewegen versuchen werde, diese nicht eintreffen zu lassen. Rufinus nannte es eine Lästerung des Höchsten, Erscheinungen, welche sich nach seinen ewigen Gesetzen vollzögen und die sich vorausberechnen ließen, gleichsam für seinen drohenden Finger auszugeben, als wenn die Strafbedürstigkeit der Menschen den gleichen Weg gehe wie Sonne und Mond. Diesmal werde der Bischof und der ganze Klerus des Ortes der Prozession voranschreiten, und damit eine so natürliche Erscheinung in den Gemütern des Volkes zu einer Bedeutung heraufgeschraubt werden, die sie nicht habe.

»Und wenn der kleine Komet, den mein alter Pflegevater schon in voriger Woche entdeckt hat, weiter so fortwächst,« fügte der Arzt hinzu, »und sein Schweif sich über einen Teil des Himmels verbreitet, dann wird die Angst den Gipfel erreichen, und ich sehe schon die Leute sich wie Besessene geberden.«

»Ein Komet zeigt aber doch Krieg, Hitze, Seuchen und Hungersnot an,« sagte Pulcheria mit voller Sicherheit, und Paula fügte hinzu: »Ich habe das auch immer geglaubt.«

»Mit großem Unrecht,« entgegnete der Arzt. »Tausend Gründe sprechen dagegen, und es ist ein Frevel, daß man die Menge in diesem Aberglauben bestärkt. Er flößt ihr Angst und Schrecken ein, und wollt ihr glauben, daß solche Seelenunruhe, besonders in dieser Zeit des flachen Wasserstandes, wo es ohnehin mehr Leidende als sonst gibt, Krankheiten über Krankheiten erzeugt? Wir werden zu thun bekommen, Rufine!«

»Stehe zu Diensten,« entgegnete der Alte; »doch lieber wär' es mir schon, wenn der geschwänzte Bursche, soll er nun einmal Schaden anrichten, den Leuten Arme und Beine zerbräche, statt ihnen das Gehirn zu verdrehen.«

»Welch ein Wunsch!« rief Paula. »Manchmal sprichst Du Dinge aus und seh' ich solche in Deiner Umgebung, die mir unfaßbar erscheinen. Du hast mir schon gestern versprochen . . .«

»Dir zu erklären, warum ich so viele Kreaturen Gottes, die mit verkrüppelten oder gebrochenen Gliedern die Last des Lebens ertragen, um mich versammle.«

»Jawohl,« entgegnete Paula. »Es kann ja nichts Barmherzigeres geben, als solchen Unglücklichen ein erträgliches Dasein zu schaffen . . .«

»Aber darum, denkst Du,« fiel ihr der lebhafte Greis ins Wort, »aus dieser schönen Ursache allein wird der alte Sonderling sein Steckenpferd schwerlich reiten, und Du hast recht. Ich habe eben von Kind auf an dem Knochenbau der Menschen und Tiere meine besondere Freude gehabt, und wie der Sammler von Hirsch-, Reh- und Gazellengeweihen, sobald er die Hörner aller Gattungen besitzt, sich mit neuer Liebe bestrebt, seltsam und krankhaft gewachsenes Gehörn zu sammeln, so reizt es mich, jede Art der Verkrüppelung und Beschädigung tierischer und menschlicher Knochen kennen zu lernen.«

»Und sie gerade zu richten,« fügte der Arzt hinzu. »Von Kind an ist er dieser Leidenschaft ergeben gewesen.«

»Und sie hat sich gesteigert, seitdem ich einmal selbst den Schenkel gebrochen und erfahren habe, was man dabei verspürt,« fuhr der Alte beistimmend fort. »Mit Hilfe meines Studiengenossen dort bin ich aus dem Dilettanten ein wirklicher Wundarzt geworden, und noch dazu einer, der dem Aeskulap auf eigene Kosten dient. Uebrigens gibt es auch noch Nebengründe, die mich bestimmen, mir eine so seltsame Umgebung zu wählen: ein verwachsener Sklave ist billig, und dazu bereiten mir gewisse Beobachtungen noch ein unschätzbares Sondervergnügen. Aber das ist nichts für euch Mädchen!«

»Doch, doch!« rief Paula. »So gut ich Philippus verstehe, wenn er mir etwas Naturwissenschaftliches klar auseinandersetzt . . .«

»Halt,« lachte Rufinus, »unser Freund würde sich hüten, Dir das zu erklären! Er hält es für Thorheit und gibt nur das eine zu, daß ein Chirurg und Beobachter sich gar keine besseren, willigeren und unterhaltenderen Hausgenossen denken kann als meine Krüppel.«

»Sie sind Dir dankbar!« rief Paula.

»Dankbar?« fragte der Alte. »Das kommt ja wohl vor, doch Erkenntlichkeit ist ein Zins, auf den kein Verständiger rechnet. Nun wißt ihr genug; schon um des Philippus willen wollen wir das andere lassen.«

»Nein, nein,« bat Paula, und wie sie dem Greise die Hände entgegenstreckte, rief dieser fröhlich:

»Wer Dir etwas abschlagen könnte! Kurz will ich's machen, doch Du mußt mir aufmerksam folgen. Nun also: Der Mensch ist das Maß aller Dinge! Hast Du's verstanden?«

»Jawohl! Du sprichst es ja oft aus. Die Dinge, meinst Du, sind nur so, wie sie uns vorkommen.«

»Uns, sagst Du, weil wir, Du, ich und wir anderen hier, gesund an Körper und Geist sind. Die Dinge – Gottes eigenstes Werk – müssen wir als solches unbedingt für gesund und normal ansehen. – Von dem Menschen, der das Maß für sie abgeben soll, dürfen wir also zuerst verlangen, daß er normal und gesund sei. Oder kann etwa ein Schreiner mit einem krummen und schiefen Stabe gerade Bretter zutreffend messen?«

»Gewiß nicht!«

»So wirst Du auch verstehen, wie sich in mir die Frage aufwerfen konnte: Mißt der kranke, verkrüppelte, ungestaltete Mensch die Dinge nicht mit anderem Maße als wir Gesunde? Sollt' es nicht eine dankenswerte Aufgabe sein, zu erforschen, welcher Unterschied sich zwischen seinen Messungen und den unseren ergibt?«

»Und haben die Untersuchungen an Deinen Krüppeln zu einem Ergebnis geführt?«

»Zu mehreren großen,« versicherte der Alte; doch der Arzt unterbrach ihn mit einem lauten »Oho!« und versicherte, daß sein Freund viel zu schnell bereit sei, aus einzelnen Erscheinungen Gesetze zu begründen. Manche seiner Wahrnehmungen böten allerdings ein gewisses Interesse . . .

Hier unterbrach ihn Rufinus lebhaft, und das Gespräch wäre in Streit ausgeartet, wenn Paula die Männer nicht unterbrochen und ihren eifrigen Gastfreund um die Mitteilung wenigstens eines seiner Resultate gebeten hätte.

»Ich habe gefunden,« antwortete dieser seiner Sache gewiß, und zog den starken Vollbart selbstbewußt in die Länge, »daß sie nicht nur klug sind, weil sie schon früh den Geist schärfen, um durch innere Vorzüge das einzubringen, was ihnen an körperlichen abgeht; sie sind vielmehr auch witzig, wie der Fabeldichter Aesop und der ägyptische Gott Besa, der, wie mir des Philippus alter Freund Horus, von dem wir all unsere ägyptische Weisheit haben, mitteilte, unter den Heiden den Lustbarkeiten, dem Scherz, dem Witz und daneben auch dem Frauenputz vorstand. Das spricht für die feine Beobachtungskunst der Alten; denn der Buckelige, dessen Körper verkrümmt ist, legt auch krumme Maßstäbe an die Dinge. Vermöge seiner Klugheit lernt er häufig ebenso messen wie die Mehrzahl der Menschen, unter denen er lebt, das heißt gerade; doch in guten Stunden, wenn er sich gehen läßt, macht er das Gerade krumm und das Krumme gerade, und so entsteht der Witz, welcher doch nur in einer schiefen Auffassung und Vorführung der Dinge besteht. Unterhalte Dich einmal mit meinem buckeligen Gärtner Gibbus oder gib nur auf ihn acht! Wenn er sich des Abends zu unseren Leuten setzt, lachen sie, sobald er den Mund nur aufthut, und warum? Seine Beschaffenheit treibt ihn an, in lauter Paradoxien zu reden. Du weißt, was das ist?«

»Gewiß!« entgegnete Paula.

»Und Du, Pul?«

»Nein, Vater!«

»Du bist eben zu gerade gewachsen, auch an der einfachen Seele da drinnen, um Sinn für dergleichen zu haben! Aber höre nur zu! Eine Paradoxie wär' es zum Beispiel, wenn ich dem Bischof bei der heutigen Prozession zurufen wollte: ›Du bist vor lauter Frömmigkeit gottlos,‹ oder wenn ich der Tochter des Thomas mit Bezug auf die Schmeicheleien, welche sie vorhin von der Mutter und mir zu hören bekam, die Entschuldigung böte: ›Unser Weihrauch war vor lauter Süßigkeit bitter.‹ Diese Paradoxen sind, wenn man sie näher betrachtet, Wahrheiten in gekrümmter Form, und darum glücken sie dem Buckeligen am besten. Hast Du verstanden?«

»Gewiß,« versetzte Paula.

»Und Du, Pul?«

»Ich weiß nicht recht. Mir würde es besser gefallen, wenn man einfach sagte: Wir hätten Dir nicht so schmeichlerische Dinge sagen sollen; denn das kann ein Mädchen verdrießen.«

»Ganz gut, mein gerades Kind!« lachte der Alte; »doch da steht ja der Gärtner! Hieher, mein wackerer Gibbus! Denke Dir einmal, Du hättest jemand so grobe Schmeicheleien gesagt, daß er sich darüber ärgerte, statt sich zu freuen. Wie würdest Du Dich ausdrücken, wenn Du mir das mitteilen wolltest?«

Der Gärtner, ein kleiner, breiter Mann mit einem gewaltigen Buckel, doch mit einem klugen, wohlgebildeten Gesicht, besann sich ein wenig und erwiderte dann:

»Da hab' ich Esel ihn Rosen riechen lassen wollen und ihm Disteln unter die Nase gestoßen.«

»Prächtig!« rief Paula, und als Gibbus sich kichernd entfernte, sagte der Arzt:

»Man könnte den Mann um seinen Buckel beneiden; aber, nicht wahr, Jungfrau Paula, wir kennen auch gerade gewachsene Leute, denen jede Art der gekrümmten Rede zu Gebote steht, wenn es darauf ankommt?«

Doch Rufinus enthob Paula der Antwort, indem er sie auf sein Schriftchen über die Krümmungen der Seele und des Körpers hinwies, und fuhr dann eifriger fort:

»Ich rufe euch alle zu Zeugen auf, ob die lahme Baste – eines ihrer Beine ist viel kürzer als das andere, und wir haben es mit Mühe dahin gebracht, daß es sie trägt – ihr Messen der Dinge nicht nur auf das Untere, nur auf die Oberfläche der Erde beschränkt? Sie muß, um nicht zu stolpern, stets zu Boden schauen, und was ist daraus entstanden? Sie kann Dir nie sagen, was an einem Baume hängt, und vor etwa drei Wochen hab' ich sie bei reinem Himmel und abnehmendem Mond, und obgleich sie Abend für Abend bis spät mit den anderen Leuten im Freien gesessen, – es war um Mittag – gefragt, ob gestern der Mond am Himmel gestanden, und sie ist uns die Antwort schuldig geblieben; ja ich habe bemerkt, daß sie Männer von einiger Größe, die sie drei- oder viermal gesehen, schwer wieder erkennt. Wie ihr Bein, so ist auch ihr Maßstab der Dinge zu kurz ausgefallen. Hab' ich recht oder unrecht?«

»Recht hast Du in diesem Falle,« versetzte der Arzt; »doch kenne ich Lahme . . .«

Wieder entspann sich ein Streit zwischen den Freunden, aber Pulcheria machte ihm diesmal ein Ende, indem sie mit großem Eifer ausrief:

»Die Baste ist das beste, gutherzigste Ding im ganzen Hause!«

»Weil sie auch in sich hineinschaut,« entgegnete Rufinus. »Sie kennt sich selbst, und weil sie weiß, wie weh der Schmerz thut, behandelt sie andere mit Schonung. Weißt Du noch, Philipp, wie wir nach dem anatomischen Vortrag, den wir in Cäsarea zusammen gehört hatten, uns stritten . . .«

»Recht wohl,« unterbrach ihn der Arzt, »und das Leben hat seitdem meine Ansicht von damals nur bestätigt: Es gibt kein schädlicheres und zugleich unwahreres Wort als das lateinische: › Mens sana in corpore sano,‹ wenn man es wie gewöhnlich übersetzt: ›Nur im gesunden Leib findet sich eine gesunde Seele.‹ Als Wunsch mag es gelten; ja manchmal fühlte ich mich versucht, auch den bedenklich zu finden; denn gerade in kranken Körpern ist mir oft eine Seelenstärke, eine hoffnungsreiche und auch für das Kleinste dankbare Gesinnung, ist mir eine Feinheit der Empfindung, ein weises sich Versenken in sich selbst und ein unentwegtes sich Hingeben an höhere Dinge begegnet, wie ich es bei Gesunden nicht wiedergefunden. Der Leib ist nur das Haus der Seele, und wie es in Hütten und Palästen Gute und Böse, Kluge und Dumme gibt, und man in den Hütten sogar oft mehr wahre Herzensgüte findet als in den prunkenden Häusern der Großen, so findet man edle Seelen in garstigen und schönen, gesunden und kranken Körpern, und in diesen vielleicht noch häufiger als in jenen. Mit solchen falschen Sätzen, die einer dem andern nachspricht, soll man behutsam umgehen; denn sie können denen nur weh thun, die ohnehin schwer an der Last des Lebens zu tragen haben. Meiner Ansicht nach denkt der Buckelige ebenso gerade wie ein Athlet, oder meinst Du, daß wenn eine Mutter Kinder in einer spiralförmig gewundenen Höhle zur Welt bringt und groß zieht, diese darum nicht aufwärts zum Himmel wachsen könnten, wie es doch dem Menschen beschieden?«

»Dieser Vergleich hinkt!« rief der Alte eifrig, »und er ist der Zurechtstellung bedürftig. Sollen wir nicht in offenen Widerspruch geraten . . .«

»Frieden sollt ihr halten,« unterbrach Frau Johanna den Gatten, und bevor dieser weiter reden konnte, fragte ihn Paula unvermittelt und geradeheraus:

»Wie alt bist Du, würdiger Gastfreund?«

»Der zweite Tag meines siebenzigsten Jahres ward dadurch geweiht, daß Du an ihm unser Haus zum erstenmale betratest,« versetzte Rufinus und verneigte sich höflich; seine Gattin aber drohte ihm mit dem Finger und rief:

»Ob Du nicht gar einen geheimen Buckel hast, Mann? Eine so schön gewundene Antwort . . .«

»Er sieht seinen Krüppeln die Art ab,« neckte Paula. »Aber nun kommst Du an die Reihe, Freund Philippus. Deine Auseinandersetzung war die eines älteren Weisen und hat mich – um des Rufinus willen sag' ich nicht ›gewonnen‹, sondern ›bestochen‹. Ich schulde Dir Ehrfurcht, und doch möcht' ich wissen, wie viele Jahre Du . . .«

»Ich werde mein einunddreißigstes bald erreichen,« kam der Arzt ihrer Frage zuvor.

»Das war eine ehrliche Antwort,« lachte Frau Johanna. »In Deinem Alter klammert man sich gern an die zwanziger Jahre.«

»Warum?« fragte Pulcheria.

»Nur so,« erwiderte die Mutter. »Es gibt Mädchen, denen ein Dreißiger älter erscheint, als ihnen gefällig.«

»Dumme Dinger!« entgegnete Pul. »Sie sollen nur einen jungen Mann suchen, der liebenswerter wäre als unser Vater, und wenn Philippus, ja Du, Philippus, zehn und zwanzig Jahre älter wärst als neunundzwanzig, meinst Du, daß Dich das weniger klug und gut machen würde?«

»Und weniger garstig in keinem Falle,« unterbrach sie der Arzt.

Da rief Pulcheria unwillig, als sei ihr selbst eine Kränkung widerfahren:

»Du bist gar nicht häßlich! Wer Dich dafür ausgibt, der hat keine Augen! Du willst auch nur hören, daß Du ein stattlicher Mann bist.«

Während das warmherzige Mädchen den Freund so gegen sich selbst verteidigte, strich ihr Paula über das goldene Haar und rief dem Arzte zu:

»Pulcherias Vater hat recht. Sie versteht die Menschen mit dem rechten, geraden Maßstab zu messen! Merke Dir's, Philipp! Und dann . . . Nimm mir meine Frage nicht übel, aber mußt' mich's nicht wundernehmen, daß der Einunddreißig- und der Siebenzigjährige die hohe Schule zu gleicher Zeit besuchten? 's ist noch lange hin bis der Mond sich verfinstert – wie hell und blank er dahinzieht! Auch Du, Rufinus, bist ja so ein Weltenwanderer gewesen, und wenn Du mir einen rechten Gefallen thun willst, so erzählst Du uns etwas aus Deinem Leben, und wie Du nach Memphis gekommen.«

»Sein Lebenslauf?« rief Frau Johanna. »Wenn er uns den von Anfang bis zum Ende mit allen Einzelheiten vorführen wollte, verginge die Nacht und das Frühstück würde noch kalt. Er hat ein Dasein gehabt wie der vielgewandte Odysseus; aber erzähle doch einiges, Mann! Du weißt, uns kann nichts Besseres begegnen.«

»Mich ruft die Pflicht,« sagte der Arzt, und nachdem er von den anderen freundlich Abschied genommen und Paula dabei gemessener als in den letzten Tagen Lebewohl gesagt hatte, begann Rufinus:

»In Alexandria bin ich geboren, und damals blühte dort noch Handel und Gewerbe. Mein Vater war ein Waffenschmied, und in seiner Werkstätte sind wohl an zweihundert Sklaven und freie Arbeiter thätig gewesen. Er bedurfte viel des besten Erzes, und das kam ihm gewöhnlich über Massilia aus Britannien zu. Einst begleitete er selbst das Schiff des Handelsfreundes nach der fernen Insel, und dort begegnete ihm meine Mutter. Ihr goldblondes Haar, das die Pul dort geerbt hat, soll es ihm angethan haben, und weil ihr der schöne Fremde – denn der Alte war ein Mann wie es wenige mehr gibt – gar wohl gefiel, ward sie um seinetwillen Christin und folgte ihm gern. Sie haben es beide nie bereut; denn obwohl sie eine stille Frau war, die das Griechische bis an ihr spätes Ende sprach wie eine Fremde, sagte der Alte doch oft, daß sie sein bester Ratgeber sei.

»Dabei hatte sie ein so weiches Herz, daß sie keine Kreatur leiden sehen konnte, und so eifrig sie auch am Herd und Webestuhl zum Rechten sah, konnte sie bis an ihr Ende kein Huhn, keine Gans und kein Ferkel schlachten sehen. Ihr Herz – soll ich sagen ›leider‹ oder ›gottlob‹? – ich hab' es geerbt. Da waren noch zwei ältere Brüder, die beide dem Vater helfen mußten und später das Geschäft fortführen sollten. Als ich das zehnte Jahr erreichte, ward über meinen Beruf entschieden. Die Mutter hätte mich gern zum Geistlichen gemacht, und ich wär' es damals freudig geworden, doch der Vater gab es nicht zu, und weil wir einen Oheim hatten, der Rhetor war und viel Geld durch seine Thätigkeit verdiente, ging mein Vater auf seinen Vorschlag ein, mich diesem Berufe zu widmen. So ging ich denn von einem Lehrmeister zum andern, und ich kam gut fort in der Schule.

»Bis zum zwanzigsten Jahr wohnte ich dabei immer bei den Eltern, und während meiner reichlichen Mußestunden konnte ich thun und lassen, wonach mir das Herz stand, und das waren, wenn es nicht zu hoch klingt, lauter medizinische Dinge. Als zwölfjähriger Knabe hatte ich mich ihnen zum erstenmal gewidmet, und zwar durch einen Zufall. Ich trieb mich natürlich gern in den Werkstätten umher, und da war eine Elster, ein possierliches Tierchen, das meine mitleidige Mutter aufgefüttert hatte. Es konnte ›Du Dummkopf‹, meinen Namen und noch andere Worte rufen und mochte den Lärm gern leiden; denn wo die Schmiede und Schlosser am lautesten pochten und feilten, dahin flatterte es am liebsten, und wo es sich bei einem Amboß niederließ, gab es beim Hämmern, Raspeln und Putzen lauter muntere Gesichter. Jahrelang war dem Tierchen die Geselligkeit ganz wohl bekommen, aber eines Tages geriet es in einen Schraubstock, und sein linkes Beinchen brach entzwei. Das arme Geschöpfchen!«

Dabei bückte sich der Alte, um sich heimlich die Augen zu wischen, und fuhr, ohne innezuhalten, fort:

»Es fiel auf den Rücken und sah mich so jämmerlich an, daß ich dem Blasebalgzieher, der ihm aus Mitleid den Garaus machen wollte, die Zange aus der Hand riß und es behutsam aufhob und mir vornahm, es zu heilen. Auf meinem Zimmer hab' ich die Elster dann, damit sie still halten und sich doch nicht weh thun möchte, an ein künstlich erdachtes Gestell befestigt, ihr das Beinchen eingerichtet, die wunden Enden in meinem Munde erwärmt und befeuchtet und kleine Holzstäbe als Schienen darum befestigt. Und siehe da, es heilte wahrhaftig, sie wurde gesund, flatterte wie früher in den Werkstätten umher, und wenn ich mich zeigte, flog sie mir auf die Schulter und pickte mir mit dem spitzen Schnäbelchen ganz vorsichtig ins Haar.

»Von nun an hätte ich gern den Hühnern im Hof die Beine zerbrochen, um sie zu heilen, doch ich kam auf einen andern Gedanken. Ich ging zu den Barbieren und sagte ihnen, daß wer einen Vogel, einen Hund oder eine Katze mit gebrochenen Gliedmaßen habe, der möge sie nur bringen, ich sei bereit, all diese Schäden umsonst zu heilen, das möchten sie ihren Kunden erzählen. Und schon am nächsten Tage brachte man mir einen Patienten, einen schwarzen Jagdhund mit gelben Flecken über den Augen, dem eine fehlgeworfene Lanze ein Bein zerschmettert; ich seh' ihn noch vor mir! Ihm folgten andere, gefiederte und vierfüßige Kranke, und so hatte denn meine Heilthätigkeit begonnen. Die leidenden Vögel an den Bäumen dank' ich wieder meinen alten Bundesgenossen, den Barbieren. Mit Vierfüßlern geb' ich mich nur noch gelegentlich ab. Die lahmen Kinder, die Du im Garten helfen siehst, gehören armen Eltern, denen der Wundarzt zu teuer. Der lustige Krauskopf, der Dir vorhin die Rose brachte, darf schon in wenigen Tagen nach Hause. Aber zurück zu meiner Jugend!

»Die tieferen Gründe, welche meinem Leben diese Richtung gaben, sind erst später in den zwanziger Jahren, nachdem ich die hohe Schule schon hinter mir hatte, auf mich eingedrungen, ja von ihrer ganzen Gewalt bin ich erst ergriffen worden, nachdem der Oheim mir schon manche Gelegenheit verschafft hatte, mich in meinem Beruf zu bewähren. Ohne Eitelkeit kann ich sagen, daß meine Reden den Leuten gefielen, mir aber widerstand das schwülstige, blumenreiche Gewäsch, ohne das ich ausgezischt morden wäre, und so sehr die Eltern sich freuten, wenn ich aus Niku, Arsinoë oder anderen Nestern in der Provinz mit Lorbeerkränzen und Goldstücken heimkehrte, kam ich mir selbst immer vor wie ein Betrüger. Doch wegen des Vaters wagte ich's nicht, den Beruf zu wechseln, obgleich es mir mehr und mehr widerstand, Leute in den Himmel zu erheben, die ich weder liebte noch achtete, und Thränen der Rührung zu vergießen, während ich bereit gewesen wäre, herzlich zu lachen.

»Freie Zeit hatt' ich die Fülle, und weil es mir nicht an Mut fehlte und ich fest an unserem griechischen Bekenntnis hing, war ich auch überall dabei, wo es Aufstände oder Händel unter den verschiedenen Glaubensgenossenschaften gab. Gewöhnlich ging es mit Beulen und Schrammen ab, doch bisweilen wurden auch die Schwerter gezogen. Einst waren Tausende gegen Tausende in Streit geraten, und der Präfekt hatte die Truppen – allesamt Griechen – aufmarschiren lassen, um die Ruhe gewaltsam wieder herzustellen. Da gab es ein Gemetzel, bei dem Tausende fielen. Ich mag es nicht schildern! Aehnliches gab es nicht selten zu sehen, und häufig richtete sich die Wut und Habgier der Menge, hinter der dabei nur zu oft die Obrigkeit und die Kreaturen des Erzbischofs standen, gegen die Juden. Was ich da zu sehen bekam, ist gräßlich, so gräßlich, die Zunge sträubt sich, es zu erzählen; aber die arme Judenmutter, der bübische Gesellen – unsere Glaubensgenossen – den Mann erschlagen und das Haus ausgeraubt hatten und die dann ein Schwerbewaffneter an den Haaren zu Boden riß, während ein Mordbube ihren Säugling vor ihren Augen an den Füßchen faßte und ihm den Schädel an der Wand zerschmetterte, wie man ein nasses Tuch an die Säule schlägt, um es zu trocknen, dies schöne junge Weib und sein Kind hab' ich nie vergessen, und noch jetzt tritt es mir manchmal bei Nacht als Traumgesicht vor die Seele.

»Das alles erlebte ich mit, und schaudernd sah ich ein Geschöpf Gottes, ein vernunftbegabtes Wesen das andere zerfleischen, verfolgen, ins Elend stoßen, und warum? Barmherziger Heiland, warum? Nur aus Haß, nur – so wahr der Mensch das Maß aller Dinge – nur hingerissen von dem grausen Triebe, dem Nächsten, der nicht sein wollte wie er, ja dem Nächsten, der eben nur nicht er selbst war, zu schaden, ihn zu kränken, ihm wehe zu thun. Und diese Wüteriche, diese Armeen, die dem Banner der Unbarmherzigkeit, der Vernichtungswut, des Blutdurstes folgten, waren Christen, waren auf den Namen dessen getauft, der dem Feind zu vergeben gebietet, der die Liebe ausgedehnt hat von Haus und Stadt und Staat auf die Menschheit, der die Ehebrecherin aus dem Staube emporhob, der die Kinder in seine Arme nahm, und der mehr Freude haben wollte an einem Sünder, der Buße thut, denn über neunundneunzig Gerechte! Blut, Blut wollten sie sehen, und war denn nicht die Lehre dessen, zu dem sie sich stolz bekannten, wie die Lotosblume hier aus dem klaren Wasser des Marmorbeckens, aus dem Blute dessen hervorgewachsen, der sein Blut hingegeben, geopfert für alles, was Mensch heißt? Und die höchsten Hüter und Wächter dieser solcher Lehre der Barmherzigkeit: Patriarch, Bischof, Presbyter und Diakon, stachelten die Wut des Volkes an, statt ihm das Bild des Hirten zu zeigen, der das verlorene Schaf aufnimmt und es freundlich zur Herde zurückführt.

»Meine Zeit schien mir die verworfenste von allen Zeiten und – so wahr der Mensch das Maß aller Dinge – sie ist es; denn in ihr verwandelt sich Liebe in Haß, Barmherzigkeit in unerbittliche Härte der Seele. Nicht nur die Throne der weltlichen, nein, auch die der geistlichen Herrscher triefen vom Blute der Nächsten. Kaiser und Bischof geben das Beispiel, und Volk und Laien thun es ihnen nach. Und wie die Großen, die Männer des Streites, so auch die Kleinen, so auch die friedlichen Werber um geistige Güter. Was ich als Mann auf der Straße gesehen, das war mir schon als Knabe und Jüngling auf der niederen und hohen Schule begegnet. Jede Lehre hatte ihre Bekenner, und wer dem Cnejus beistimmte, den haßte der Cajus, und der redete und schrieb wiederum zu keinem Zwecke, als um dem Cnejus zu schaden, ihn herabzusetzen, ihm wehe zu thun. Dem Mitmenschen Fehler nachzuweisen, ihn an den Schandpfahl zu binden, war eines jeden eifriges Streben, zumal wenn dieser für größer gehalten wurde als er oder auch nur über ihn hinauszuwachsen drohte. Hört die Mädchen am Brunnen, die Weiber an der Spindel! Nur die ist des Beifalls gewiß, die etwas Böses mitzuteilen weiß von anderen Männern und Frauen. Wer fragt nach dem Lobe des Nächsten? Wer vom Glücke des andern hört, wird sein Neider!

»Haß, Haß überall! Ueberall der Wille, der Wunsch, die Leidenschaft, dem Mitmenschen Schmerz und Untergang zu bereiten, statt ihn zu erheben, zu fördern, zu heilen!

»Das ist der Geist meiner Zeit, und alles, was in mir war, erhob sich gegen ihn in heiligem Zorn, und ich schwor mir, anders zu sein und zu handeln, und nur das eine Ziel zu verfolgen, dem Unglücklichen beizustehen, dem Elenden zu helfen, an mich zu ziehen, was dem ungerechten Spotte verfallen, an meinem Nächsten gerade zu machen, was krumm, ganz, was zerbrochen, zu heilen, Balsam zu reichen, zu heilen, zu heilen!

»Und gottlob, es ward mir vergönnt, wenigstens einen Teil dieses Gelübdes zu halten, und wenn sich zu meinem eifrigen Streben später Grillen und eine wunderliche Forschungslust gesellten, die große Aufgabe, von der ich euch sagte, hab' ich erst recht nicht aus dem Auge gelassen, nachdem der Vater gestorben und mir auch der Oheim sein großes Vermögen hinterlassen.

»Da hing ich den Rhetor an den Nagel und durchfuhr Westen und Osten und suchte das Land auf, wo Liebe die Menschen mit einander verbindet und der Haß nichts ist als eine Krankheit, aber – so wahr der Mensch das Maß aller Dinge – bis heute ist alle Müh', es zu finden, vergebens gewesen. Indessen hab' ich mein Haus so bestellt, daß es zu einer Burg der Liebe geworden, und es weht darin eine Luft, in der Haß nicht aufkommt und im Keime erstickt.

»Aber trotz alledem bin ich kein Heiliger geworden, und wie viel Thorheiten, wie viel Unrecht hab' ich begangen, wie viel Geld und Gut, das ich vielleicht besser für die Meinen erhalten, ist mir durch die Finger geglitten, meistens freilich im Dienste der Pflichten, die ich für die würdigsten hielt. Willst Du's glauben, Paula? Verzeih dem Alten, wenn er die Tochter des Thomas so väterlich anruft; kaum fünf Jahre nach der Vermählung mit diesem guten Weibe, bald nachdem wir unsern einzigen kleinen Sohn verloren, hab' ich sie und mein Töchterchen, die Pul dort, verlassen, auf mehr als zwei Jahre verlassen, um dem Kaiser Heraklius freiwillig und unaufgefordert in den Krieg gegen die Perser zu folgen, die mir nichts angethan hatten, freilich nicht als Krieger, sondern als lernbegieriger Wundarzt. Ehrlich gestanden, lüstete es mich ebensosehr, Brüche und Wunden und Schäden in Menge und im großen zu sehen und zu behandeln, als mich wohlthätig zu erweisen. Mit gebrochenem Schenkel, doch erträglich zusammengeflickt, kehrte ich zu diesen da heim, und wieder nach wenigen Jahren hielt es mich nicht länger am gleichen Platz, und der Wandervogel riß Weib und Kind aus der Ruhe des Hauses und Gartens und schleppte sie mit auf die hohe Schule. Der Gatte, der Vater, der Graubart nahm sich wunderlich aus unter den jungen Genossen, die den Reden und Erklärungen der Lehrer folgten; doch so wahr der Mensch das Maß aller Dinge, an Fleiß und Eifer stand ich hinter keinem zurück, wenn mich gleich mancher an Geist und Gaben hoch überragte, und unter diesen stand allen voran unser Philippus. So kommt es, edle Paula, daß der Greis und der blühende Mann Studiengenossen sind, aber der Alte beugt sich heute noch gern vor dem jüngeren Kunst- und Gesinnungsbruder. Geradestellen, Trösten, Heilen, das ist das Ziel auch seines Lebens, und oft gelüstet es mich Alten, der doch das Ziel des Philippus weit früher als er zu dem seinen gemacht hat, mich seinen Jünger zu nennen.«

Hier schwieg Rufinus, stand auf, und auch die Damascenerin erhob sich, drückte ihm herzlich die Hand und sagte:

»Wär' ich ein Mann, ich schlöße mich an euch beide! Aber es ist ja auch, Philippus lehrte es mich, einem Weibe gestattet, in eurem Sinne zu wirken. Und nun bitt' ich Dich noch, mich – willst Du mir diese Gunst nicht versagen – nie anders als Paula zu nennen! So glücklich wie ich bei euch bin, hab' ich nie wieder zu werden vermeint. Mein Herz wird hier frisch und gesund. Frau Johanna, sei Du meine Mutter! Ich habe den besten Vater verloren, und bis ich ihn wieder finde, sollst Du, Rufinus, seine Stelle vertreten!«

»Gern, gern!« rief der Alte, ergriff ihre beiden Hände und fuhr dann heiter fort: »Dafür aber bitt' ich Dich schön, daß Du Dich als ältere Schwester der Pul annimmst! Mach mir aus dem blöden, weltscheuen Ding eine Jungfrau nach Deinem Exempel. Aber rasch, schnell, Kinder, den Blick in die Höhe; denn da beginnt schon, wie die alten Heiden dieses Landes sagten, wenn sich der Mond verfinsterte, Typhon in Ebergestalt das Horusauge zu verschlingen! Seht, wie der Schatten die blanke Scherbe verdeckt! Wenn die Alten das sahen, haben sie Lärm gemacht, das Sistrum mit seinen metallenen Ringen geschüttelt, getrommelt, geblasen, getobt und geschrieen, um dem Bösen Furcht einzujagen und ihn zu vertreiben. Vor vierhundert Jahren mag das hier zum letztenmal geschehen sein, und heute – nehmt die Kopftücher fester zusammen und folgt mir an den Strom – heute beschimpfen sich Christen durch dasselbe Gebahren. In welches christliche Land ich immer gekommen, ist mir das gleiche Schauspiel begegnet: unsere heilige Religion hat dem Glauben der Heiden den Garaus gemacht, doch ihr Aberglaube ist am Leben geblieben und hat durch Fugen und Ritzen in unsere Gebräuche Eingang gefunden. Da ziehen sie hin mit dem Bischof an der Spitze, und wie laut übertönt das Klagegeschrei der Weiber und das Heulen der Männer die Gesänge des Klerus. Hört nur! Auch sie klingen so jammervoll und leidenschaftlich bittend, als habe der alte Typhon heute noch vor, den Mond zu verschlingen, und als stehe der Welt das größte Unheil bevor! Ja – so wahr der Mensch das Maß aller Dinge – die geängstigten Kreaturen da unten sind krank an Geist, und wie kann man denen vergeben, die es wagen, Christen, ja Christen, mit den Ueberresten heidnischer Thorheit zu ängstigen und ihren sehenden Geist zu verblenden?«


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