Alexander Dumas d. Ä
Zehn Jahre später
Alexander Dumas d. Ä

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2. Kapitel.
Und zeigte ihm die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit

Es schlug sieben an der großen Uhr der Bastille, und es war die Stunde der Mahlzeit für die armen Gefangenen und auch für den Herrn Gouverneur. Baisemeaux hatte abermals Herrn d'Herblay zu Gaste. Sie ließen sich diesmal die Leckerbissen trefflich munden, und Aramis war gesprächiger, zwangloser als sonst, so daß Baisemeaux sich fast ein wenig darüber wunderte. Als sie beim Dessert angelangt waren und der Gouverneur sich schon der trügerischen Hoffnung hingab, der Bischof werde an diesem Tage, da er dem Weine sehr brav zugesprochen hatte, einmal keine Geheimnisse haben, wurde ein Kurier in den Hof gelassen, und gleich darauf überbrachte man Herrn Baisemeaux eine Order des Königs.

»Ah, das ist verdrießlich,« brummte er. »Muß das auch gerade beim schönsten Trinken kommen!« – »Baisemeaux, Baisemeaux!« lachte Aramis, »ein Befehl des Königs ist heilig!« – »Ja doch,« antwortete der Gouverneur, »aber die Gemütlichkeit und die Gastfreundschaft sind mir auch heilig, und nun muß ich Sie vernachlässigen, um zu tun, was der König will. Also erlauben Sie!« – Mit diesen Worten öffnete er den Befehl. – »Es ist eine Freilassung,« sagte er verdrießlich. »Wieder einer weniger! Und es kommt kaum noch alle Wochen ein neuer herzu. Erst letztens – Sie waren ja dabei – mußte ich den Grafen de la Fère ziehen lassen, wo ich mich schon drauf gefreut hatte, wieder mal einen vornehmen Herrn hereinzubekommen. Eine schlechte Zeit, Herr Bischof, Gott sei's geklagt!«

»Aber Sie sind doch Christ, lieber Baisemeaux, und sollten sich freuen, wenn ein armer Mann die Freiheit wiedererlangt,« sagte Aramis. »Wer soll denn entlassen werden?« – »Ah, Seldon, jener Pamphletist, der den Spottvers auf die Jesuiten gemacht hat. Und jetzt um acht Uhr abends!« – »Gleichviel!« meinte Aramis, »königliche Befehle müssen vollzogen werden.« – »Dieser muß sogar ohne weiteres vollzogen werden, denn er trägt den Vermerk eilig,« sprach der Gouverneur, »in jedem andern Falle würde ich bis morgen früh gewartet haben.«

»Ei, ei, und denken Sie gar nicht daran, daß Sie die Leiden eines Gefangenen abkürzen, wenn Sie ihn so rasch wie möglich losgeben? Ist es doch etwas Schönes um den Augenblick, wo man nach Jahren der Kerkerhaft die Luft der Freiheit atmet! Jede Minute, die Sie so einem armen Gefangenen schenken, wird Ihnen Gott im Paradiese durch Jahre der Glückseligkeit vergelten.«

»Wenn nur nicht das Essen drüber kalt würde!« seufzte der Gouverneur. Darauf wandte er sich nach der Tür, um mit dem Boten zu sprechen. Der Befehl war auf dem Tische liegen geblieben. Aramis benutzte diesen Augenblick, um ihn gegen einen, den er aus dem Rock zog, zu vertauschen. Es war ein ebensolches Papier, dem echten Befehl täuschend nachgeahmt. Nur ein andrer Name stand darauf.

»Eigentlich ist's eine Grausamkeit, einen Gefangnen um diese Stunde an die Luft zu setzen,« brummte Baisemeaux. »Wohin soll er gehen? Nach so vielen Jahren der Haft wird er sich nicht mehr zurechtfinden.« – »Ich werde ihn führen,« sagte Aramis, »das ist Pflicht eines Mannes der Kirche.« – »Sie wissen auf alles eine Antwort,« sprach der Gouverneur, und seinem Diener rief er zu: »Man soll die Zelle Seldons aufschließen. Nordturm Nummer 3.« – »Wie sagten Sie?« rief Aramis. »Seldon? Sie meinen doch wohl Marchiali?« – »Der Befehl lautet auf Seldon,« sagte Baisemeaux. – »Aber Sie irren sich, Gouverneur,« rief d'Herblay und neigte sich über das auf dem Tische liegende Dokument. »Hier steht groß und deutlich: Marchiali.« – »Was?« versetzte Baisemeaux, »ich las doch eben Seldon. Das ist merkwürdig,« sagte er mit großer Unruhe, als er nun den Namen Marchiali las. »Ich weiß ganz genau, daß es Seldon geheißen hat. Unter dem Namen war ein Tintenfleck – hier ist jetzt keiner.« – »Wie es auch gewesen sein mag, lieber Baisemeaux,« erwiderte Aramis. »Der vom König unterzeichnete Befehl betrifft Marchiali. ›Marchiali ist in Freiheit zu setzen,‹ steht hier klar und deutlich. Also müssen Sie Marchiali loslassen.«

»Hm,« murmelte der Gouverneur, »Marchiali erhielt den Besuch des Beichtvaters vom Jesuitenorden –« und er sah Aramis mit unverhohlenem Mißtrauen an.

»Das weiß ich nicht,« antwortete dieser. – »Und doch ist es noch gar nicht so lange her,« meinte Baisemeaux. – »Das ist möglich, lieber Gouverneur, indessen ist es bei uns gut, daß der Mann von heute nicht wisse, was der Mann von gestern getan hat. – »Jedenfalls hat der Besuch des Beichtvaters diesem Menschen Glück gebracht,« sprach Baisemeaux. »Wohl, ich werde ihn loslassen; aber ich werde erst einen Eilboten ans Ministerium senden und fragen lassen, ob die Sache auch ihre Richtigkeit hat, ob wirklich Marchiali und nicht Seldon gemeint war.«

»Wozu das?« fragte Aramis kalt. – »Um mich vor einem Irrtum, vor einem Versehen zu schützen, das ich vielleicht schwer büßen müßte. Wohl sehe ich die Unterschrift des Königs und die Gegenzeichnung des Polizeiministers Lyonne unter dem Befehl, aber beide Schriftzüge können gefälscht sein, Herr d'Herblay. Das alles ist schon dagewesen.« – »Sie haben recht, Baisemeaux. Sie wollen Ihr Gewissen erleichtern,« sagte Aramis. »Sie würden aber vollständig beruhigt sein, wenn ein Vorgesetzter Sie autorisierte, den Ihnen vorliegenden Befehl ohne weitere Umstände auszuführen?« – »Allerdings,« nickte der Gouverneur.

»So geben Sie mir Schreibzeug,« sagte Aramis kurz. Darauf ergriff er, während Baisemeaux erstaunt zusah, eine Feder und schrieb. Der von Schrecken ergriffene Gouverneur las über seine Schulter hinweg. – »A. M. D. G.,«Ad majorem dei gloriam (zum größern Ruhme Gottes): der Wahlspruch des Jesuitenordens. schrieb der Bischof und zeichnete ein Kreuz dahinter. Dann folgten die Worte: »Herr Baisemeaux von Montlezun, Gouverneur der Bastille, hat den ihm überbrachten Befehl für echt und gültig zu halten und auf der Stelle zu vollziehen. D'Herblay, durch die Gnade Gottes General des Ordens.« Dabei drehte er den Ring an seinem Finger und ließ Baisemeaux das Abzeichen des Obersten der Jesuiten schauen. Der Gouverneur war starr vor Entsetzen und stand unbeweglich, wie am Boden fest gewurzelt. Man hörte in dem Gemach nichts als das Summen einer Fliege, die um die Lichter schwirrte. Aramis würdigte den Mann, den er in so klägliche Verblüffung gebracht hatte, keines Blickes, zog das Petschaft hervor, das er unter dem Wams trug, siegelte das Geschriebene und übergab es schweigend Herrn Baisemeaux, der es mit zitternden Händen entgegennahm, um wie niedergeschmettert auf einen Stuhl zu sinken.

»Auf, lieber Baisemeaux!« rief Aramis nach langem Schweigen. »Die Gegenwart des Ordens-Generals ist doch nichts so Schreckliches, daß man sterben müßte. Reichen Sie mir die Hand und folgen Sie mir.« – Baisemeaux küßte dem General die Hand und rief: »Ich kann es nicht fassen – ich werde mich von diesem Schlage nie wieder erholen. Ich habe mit Ihnen gescherzt und gelacht – ich habe es gewagt, mich auf gleichen Fuß mit Ihnen zu stellen.« – »Schweig, alter Kamerad,« entgegnete d'Herblay. »Gehen wir ein jeder seinen Lebensweg: Dir sei mein Schutz, meine Freundschaft, mir dein Gehorsam geweiht! Und nun, holen Sie Marchiali!«

Baisemeaux ging, um die Formalitäten zu erledigen, unter denen nach der Vorschrift die Freilassung eines Eingekerkerten zu erfolgen hatte. Dazu gehörte vor allem die Eidesleistung, nie etwas von dem kundzugeben, was man in der Bastille gesehen oder gehört hatte. Als der Gefangene diesen Schwur getan, trat Aramis aus dem Schatten hervor, in dem er gestanden. Marchiali errötete leicht und legte seinen Arm in den des Bischofs. Sie gingen in den Hof, wo eine Kutsche bereitstand. Die Räder rollten über das holperige Pflaster, rasselten von Hof zu Hof und dann zur Tür hinaus. Selbst Aramis atmete nicht, solange sie noch im Bannkreis der Bastille waren, man hätte das stürmische Klopfen seines Herzens hören können. Auch der Gefangene, in eine Ecke des Wagens gedrückt, gab kein Lebenszeichen von sich. Endlich war man über den letzten Wassergraben hinüber und durch die letzte Barriere hindurch. Das letzte Tor hatte sich hinter dem Wagen geschlossen; die Pferde griffen schneller aus und trugen den Wagen durch die Vorstadt Saint-Antoine und dann ohne Aufenthalt bis nach Melun, wo Aramis im Walde von Senart haltmachen ließ.

»Was gibt es?« rief der Gefangene und fuhr aus einem dumpfen Traume auf. – »Königliche Hoheit,« antwortete Aramis, »ehe wir weiterfahren, müssen wir uns besprechen.« – »Darauf warte ich schon,« antwortete der Prinz. – »Wir sind in einem Walde, wo niemand uns hörnen kann,« sagte Aramis. »Der Postillon ist taubstumm. Geruhen Sie auszusteigen und mit mir in die düstere Seitenallee einzutreten, die vor uns liegt.«

»Ich bin bereit, doch was machen Sie da?« antwortete der Prinz. – »Ich setze die Pistolen in Ruh, da wir sie nicht mehr brauchen, Königliche Hoheit,« erwiderte Aramis. »Ob ich auch nur,« fuhr er dann fort, während beide auf dem einsamen, von feuchtem Moos überwucherten Fußwege dahinschritten, »ein unbedeutender Mann, ein untergeordnetes Glied in der langen Reihe denkender Menschen bin, so ist es doch, wenn ich mit jemand spreche, stets mein Bestreben, in seine Gedanken einzudringen mitten durch die lebende Maske hindurch, die der Verständige dem Fremden gegenüber annimmt. Ich werde bei der Dunkelheit, die uns umgibt, und bei der Zurückhaltung, die Sie schon im Gefängnis gegen mich gezeigt haben, nichts in Ihren Zügen lesen können. Ich glaube daher, es wird mir Mühe kosten, Ihnen aufrichtige Worte zu entwinden. Ich bitte Sie inständig, jedes meiner Worte nicht aus Rücksicht auf mich, sondern aus Liebe zu sich selbst, ernsthaft zu erwägen, denn was wir zu besprechen haben, wird so wichtig sein, wie nur irgend etwas, das jemals auf dieser Welt zwischen zwei Menschen verhandelt worden ist.«

»Ich höre,« antwortete Prinz Philipp in festem Tone. – Schwarze, dichte Dunkelheit lag unter den Wipfeln der Bäume ausgebreitet; die tiefe Stille der Nacht herrschte ringsum. Das Fünklein der Kutschenlaterne schimmerte durch den weißen Dunst, der vom feuchten Boden empordampfte.

»Königliche Hoheit,« fuhr Aramis fort, »Sie kennen die Geschichte der Regierung, die heute Frankreichs Geschicke leitet. Des Königs Kindheit glich einer Gefangenschaft, die kaum unbarmherziger war als die Ihrige, nur daß er seine Martern nicht in der Finsternis und Einsamkeit eines Kerkers, sondern an hellem lichtem Tage, mitten in der geräuschvollen Welt des Hofs erdulden mußte. Er hat darunter viel gelitten, sein Herz ist verbittert, und der Durst nach Rache muß in ihm wohnen. Er wird ein böser König werden. Da er von einem geizigen Minister geknechtet worden ist, wird er in Verschwendungssucht ausarten. Ich kann ihn mit gutem Gewissen verurteilen. Gott macht alles recht, was er tut. Um dieses schwere Geheimnis, das ich Ihnen entdecken half, zu bewahren und zunutze zu machen, dazu bedurfte er eines zuverlässigen, ausharrenden Werkzeugs, und er erwählte mich. Ich besitze Schärfe des Urteils, unermüdliche Geduld, Unerschrockenheit und Klugheit. Dieses Werkzeug Gottes haben Sie an Ihrer Seite, Hoheit, dieser Mann hat Sie in einer großen Absicht aus der Nacht des Kerkers befreit, und zu einem erhabenen Zweck will er Sie zu einem Herrn der Erde erheben.«

»Sie sprechen da,« antwortete der Prinz, »von dem geistlichen Orden, dessen Oberhaupt Sie sind. Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie eines Tages denjenigen, den Sie erhoben haben, ebenso stürzen werden, daß ich nur eine Kreatur Ihres Geistes sein soll.« – »Sie irren sich, Hoheit,« versetzte Aramis. »Wenn ich Sie einmal erhoben habe, werde ich Sie nie stürzen können. Vielmehr werden Sie beim Emporsteigen den Schemel weit wegrollen sehen, auf den Sie den Fuß gesetzt haben. Sie werden sich dann vielleicht nicht einmal mehr an sein Recht auf Erkenntlichkeit erinnern. Doch fürchten Sie nichts; um mich gegen diese Gefahr zu schützen, spreche ich jetzt mit Ihnen; denn es ist selbstverständlich, daß ich ein Interesse verfolge, indem ich mein Leben für das Ihrige aufs Spiel setze. Auf dem Gipfel angelangt, werden Sie mich für würdig halten, Ihr Freund, Ihr erster Minister zu werden, und gemeinsam werden wir dann so große Dinge tun, daß man Jahrhunderte lang von uns sprechen wird.«

»Sagen Sie mir, mein Herr, was ich jetzt bin und was ich nach Ihrer Meinung morgen sein werde,« sprach Prinz Philipp.

»Hoheit, Sie sind der Sohn Ludwigs XIII., der Bruder Ludwigs XIV., der natürliche, legitime Erbe des französischen Throns. Die Aerzte oder Gott allein könnten in diesem Punkte die Wahrheit ermitteln. Die Aerzte nun stimmen stets für den König, der gerade auf dem Thron sitzt; Gott aber ist unparteiisch und duldet nicht, daß ein rechtmäßig geborener Prinz Unrecht leidet; Sie haben göttliches Blut in sich, weil Ihre Verfolger bei aller Grausamkeit es nicht gewagt haben, dieses Blut zu vergießen, wie sie das Ihrer Diener vergossen haben. Und nun hat Gott, den Sie oft angeklagt haben, für Sie gehandelt. Erwägen Sie, was alles er für Sie getan hat: er gab Ihnen den Wuchs, das Antlitz, die Stimme, die Manieren Ihres Zwillingsbruders, und alle Ursachen Ihrer Verfolgung werden nun zur Grundlage Ihres Triumphes. Morgen, sobald der Tag anbricht, werden Sie sich auf den Thron Ludwigs XIV. setzen, während ihn der göttliche Wille durch mich, das göttliche Werkzeug, für immer vom Throne herabstürzen wird.«

»Ich meine, das Blut meines Bruders darf nicht vergossen werden,« sprach der Prinz. – »Sie allein werden über sein Schicksal zu entscheiden haben,« antwortete Aramis, »Sie werden das Geheimnis, mit dem man gegen Sie Mißbrauch getrieben hat, nun gegen ihn nützen, und Ihr Interesse wird es ebenso gebieterisch erheischen, ihn zu verbergen, wie man Sie verborgen hat. Er wird als Gefangener Ihnen ja doch ebenso gleichen, wie Sie ihm, als er noch König war, geglichen haben.« – »Ist das Geheimnis noch andern Personen bekannt?« fragte Philipp.

»Nur noch der Königin-Mutter und Frau von Chevreuse.« – »Was werden diese beiden tun?« – »Nichts, wenn Sie nur wollen. Denn wenn Sie handeln, daß man Sie nicht erkennen kann, so werden die beiden Sie nicht erkennen.« – »Das wohl, allein es gibt noch größere Schwierigkeiten. Mein Bruder ist verheiratet. Ich kann nicht die Frau meines Bruders nehmen.« – »Ich werde dafür sorgen, daß Spanien die Ehe zurückgehen läßt im Interesse der neuen Politik. Jeder derartige große Plan wächst sich aus, ergänzt sich von selbst. Der beiseitegeschaffte König wird übrigens die Kerkerhaft nicht lange ertragen, denn er ist nicht daran gewöhnt, wie Sie es waren. Ein Leben des Genusses hat seinen Leib verweichlicht – und die übergroßen Ehren, die fast göttliche Gewalt, die ihm bisher beschert gewesen, machen ihn ganz untauglich zu einem Dasein in Unglück und Nacht. Gott wird seine Seele bald zurücknehmen.«

Bei diesen düstern Worten des Jesuitengenerals stieß im Walde ein Nachtvogel einen unheimlichen Schrei aus; der Prinz erschrak und murmelte: »Ich werde den gestürzten König ins Ausland schicken; das wird menschlicher sein.« – »Sie werden diese Frage nach Ihrem Belieben entscheiden,« antwortete Aramis. »Und nun habe ich das Problem nach allen Seiten hin erschöpfend erörtert. Meinen Sie nicht auch?« – »Jawohl,« antwortete Philipp. »Nur zwei Punkte sind noch in Betracht zu ziehen. Erstens die Beweggründe, die Sie bei dem allem haben, zweitens die Gefahren, die wir laufen.«

»Reden wir von den Gefahren, Hoheit,« antwortete d'Herblay. »Gefahren sind gar keine da, sofern nur Sie mit Standhaftigkeit und ohne Furcht in Ihre Rolle als König eintreten und die vollkommene Aehnlichkeit mit dem König, die die Natur Ihnen äußerlich verliehen hat, durch die nötige innere Majestät ergänzen. Darum ist mir aber gar nicht bange.« – »Mir auch nicht, Herr; allein Sie vergessen eine ganz besondere und schier unüberwindliche Gefahr: das Gewissen, das seine Stimme erhebt, die Gewissensbisse, die das Herz zerreißen. Haben Sie einen Bruder?«

»Ich bin allein auf der Welt,« antwortete Aramis trocken. »Doch, Königliche Hoheit, wenn Sie sich fürchten, sei es vor dem Pomp des Hofes, sei es vor den Kanonen der Festungen, sei es vor den Regungen des eigenen Gewissens, so kenne ich ein Ländchen, fern von aller Well, wo Sie ganz für sich leben können, unberührt von dem Treiben der Menschen, wo Sie alles das vergessen können, was ich Ihnen jetzt angeboten habe, wo die Versuchung nicht wieder an Sie herantreten wird. Ich will nicht, daß Sie sich, getrieben durch meinen Willen, meine Laune oder meinen Ehrgeiz, was es nun ist, blindlings in einen Abgrund stürzen. Jetzt sind Sie überreizt, geschwächt durch die Luft der Freiheit, die Sie seit einer Stunde ungehindert atmen. Soll ich glauben, daß Sie diese vollen, ungehinderten Atemzüge nicht fortsetzen wollen? Daß Sie sich ein niedriges Leben wünschen, für das Ihre Kräfte geeigneter sind? Dann würde ich Sie in jenes einsame kleine Ländchen führen, wo niemand Sie kennen und verfolgen wird, und Ihnen soviel Geld mit auf den Weg geben, daß Sie davon bis an Ihr Ende leben können, sorglos, frei und glücklich. Ich will Ihnen ein Gut schenken, mit Feld und Garten. Jagdgewehre, Hunde und Dienerschaft. Sie werden unabhängig sein, Gebieter in einem allerdings winzigen Eigentum im Vergleich zu dem Thron, den ich Ihnen auf der andern Seite angeboten habe. Wollen Sie es annehmen? Ich gebe es Ihnen gern, frohen Herzens. Von diesem Fleck aus kann der taubstumme Diener Sie in ununterbrochener Fahrt dorthin bringen. Ich werde mich begnügen mit der Gewißheit, meinem Fürsten den Dienst erwiesen zu haben, für den er sich selbst entschieden hat. Nun, Königliche Hoheit, entschließen Sie sich! Wählen Sie jenes Ländchen, so wagen Sie nichts – wählen Sie den Thron, so können Sie ermordet, ja im Gefängnis erdrosselt werden. Ich selbst, ich gestehe es offen, nachdem ich beide Wagschalen geprüft, würde Bedenken tragen.«

»Mein Herr,« antwortete der junge Prinz, »ehe ich mich endgültig entschließe, will ich mich zehn Minuten lang mit Gott beraten. Dann will ich Ihnen antworten.« – Aramis verneigte sich ehrerbietig und trat zurück. Der junge Mann entfernte sich mit unsicheren Schritten.

Es war am 15. August gegen elf Uhr abends. Dichte Wolken, die ein Unwetter verkündeten, hüllten den Himmel ein – kein Stern schien. Kaum konnte man die Baumwipfel zu Häupten erkennen, so schwarz war die Nacht. Ein lauer Wohlgeruch stieg von der Erde auf, frischen Odem hauchte das Laub der Bäume aus, und dies alles drang in der ringsum herrschenden Stille eindrucksvoll auf den jungen Mann ein, der zum ersten Mal in seinem Leben frei war. Er sah vor sich hin in die dichte Finsternis, die sein Auge nur auf wenige Schritte zu durchdringen vermochte. Er kreuzte die Arme auf der Brust und atmete mit Wonne die herbe Luft, die des Nachts durch die hohen Gewölbe des Waldes streift.

Der junge Prinz ließ die Seele zu Gott emporfliegen und um einen Lichtstrahl inmitten dieser Nacht flehen, aus der der Tag für ihn mit Leben oder Tod hervorgehen sollte. Es war ein furchtbarer Moment für Aramis; noch nie hatte er vor einer so schweren Entscheidung gestanden. Seine Seele war von Stahl. Mit den Hindernissen des Lebens hatte er immer nur gespielt und war nie besiegt worden. Sollte nun sein großes Unternehmen scheitern, weil er den Einfluß nicht vorausgesehen hatte, den ein paar Liter ozonreiche Waldluft auf den menschlichen Körper ausübten?

Die zehn Minuten, die der junge Mann sich zur Entscheidung ausbedungen, waren eine Ewigkeit für Aramis. Er bewegte sich nicht vom Platze, nur seine brennenden Augen folgten dem Prinzen, der langsam hin und her wandelte, stehenblieb und wieder weiterschritt.

Endlich kehrte der Blick des Prinzen vom Himmel zur Erde zurück. Seine Stirn zog sich in Falten, die Lippen preßten sich aufeinander, sein Auge leuchtete wild und begehrlich auf; er ergriff rasch und fest Aramis' Hand und rief: »Vorwärts! Ich will den Thron!« – »Ist das Ihr fester Entschluß?« – »Unwiderruflich!« antwortete Philipp. – »Sie werden ein großer König sein, Monseigneur, dafür bürge ich.« – »Wir wollen unser Gespräch an dem Punkte wieder aufnehmen,« sprach der Prinz, »wo wir es fallen ließen. Zwei Punkte nannte ich, die noch zu erörtern seien; den ersten, das Gewissen, haben wir abgetan, den zweiten, Ihre Beweggründe, fassen wir nun ins Auge. Erklären Sie sich, Herr d'Herblay! Welche Bedingungen stellen Sie mir? Sie werden mir nicht zumuten zu glauben, daß Sie ganz uneigennützig handelten. Teilen Sie nur ohne Furcht Ihre Gedanken mit!«

»Monseigneur, wenn Sie König sind –« – »Wann werde ich es sein?« – »Morgen abend – das heißt, im Laufe der Nacht.« – »Wie werde ich es werden? Erklären Sie mir erst das!« – »Wenn ich eine weitere Frage an Eure Königliche Hoheit gerichtet haben werde. Ich sandte Ihnen ein Heft mit sorgsam zusammengestellten Aufzeichnungen, aus denen Eure Hoheit von Grund aus alle Personen kennen lernen sollten, die Ihren Hof bilden werden.« – »Ich habe diese Notizen so aufmerksam durchgelesen, daß ich sie auswendig weiß. Ich glaube, Anna von Oesterreich, meine Mutter, vor mir zu sehen. Ich kenne Henriette von Stuart, ich kenne die Lavallière.« – »Vor ihr nehmen Sie sich in acht, Hoheit,« sagte Aramis, »die Augen einer liebenden Frau sind schwer zu täuschen.« – »Ich kenne Saint-Aignan und Fouquet – und Colbert, dessen Todfeind. Mit dem letzteren brauche ich mich nicht viel zu beschäftigen; er soll alsbald verbannt werden. Ich kenne meine Lektion gut, wie Sie sehen, und mit Gottes und Ihrer Hilfe werde ich keinen Fehler machen. Dann ist da noch der Kapitän der Musketiere, Herr d'Artagnan. Soll er auch verbannt werden?«

»Keineswegs, er ist mein Freund,« antwortete d'Herblay. »Zu gelegener Zeit werde ich ihm alles sagen. Einstweilen müssen wir vor ihm auf der Hut sein; denn wittert er etwas, so werden wir beide verhaftet und getötet.« – »Ich werde bedachtsam sein. Was soll mit Herrn Fouquet geschehen?« – »Er bleibt Ober-Intendant.« – »Soll er nicht erster Minister werden? Ein so unwissender König wie ich wird einen haben müssen.«

»Eure Majestät brauchen einen Freund.« – »Ich habe nur einen, und das sind Sie. Deshalb werden Sie mein erster Minister sein.« – »Nicht alsbald, Monseigneur, denn das würde Aufsehen erregen. Es ist besser, Eure Majestät machen mich erst zum Kardinal und dann zum Minister.«

»In zwei Monaten wird es geschehen,« antwortete Philipp. »Doch Sie würden mich betrüben, wenn das alles wäre, was Sie von mir zu verlangen haben.« – »Ich wage in der Tat auch noch mehr zu hoffen, Monseigneur,« sprach Aramis. »Der große Richelieu tat sehr unrecht daran, daß er sich anmaßte, Frankreich allein zu regieren. Er ließ auf diese Weise zwei Könige auf dem Throne sitzen, während er doch sehr gut einen Thron ganz für sich hätte haben können. Der Kardinal, der erster Minister in Frankreich gewesen ist und sich auf die Hilfe, auf die Fürsprache seines Königs stützen kann, braucht seinem Gebieter nicht den Thron streitig zu machen. Sie werden allein regieren können; Sie werden ein weiser, ein energischer König sein, und infolgedessen wird Ihr Einfluß in meiner Sache entscheidend sein. Ich habe Ihnen den Thron Frankreichs gegeben, Sie werden mir den Thron des heiligen Petrus geben. Und wenn dann Ihre edle, sanfte und doch starke Hand sich mit der Hand eines solchen Papstes vereint, dann wird weder Karl V., der zwei Drittel der Welt beherrschte, noch Karl der Große, der sie ganz beherrschte, an Ihre Macht heranreichen. Ich werde als Papst keine Vorurteile verfechten, keine Intrigen spinnen, keine Familienkriege anzetteln, keine Verfolgung von Ketzern befehlen; ich werde sprechen: Uns beiden die Welt: mir für die Seelen, Ihnen für die Leiber! – Was sagen Sie zu meinem Plane, Monseigneur?«

»Sie machen mich stolz und glücklich. Ja, Sie sollen Kardinal sein, dann erster Minister, und dann werden Sie mir angeben, was ich zu tun habe, um Ihre Wahl zum Papst zu sichern. Verlangen Sie Garantien?«

»Nein. Ich werde jederzeit zu Ihrem Vorteil handeln; wenn ich steige, wird auch Ihnen eine noch höhere Stufe bereitet sein. Ich werde mich Ihnen fern genug halten, um nicht Ihren Neid zu erwecken, und doch nahe genug, um Ihnen förderlich zu sein. Unsere Interessen sind wechselseitig.«

»Und mein Bruder wird verschwinden?« – »Auf die einfachste Weise. Wir holen ihn aus dem Bette, indem wir durch die Diele, die dem Druck des Fingers nachgibt, zu ihm hinabsteigen. Eingeschlafen unter einer Krone, wird er im Gefängnis erwachen.« – »Hier meine Hand, d'Herblay!« – »Erlauben Sie, daß ich vor Ihnen knie, Majestät! Umarmen werden wir uns an dem Tage, wo uns beiden die Stirn geschmückt ist, Ihnen mit der Krone, mir mit der Tiara.« – »Umarmen Sie mich heute schon!« rief Philipp, »und seien Sie für mich mehr als ein großer, erhabener Geist – seien Sie mein Vater!«

Als Aramis diese Worte hörte, hätte ihn beinahe die Rührung übermannt. Er glaubte in seinem Herzen eine bisher ungekannte Regung zu verspüren; doch es war ein flüchtiges Wallen, das ohne Spur vorüberging. – »Dein Vater,« dachte er, »ja, dein heiliger Vater!« – Und sie kehrten in den Wagen zurück und fuhren nach Schloß Vaux.



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