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XVII. Nach der Hinrichtung.

In einem der Kapitel des Grafen von Monte Christo haben wir bereits ausführlich den Tag beschrieben und erläutert, welcher dem Karneval voranging und zu der Hinrichtung des zum Tode Verurteilten bestimmt war. Deshalb können wir uns jetzt die Wiederholung ersparen und den Leser weiter führen, der ohne Zweifel begierig sein wird, das Ende der verschiedenen Personen zu erfahren, die er seit langer Zeit vor Augen gehabt hat.

Der Platz del Popolo zeigte, wie immer bei solchen Gelegenheiten, ein prachtvolles Bild der Bosheit und des Fanatismus, in dessen Mittelpunkt der Verurteilte das Ziel aller neugierigen Blicke, seinen letzten Seufzer unter dem letzten Fluche des Volkes aushauchte.

Unter allen Fenstern, deren weite Flügel geöffnet und mit neugierigen Zuschauern besetzt waren, die sich hier befanden, um den Todeskampf des Verurteilten anzusehen, wie man in das Theater geht, um einen Schauspieler eine schwierige Rolle durchführen zu sehen; unter allen diesen Fenstern, sagen wir, war nur ein einziges, gleich den andern geöffnet, ohne Zuschauer. Es gehörte zu einem kleinen Zimmer, welches in dem zweiten Stockwerk lag und die Aussicht über den ganzen Platz gewährte. In diesem Zimmer befanden sich zwei Damen. In der einen derselben, die schwarzgekleidet, leichenblaß und wahrhaft schön war, erkannte man leicht die Gefährtin derjenigen, welche Edmund Dantès an der Tür des Gasthauses des Maestro Pastrini ein Almosen gereicht hatte. Diese Dame lag auf den Knien auf einem Kissen in der Mitte des Zimmers und konnte so das finstere Bild auf dem Platze del Popolo beobachten, ohne von außen gesehen zu werden. Ihr Blick, in welchem sich Angst und Teilnahme malten, hatte nicht einen Augenblick das verhängnisvolle Blutgerüst verlassen, auf welchem der Verurteilte und der Henker in dem widerlichen Drama auftraten, welches die menschliche Gesellschaft zu dem abgeschmackten Zwecke erfunden hat, das Volk in Furcht zu setzen und es von dem Verbrechen durch das Beispiel eines andern Verbrechens zurückzuschrecken. Als Luigi Vampa in der Mitte zahlreicher büßender Brüder auf der Mitte des Platzes erschien, sprach die Dame, die auf den Knien lag, mit leiser Stimme ein Gebet, um den allbarmherzigen Gott für die Seele des Verurteilten anzuflehen.

Als Luigi Vampa niederkniete, erhob sie die Augen gen Himmel, denn sie hatte nicht die Kraft, den verhängnisvollen Streich anzusehen. Ihr Gebet wurde inbrünstiger, dringender, lauter, und in dem Augenblicke, als das verhängnisvolle Messer fiel, riefen die Lippen, welche bisher das Gebet gemurmelt hatten, Plötzlich laut die Worte:

»Luigi, Luigi, alles ist vorbei!«

Nach diesen Worten stand die Dame auf, blickte umher und sah ihre Freundin, die neben ihr stand.

»Meine teure Freundin –«

»Eugenie, Du leidest so sehr!«

»Du täuschst Dich, Luise,« erwiderte Eugenie, indem sie zugleich lachte und weinte. »Ich leide nicht mehr – ich kann nicht mehr leiden – denn von jetzt an habe ich eine Sendung zu erfüllen. Ich muß das Brot für das arme Kind erwerben, welches der Sorge der guten Morels anvertraut ist. Solange die Erfüllung dieser Sendung dauert, glaube mir, Luise, werde ich die Kraft, die Tätigkeit und den Mut bewahren, alles zu vergessen, was mich verletzen könnte. Wir verlassen Italien, und das Theater Englands wird uns beistehen. Bis dahin, meine teure Freundin, vereinige Deine Gebete mit den meinigen und flehe zu Gott für die Seele dieses Unglücklichen, den ich aus tiefster Seele liebe, ohne die Kraft zu haben, dieses Gefühl zu besiegen! Dieses Unglücklichen, welcher der Vater meines armen kleinen Mädchens ist! Wollte Gott, daß das Verhängnis, welches seit einer gewissen Zeit auf mir zu lasten scheint, zu Ende sei, daß der Himmel auch mir den Irrtum verzeihe, den ich begangen habe! – Ach ja, er wird ihn mir verzeihen – denn die Arbeit der Künstlerin ist heilig und in den Augen Gottes tausendmal mehr wert als die Untätigkeit des Höflings! Luise – Luise, laß uns diese Arbeit verdoppeln, damit wir leben können! – Einstweilen aber laß uns Rom fliehen!«

Nach diesen Worten wollten Luise und Eugenie das Zimmer verlassen, als sie sich, die Tür öffnend, plötzlich dem demütigen und trüben Gesichte eines schwarzen Büßers gegenüber erblickten.

Es entstand ein Augenblick tiefen Schweigens, währenddessen Eugenie ebenso wie Luise einige Worte zu sprechen versuchten – aber die Stimme erstarb auf ihren Lippen. Der Büßer schien ebenso ergriffen zu sein wie die beiden Freundinnen. Endlich war es Luise, welche zuerst das Schweigen brach.

»Guter Bruder,« sagte sie, »Ihr kommt ohne Zweifel, um für die Seele des Verurteilten zu betteln?«

»Ich komme, um eine Pflicht zu erfüllen, die er mir auferlegt hat.«

»Mein Gott,« rief Eugenie, »was wollen Sie? – Sprechen Sie!«

»Ja, Madame, Sie sind es, die der Unglückliche mir bezeichnete.«

»Wie! Er hat mich gesehen?«

»Seine Blicke,« entgegnete der Büßer, »schienen durch diese Mauern zu dringen und Sie in dem letzten Augenblick seines Lebens zu betrachten. Er erriet, daß Sie hier wären: er sagte, daß ich Sie hier finden würde, und – in der Tat, Sie sind hier! –«

»Ach, Luigi, Luigi!« rief Eugenie, indem sie die Augen zum Himmel erhob. »Was sind Mauern, was sind Entfernungen für zwei Herzen, die sich lieben! Finden sie nicht immer das Mittel, sich zu verständigen?«

»Eugenie Danglars, Gott erbarme sich Ihrer!«

»Ja, ja, beten Sie aus dem Grunde Ihres Herzens für mich, denn hinfort muß ich beten, muß ich arbeiten! Wenn ich bis zu dem heutigen Tage aus Neigung und Vergnügen gearbeitet habe, so muß es von heute an aus unbedingter Notwendigkeit geschehen! Gott möge mich unterstützen – Gott möge mir seinen Beistand verleihen! Er habe Mitleid mit meiner Tochter!« sagte sie mit leiser Stimme, indem sie den Kopf auf die Brust sinken ließ.

»Bruder,« fragte Luise d'Armilly, welche dem schmerzhaften Auftritte sobald wie möglich ein Ende zu machen wünschte, »was ist es denn für eine Pflicht, die der Verurteilte Euch auferlegte?«

»Bruder, sagte er zu mir,« entgegnete der Büßer, »ich sehe dort auf dem Platze ein offenes Fenster, auf dessen Balkon keine Zuschauer zu erblicken sind wie an allen andern; ich habe die Ahnung, daß dort in jenem Hause sich ein Weib befindet, die vielleicht für den Mann betet, der zugleich ihr Geliebter und ihr Henker war! Ich bin überzeugt, daß dieses Weib, welches groß, edel und voll Güte ist, dem Unglücklichen verzeihen wird, der auf der Stufe eines Blutgerüstes steht! Ja, sie muß dort sein, damit ihr großmütiges Gebet meine Seele in dem Augenblicke begleite, wo sie diesen so verbrecherischen und so von Leidenschaften erfüllten Körper verlassen wird! Geht also nach meiner Hinrichtung nach jenem Hause, Bruder: Ihr werdet dort eine Frau finden, welche Eugenie Danglars heißt. Sagt ihr von mir und übergebt ihr diesen Ring, den ich ihr in einem Augenblick der Raserei entriß, dessen Opfer wir beide geworden sind! Ich fürchte, es möchte jemand wagen, sich desselben zu bemächtigen, wenn mein Körper in den ewigen Schlaf versenkt worden ist! Ohne diese Furcht würde ich voll Leidenschaft den Ring selbst noch nach meinem Tode bewahren! Geht also zu ihr, mein Bruder – und indem er diese Worte sprach,« fügte der Büßer hinzu, »zog der Unglückliche von seinen Fingern einen goldenen Ring, preßte ihn mehrmals an die Lippen, bedeckte ihn mit glühenden Küssen und streckte mir dann die Hand entgegen, um mir den Ring zu übergeben. Darauf legte er seinen Kopf auf den verhängnisvollen Block! – Hier ist der Ring, Eugenie Danglars!«

Der Büßer übergab hierauf Eugenie einen goldenen Ring, und sie empfing ihn, indem sie ihn mit frommer Andacht küßte.

»Ja, ich erkenne ihn!« murmelte sie, kaum fähig, zu sprechen, denn ihre Tränen erstickten sie.

»Ich habe also meine Sendung erfüllt,« murmelte der Büßer, indem er sein Gesicht senkte, das durch seine Kapuze verborgen wurde. »Eugenie Danglars, die Barmherzigkeit Gottes sei mit Ihnen, und glauben Sie mir, daß die ganze menschliche Weisheit darin besteht, aus tiefster Seele daran zu glauben, daß Gott unendlich barmherzig ist: daß der Mensch im höchsten Grade kühn und übermütig der unbegrenzten Gerechtigkeit seines erhabenen Schöpfers gegenübersteht!«

Eugenie warf sich in Luises Arme, und der Büßer stieg langsam die Treppe hinab, indem er murmelte:

»Die Geduld des Lammes Gottes sei mit mir!«

»Luise, Luise!« rief Eugenie, indem sie aufs neue den Ring küßte, »hier berühren meine Lippen die des Mannes, der für mich alles vergessen hat! Ach, ein Tag wird kommen, an welchem mein unschuldiges Kind diesen Ring befragt, wenn ich ihm denselben auf meinem Totenbette als einzige Erbschaft seines Vaters übergebe! – Luigi, hier werden die Lippen Deiner Tochter zum erstenmale den Deinigen begegnen, und Du wirst stets an ihrer Seite sein!«

»Eugenie,« sagte Luise sanft und indem sie ihre Freundin umarmte, »gib Dich doch nicht so ganz den Gedanken hin, die Dich niederbeugen! Alles ist zu Ende; sei erhaben über Dich selbst, und rechne auf die unendliche Barmherzigkeit Gottes!«

»Laß uns gehen,« sagte Eugenie, »laß uns gehen! Gott wird über uns wachen, Gott wird mein armes Kind beschützen.«

Mit diesen Worten gingen Eugenie und Luise die Treppe hinab, stiegen in einen kleinen Wagen, der ihrer wartete, und fuhren nach dem Hotel des Maestro Pastrini. Als der Karneval vorüber war, verließen sie Rom mit dem festen Entschlusse, nach London zu gehen, um sich dort bei dem lyrischen Theater engagieren zu lassen und ihre für einige Zeit unterbrochen gewesene Künstlerlaufbahn fortzusetzen.

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