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VI. Gerechtigkeit.

Vampa, dieser Bandit, der solange die Umgegend Roms in Verzweiflung gesetzt hatte, war endlich gefangen, und bald sollte er den Lohn für seine jahrelangen Missetaten empfangen.

Nicht eine Stimme in ganz Rom erhob sich zu seinen Gunsten, und der Mensch, der stets taub gegen die Bitten seiner Opfer, gleichgültig gegen die Todesqualen der in seine Hände gefallenen Unglücklichen gewesen war, sah mit Entsetzen das furchtbare Gerüst seiner Strafe vor sich aufsteigen, ohne unter den neugierigen Zuschauern ein einziges Gesicht zu erblicken, welches die Spuren des Mitleids zeigte. Die Gleichgültigkeit, die Teilnahmlosigkeit, die er stets seinen Opfern gegenüber bewiesen hatte, bemerkte er in alledem, was er sah, in alledem, was er hörte, als ob die Vorsehung ihm fühlbar und begreiflich machen wollte, wie peinlich dieser letzte Augenblick des menschlichen Daseins ist, wenn er nicht den erhabenen Trost einer wahren Freundschaft, den erquickenden Balsam einer reinen Religion hat.

Sobald die Polizeidiener in das unterirdische Gewölbe der Katakomben des heiligen Sebastian eingedrungen waren, stieß Vampa jenen wilden Schrei aus, dem Benedetto mit einem lauten Gelächter antwortete, und versuchte dann eine verzweiflungsvolle Verteidigung; bald jedoch erkannte er die Unmöglichkeit, allein und ohne Waffen gegen acht bewaffnete und entschlossene Männer zu kämpfen. Er unterwarf sich daher, wurde festgenommen, gefesselt und fortgeschleppt.

Vampa erkannte das Los, das seiner harrte; das Blutgerüst, der Henker mit seinem langen Eisenhammer erschienen ihm auf der Mitte des Platzes del Popolo, und obgleich er unwillkürlich die Augen schloß, schien es dem Banditen dennoch, als erblicke er beständig das Trauergerüst seiner nahen Hinrichtung.

Nichts konnte ihn retten.

Freunde? Die besaß er nicht.

Geld? Man hatte ihm alles genommen.

Sein finsteres Gesicht wendete sich noch einmal nach der Richtung des Ortes, wo der Körper Eugenies lag; ein bitteres Lächeln überflog seine Lippen, und sein Blick, verwirrt und starr, wie der eines Menschen, der aus einem unerklärlichen und peinlichen Traume erwacht, schien die Stunde zu verfluchen, in welcher er dieses Weib zum ersten Male erblickt hatte.

Während der Bandit in der Mitte der Kavallerie-Eskorte nach Rom geführt wurde, stieg der Sohn Villeforts, in einen weiten Mantel gehüllt, an der Tür der kleinen Besitzung des Barons Danglars vom Pferde.

Er suchte in der Dunkelheit nach dem Griff der Glocke und zog dann dieselbe heftig, bis ein Diener erschien, um nach der Ursache dieses Lärmens zu fragen.

Kaum brach der Tag an.

»Sagen Sie dem Herrn Baron von Danglars, ich käme, um ihm eine Sache von der höchsten Wichtigkeit mitzuteilen. Ha! ich hoffe, Sie werden mich hier nicht außerhalb des Gitters warten lassen.«

»Verzeihen Sie, Signor, aber ich habe den ausdrücklichen Befehl erhalten, nur einer wohlbekannten Person zu öffnen; ich glaube sogar, daß Se. Exzellenz in diesem Augenblick durchaus keinen Fremden empfangen will; deshalb würden Sie gut tun, mir Ihren Namen zu nennen.«

»Selbst wenn ich dies täte, würde ich, wie ich ganz gewiß glaube, für einen Fremden gelten; sagen Sie indes dem Herrn Baron, ich sei ein Polizeibeamter, der einige Mitteilungen über eine Katastrophe zu erhalten wünscht, die dieser Nacht einer Person widerfahren ist, welche unbedingt den Herrn Baron im höchsten Grade interessieren muß.«

Der Bediente ging, und Benedetto wartete.

Luise d'Armilly hatte während dieser verhängnisvollen Nacht die Augen nicht zu schließen vermocht; sie erbebte bei dem geringsten Geräusch und glaubte noch immer, den Schrei ihrer armen Freundin, den der Nachtwind ihr zugetragen hatte, zu hören. Sie ließ sich, bleich, aufgeregt, zitternd, auf das Sofa niedergleiten, neben dem sie bisher halb ohnmächtig gestanden hatte, als sie die Glocke des Gittertores hörte, das heftig aufgerissen und ebenso wieder geschlossen wurde. Tausend überspannte Gedanken fuhren ihr durch den Kopf; ihr Herz klopfte schmerzlich, wie dies bei einem Menschen der Fall ist, der einen Nervenanfall hat; die Stimme erstarb auf ihren Lippen, der Atem versagte ihr, als ob die Luft nicht mehr in ihre Lunge zu dringen vermöchte.

Der Baron war zwar tief betrübt über die Entführung seiner Tochter, aber er vermochte sich dem Gewichte nicht zu entziehen, welches sich zur Nachtzeit auf unsere Augenlider niederzusenken scheint und sie zwingt, sich zu schließen, selbst gegen unsern Willen. Danglars schlief seit einigen Stunden, aber sein Schlaf war unruhig und peinlich. Er hatte sich ganz angekleidet auf sein Bett geworfen. Luise d'Armilly war daher die erste, welche erfuhr, wer der Unbekannte sei, der sich am Gitter gezeigt hatte.

Auf das Wort: »Polizeibeamter«, welches der Bediente aussprach, erwachte in Luise eine freudige Ahnung; sie glaubte, das Geschrei ihrer Freundin hätte die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erweckt und der Wagen des vorgeblichen Prinzen von Spada sei durch die Polizei angehalten worden, die in dieser Gegend, wo häufig Gewalttaten vorkommen, stets wachsam ist.

Sie eilte selbst nach dem Zimmer des Barons und weckte ihn hastig auf, nachdem sie dem Bedienten den Befehl gegeben hatte, den Polizeibeamten in den Saal zu führen.

Der Baron fuhr aus dem Schlafe empor, und als er von dem ebenso unerwarteten wie erwünschten Besuche erfuhr, ging er die Treppe hinab.

Als Luise das Zimmer des Barons verließ, eilte sie mit leichten Schritten, um sich hinter einer Tür zu verstecken, fest entschlossen, sich nicht eines der Worte entschlüpfen zu lassen, die der Polizeibeamte sprechen würde; aber zu ihrer großen Ueberraschung blickte sie vergebens in dem Saal umher – er war leer. Sie ging zurück und fragte, ob der Fremde in das Gemach eingeführt worden wäre; auf die bejahende Antwort glaubte sie sich getäuscht zu haben, kehrte wieder zu dem Saal zurück, öffnete die Tür, trat hinein, rief – aber niemand antwortete ihr: sie war vollkommen allein.

Währenddessen wollte der Baron hinabgehen, als eine Stimme, die ihm nicht unbekannt war, ihn aufhielt.

»Man muß gestehen, Herr Baron,« sagte der Unbekannte, »daß Sie in allen Ihren Bewegungen von einer verzweiflungsvollen Langsamkeit sind.«

Der Baron wendete sich rasch um, als wollte er diese Beschuldigungen Lügen strafen, und stieß dann einen leisen Schrei des Entsetzens aus.

Er erblickte sich Benedetto gegenüber.

»Sie hier!« rief er. »Wie sind Sie denn hereingekommen? Das Zimmer hat keine andere Tür als diese!«

»Sie vergessen, wie mir scheint, daß die Totenhand in der Dunkelheit eine Tür zu finden vermag, die keine andere Hand entdecken könnte.«

»Sie scherzen, mein Herr! – Erklären Sie sich deutlicher – wie sind Sie hereingekommen? – Welcher Grund bewegt Sie, so mein Hausrecht zu verletzen? Sprechen Sie, oder ich rufe.«

»Es ist durchaus überflüssig, daran zu denken, nach Hilfe zu schreien, denn niemand fällt es ein, Ihnen etwas Böses zuzufügen. Wäre ich nicht in guter Absicht zu Ihnen gekommen, so würde das Böse, das ich gegen Sie im Sinn hatte, längst geschehen sein.«

»Aber was wollen Sie denn? – Wie sind Sie hereingekommen?« fragte aufs neue der Baron, der noch immer sehr unruhig war.

»Ich werde nur auf Ihre erste Frage antworten, und ich hoffe, daß es leicht sein wird, uns zu verständigen. Schließen Sie die Tür, Herr Baron, sonst wäre es möglich, daß man uns hörte!«

»Aber ich werde unten erwartet! – Sie wissen vielleicht nicht, daß – o nein, es wird Ihnen nicht unbekannt sein –«

»Ich weiß alles, Herr Baron. Man hat Ihnen Fräulein Eugenie geraubt! – Das ist ein Streich Ihres Freundes Vampa.«

»Meines Freundes?«

»Er hat Ihnen Geld geboten, und Sie nahmen es an.«

»Ich?«

»Ja, Sie! – Was erwarten Sie denn, indem Sie Geld aus den Händen eines Banditen annahmen und bei sich eine junge und schöne Tochter hatten? – Mir scheint, Sie wissen besser mit Zahlen als mit Menschen umzugehen!«

»Was ich nie begreifen lernen werde, das sind Menschen, die sich nie deutlich aussprechen – wie Sie zum Beispiel!«

»Ich will Sie vollkommen befriedigen; zuvor aber verschließen Sie die Tür.«

»Gehen Sie lieber mit mir hinab und warten Sie, bis ich mit einem Polizeibeamten gesprochen habe, der mich aufgesucht hat, um mir die Mitteilungen zu machen, ohne Zweifel über die Verhaftung des Räubers, und daß man nur noch mein Zeugnis erwartet, um zu wissen, wer er ist! Ha! das Leben des Signor Vampa ist jetzt in meiner Hand!«

»Das sind alles nur Fabeln, Herr Baron! Wenn Sie ein Mensch von gesundem Verstände sind, so vermeiden Sie soviel wie möglich Ihr Zusammentreffen mit dem Polizeibeamten.«

»Weshalb denn?«

»Aus Instinkt.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Bei diesen Worten erbleichte der Baron und drehte schnell den Schlüssel in der Tür um.

»Gut, gut, Herr Baron; das ist klug. Nun kommen Sie näher und hören Sie!«

In diesem Augenblicke wurde leise an die Tür klopft und die Stimme des Fräulein d'Armilly ließ sich hören.

»Herr von Danglars?«

Der Baron wollte antworten, aber Benedetto gebot ihm durch eine Bewegung seiner Hand Stillschweigen.

»Herr von Danglars? Ach, was geht denn hier Geheimnisvolles vor? Mein Gott – alles erschreckt mich!« klagte Luise.

Als Fräulein d'Armilly sah, daß man ihr nicht antwortete, ging sie wieder hinab, und einige Minuten darauf hörte man, wie sie den Bedienten rief.

»Herr Baron,« sagte Benedetto, »ich weiß alles. Vampa wurde soeben arretiert; er erklärte, daß er hier gewesen sei, er nannte Ihren Namen, und Sie können jetzt begreifen, daß die Justiz einen Menschen nicht in Ruhe lassen wird, in dessen Haus der berüchtigte Luigi Vampa eine Nacht zugebracht hat.«

Der Schweiß perlte in großen Tropfen über die fahle Stirn des Barons Danglars.

»Nun also?« fragte er erschrocken, indem er einen ängstlichen Blick nach der Tür richtete.

»Nun also? – Die Sache ist sehr einfach,« erwiderte Benedetto mit der größten Kaltblütigkeit. »Sobald ich von dem Vorfall hörte, eilte ich hierher, um Sie zu benachrichtigen.«

»Aber was soll ich tun?« fragte der Baron mit stets wachsender Unruhe.

»Sie haben sehr wenig Kopf, Herr Baron.«

»Ach jawohl, ohne Zweifel, ich gestehe es ein, mein lieber Freund. Aber es gibt gewisse Dinge, die so unerwartet kommen, daß sie auf mich eine sonderbare Wirkung machen. Gleichwohl erkenne ich doch, daß keine Zeit zu verlieren ist.«

»Was taten Sie in Paris, als Sie die Schwierigkeit Ihrer Lage und das ungeheure Defizit Ihrer Kassenbücher entdeckt hatten?«

»Ha! Sie klären mich auf – während der Beamte des Fonds für Witwen und Waisen sein Almosen von fünf Millionen erwartete, rettete ich mich durch die Flucht.«

»Was wollen Sie noch weiter? Während der Polizeibeamte Ihrer dort unten im Saale wartet, um Sie beim Kragen zu nehmen, sagen Sie alledem ein letztes Lebewohl und fliehen Sie davon.«

»Das ist es eben, woran ich in diesem Augenblicke dachte, mein vortrefflicher Freund; aber der Weg dazu?«

»Ich werde Ihnen denselben zeigen.«

»Auf Ehre?« fragte der Baron mit bittendem Tone und Wesen.

»Ich leiste einen Eid darauf! Nun beeilen Sie sich; in wenigen Minuten wird man diese Tür sprengen. – Der Tag rückt vor und bald können Sie nicht mehr fliehen.«

»Ha, verfluchter Vampa!« murmelte der Baron, indem er zu seinem Sekretär ging und bei dem Scheine der Lampe nach dem Orte sah, wo er sein Geld aufbewahrte.

»Lassen Sie die Kleinigkeit dort,« sagte Benedetto; »ich habe Geld genug und will Ihnen welches borgen.«

»Wie? Ich soll hier lassen, was mir gehört, daß die Justiz sich damit mäste? Nimmermehr,« erwiderte der Baron, indem er alles Geld sowie die sämtlichen Wertsachen, die er in seinem Sekretär fand, in die Tasche steckte. »Nichts verhindert, daß wir uns von dieser Seite vollkommen sicher stellen, und die Zeit drängt nicht so sehr, um nicht zwei oder drei Minuten für eine Handvoll Piaster opfern zu können. Jetzt bin ich bereit – lassen Sie uns nun fliehen.«

Bei diesen Worten drückte Benedetto an eine Feder eines Bildes, das eine der Wände des Gemachs schmückte. Das Bild drehte sich augenblicklich auf einer Angel seines Rahmens und zeigte eine schmale Treppe, die sich in der Dicke der Mauer hinzog.

»Hierher, Herr Baron!« sagte Benedetto. »Nehmen Sie sich in acht, die Treppe ist steil, und die Stufen sind wegen der Feuchtigkeit sehr schlüpfrig.«

»Ha, Sie sind ein Zauberer!« erwiderte der Baron, indem er sich führen ließ und mit einem Gefühl des Glücks sah, wie das Bild wieder an seine alte Stelle in der Mauer zurücktrat. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich jemals dieses Geheimnis nur geahnt habe. Das ist in der Tat wunderbar!«

Inzwischen war Luise d'Armilly wieder heraufgekommen, um nach Baron Danglars zu rufen, und hatte sich diesmal von den beiden Bedienten begleiten lassen. Die Tür blieb geschlossen und keine Stimme antwortete auf die Rufe Luises.

Sie erging sich nun in den überspanntesten Vermutungen, von denen aber nur eine einzige den Bedienten wahrscheinlich vorkam, nämlich, daß der Baron Danglars das Opfer eines Schlaganfalls geworden sei, der ihm nicht die Zeit gelassen hätte, die Tür zu öffnen; indes konnte Luise, die kurz vorher in dem Zimmer des Barons gewesen war, nicht begreifen, aus welchem Grunde er die Tür verschlossen hätte. Die Bedienten bestanden darauf, sie zu sprengen. Luise forderte sie auf, noch einige Augenblicke zu warten, welche sie darauf verwendete, den Baron Danglars abermals mit lauter Stimme zu rufen. Als sie auch jetzt wieder keine Antwort erhielt, gab sie das Zeichen, und die Bedienten begannen ihre Aufgabe.

Nach einigen Anstrengungen wich das wurmstichige Holz der Tür den darauf gemachten Angriffen; die Nägel sprangen aus ihren Höhlen, das Schloß flog in die Mitte des Gemachs hinein, welches noch von dem schwachen Schein der Lampe beleuchtet wurde, die auf dem Sekretär stehen geblieben war, und Luise blickte voll Staunen und Entsetzen rings um sich her.

Das Zimmer war leer.

Die Angst des Fräulein d'Armilly verdoppelte sich; ihr Gesicht wurde bleich wie das einer Leiche und das Herz klopfte ihr in der Brust, als müßte es zerspringen.

In dieses Haus war ein Mensch eingedrungen, der sich einen Polizeibeamten nannte, und dieser Mensch war wie durch Zauberei verschwunden. Der Baron befand sich nicht in seinem Zimmer, und gleichwohl war dasselbe von innen verschlossen!

Wie ließen sich diese beiden unerklärlichen Umstände deuten, besonders der letztere?

»Ach!« sagte sie, indem sie eine Anstrengung machte, um die Furcht zu verbergen, von der sie ergriffen war, und die sie den Bedienten nicht verraten wollte, »der Herr Baron ist ohne Zweifel fortgegangen, und es ist daher nicht nötig, ihn weiter zu suchen.«

»Aber Signora,« bemerkte einer der Bedienten, »wie soll er denn fortgegangen sein? Es wäre ja nur durch das Fenster möglich, und das ist vergittert, wie Sie sehen!«

»Ich weiß es nicht,« entgegnete Luise, »aber dennoch muß es so sein. Sagen Sie dem Kutscher, er soll den Wagen bereit machen, denn ich will nach der Stadt zurückkehren, und wenn der Herr Baron kommt, so teilen Sie ihm mit, ich bäte ihn, mich zu entschuldigen, daß ich mich entfernt hätte, ohne ihn zu erwarten; aber ich dürfte nicht länger von dem Theater abwesend bleiben.«

Die Bedienten gehorchten, und einige Minuten später saß Luise, vor Schreck zitternd, in dem Wagen, der sie wieder nach Rom brachte.

Kaum trat sie in das Haus, als Frau Aspasia ihr hastig berichtete, ihre Freundin Eugenie sei sehr früh morgens nach Haus gekommen, fühle sich aber etwas unwohl und habe sich zu Bett gelegt, um ein wenig zu ruhen.

Dieser Mitteilung ungeachtet eilte Luise, die Augen mit Tränen erfüllt, nach dem Zimmer Eugenies, stürzte auf das Bett derselben zu, schloß sie in ihre Arme und überschüttete sie mit den Zeichen der innigsten Zuneigung.

Die beiden Freundinnen mischten ihre Küsse und ihre Tränen. Eugenie verbarg ihr Gesicht in dem befreundeten Busen, den Luise ihr bot, um ihre Röte und ihre Scham zu verbergen, ohne daß in diesem Augenblick ein anderes Gefühl in ihrem Herzen Platz fand, als das, welches beide schon seit so langer Zeit vereinigt hatte.

Während die beiden Künstlerinnen so ihre Liebkosungen austauschten und Eugenie, tausendfach das Gefühl bereuend, von dem sie sich hatte beherrschen lassen, aus ihrer Seele jedes andere Bild, als das Luises, verbannte, kannte der Baron Danglars bereits seine Lage und erbebte Benedetto gegenüber vor Wut und Verzweiflung.

Sie waren beide an das Ende der gewundenen Treppe gelangt, auf welcher der Baron, geführt durch den Sohn Villeforts, zu entrinnen gedachte.

Ihnen gegenüber befand sich eine kleine Tür, welche mit einem Nebenhause in Verbindung stand. Das Licht des Morgens drang durch die Oeffnung eines kleinen Fensters, welche sehr hoch in der Mauer angebracht war.

Kaum an diesem Orte angelangt, wendete Benedetto sich rasch gegen seinen Gefährten um, hielt ihm die Mündung einer Pistole entgegen und verlangte mit kurzem gebieterischen Tone von ihm Geld und die Wertsachen, die er bei sich trug.

Der Baron war starr vor Schrecken und verlor die Sprache; indessen gelang es ihm, mit einer ungeheuren Anstrengung aus seiner zusammengeschnürten Kehle die Worte hervorzupressen: »Ei, mein lieber Freund, machen Sie ein Ende mit Ihren Scherzen. – Ha! ha! Ha! ha! Ich kenne wohl Ihren spaßhaften Sinn!«

»Dann müssen Sie auch wissen, daß ich Sie ohne die geringsten Gewissensbisse und ohne alle Umstände ermorden werde, wenn Sie mir nicht augenblicklich all das Geld übergeben, das Sie aus Ihrem eleganten Schreibtisch nahmen. Ei, Herr Baron, der Zustand der Erstarrung, in welchen die Ueberraschung Sie versetzt, würde vollkommen angewendet sein, wenn ich ein Mensch wäre, der von dem Gedanken zurückbebt, einen andern Menschen zu ermorden, um ihn zu berauben.«

»Mein Herr,« stammelte der Baron, »gewiß – Sie wollen sich auf meine Kosten lustig machen. Ach, der Augenblick dazu ist sehr schlecht gewählt.«

»Darin haben Sie vollkommen recht, denn man kann das Haus umzingeln, die geheime Treppe entdecken.«

»Und Sie auch!« sagte rasch der Baron, indem er sich mehr tot als lebendig gegen die Tür stützte.

»Ihre Worte sind die eines guten Propheten, Herr von Danglars; deshalb will ich auch, ohne Zeit zu verlieren, diese Angelegenheiten ordnen,« erwiderte Benedetto mit der größten Kaltblütigkeit, indem er den Hahn seiner Pistole spannte.

»Ach, Sie wollen mich also wirklich berauben?« murmelte der Baron in der größten Verzweiflung, indem er mit den Füßen stampfte und sich die Haare raufte, »Sie sind ein Verräter!«

»Sie sind wirklich spaßhaft,« entgegnete Benedetto. »Und was sind denn Sie? Was sind Sie gewesen? Was werden Sie stets sein?«

»Ich? – Ich habe – niemals – habe ich Ihnen jemales Böses zugefügt?«

»Ich stellte Ihnen diese Frage noch nicht, und werde sie Ihnen auch nicht stellen. Baron Danglars, Ihr Geld oder das Leben!«

»Sie sind also ein Räuber?«

»Das wissen Sie schon längst, mein Lieber.«

»Ja, ich wußte es, aber ich habe vergessen, daß ich es wußte! –« erwiderte Danglars in dem Uebermaß seiner Verzweiflung. »Ich weiß nicht, welche Verblendung mich ergriffen hatte! – Ach Verhängnis, Verhängnis!«

»Nein, Herr Baron, das Verhängnis hat damit nichts zu schaffen; ich will Ihnen Ihre Verblendung erklären. Als ich Ihnen zu irgend etwas nützlich sein konnte und als mit der Zeit meine Dienste Ihnen immer ersprießlicher wurden, – als Sie erkannten, daß die Lage, in die ich Sie versetzt hatte, ohne Arbeit gemächlich leben zu können, ihren Reiz besaß, da machten Sie sich der sehr natürlichen Schwäche schuldig, meine kleinen Vergehungen zu rechtfertigen, und einen Menschen, der nicht auf diese Welt gekommen ist, um irgend eines andern Menschen Freund zu sein, den Ihrigen zu nennen! Sie begingen diese Schwäche, weil Ihr Gewissen nicht ganz rein war! Nein, nie kann das Gewissen eines Menschen rein gewesen sein, der die Absicht hatte, das geheiligte Geld der Witwen und Waisen zu stehlen; – das Gewissen eines Menschen, der, nachdem er seine Frau beschimpfte, die Schamlosigkeit besaß, wieder vor ihr zu erscheinen, um sich einiger Trümmer ihres Vermögens zu bemächtigen, das sie, wie er meinte, aus dem Schiffbruch gerettet und durch unerlaubte Operationen sogar verdoppelt hatte; – das Gewissen eines Menschen, der bei sich den berüchtigtsten Banditen Roms beherbergt, und aus seinen verbrecherischen Händen Gold empfängt, ohne sich genau nach dem Grunde einer so auffallenden Freigebigkeit zu erkundigen! – Begreifen Sie jetzt, Herr Baron, welche Binde es war, die Ihnen vor den Augen lag?«

»Und Sie, der Sie so sprechen, wer sind denn Sie? Wo kommen Sie her? Was wollen Sie?«

»Ganz gut! Drei Fragen, drei Antworten! Ich bin ein Mensch ohne Namen, ohne Familie, ohne Gott, ohne Religion, ohne Vaterland und ohne Freunde! – Ich stieg in einer Nacht aus einem Grabe empor, im Herzen die verfluchte Flamme der Verzweiflung, auf den Lippen die Verwünschung, in der Hand eine eigentümliche Reliquie, eben die Hand, welche mich erwürgen wollte, als ich in dieser Welt den ersten Atemzug tat, und welche später mich segnete; die Hand, welche ich geküßt und mit meinen Tränen benetzt hatte; – Jetzt, mein Herr, bleibt mir nur noch übrig, auf Ihre letzte Frage zu antworten. Was ich will? – Was ich will, was ich verfolge, das ist eine gerechte, eine unerbittliche Rache!«

»Und wann habe ich Sie jemals beleidigt?« fragte Danglars, indem er seine Füße unter sich brechen fühlte.

»Niemals.«

»Und dennoch – berauben Sie mich?«

»Mein Herr, ich raube, weil der Weg, den ich zu durchlaufen habe, schwierig, lang und kostspielig ist! – Der Mensch, gegen den ich ringe, ist mächtig, und um ihn zu bekämpfen, bedarf ich des Goldes! – Ich raube aus Notwendigkeit, aus unbedingter Notwendigkeit, aber ich opfere dieser Notwendigkeit nicht die Personen, die ich dem Verbrechen und der Räuberei fremd halte! – Mein Herr, die Zeit vergeht – Ihre Lage ist unabänderlich; wählen Sie daher: Ihr Gold oder Ihr Leben!«

Bei diesen Worten streckte Benedetto die Hand aus, empfing das Geld und die Wertgegenstände, die der Baron Danglars bei sich trug und die er ihm mit einem langen und schmerzlichen Seufzer übergab.

Der Baron wurde also wieder Danglars kurzweg, denn er war ärmer als je zuvor.

Es entstand ein Augenblick des Schweigens, währenddessen Benedetto, die Pistole in der Hand, durch eine Spalte in der Tür die Umgegend erspähte.

»Niemand!« flüsterte er. »Lassen Sie uns gehen!«

Bleich und zitternd glitt der Baron an der Mauer hin, bis er Benedetto erreichte, in dessen Fußtapfen er trat, wobei er die jämmerlichste Figur von der Welt spielte.

»Aus Barmherzigkeit!« sagte er. »Ich bin alt, und meine weißen Haare müssen mir Ihr Mitleid in einem gewissen Grade gewinnen. Was soll ich anfangen? Wo wollen Sie, daß ich mein Brot erwerben soll? Sie wissen wohl, daß ich bei dem geringsten Schritte, den ich in Rom tue, verhaftet werde!«

»Dann haben Sie eine freie Wohnung. Ist denn das so schlimm?« antwortete gleichgültig Benedetto, indem er Anstalten traf, die Tür zu öffnen.

»Erbarmen Sie sich meiner, um der Liebe Gottes willen!«

Benedetto blieb stehen und richtete auf Danglars einen Blick, der in den tiefsten Falten seines Herzens lesen zu wollen schien.

»Der Teufel, Sie sind sehr fromm: mein alter Genosse,« rief er dann. Hierauf fuhr er fort, »die Not ist die Schwester der Frömmigkeit; wenigstens geht sie öffentlich mit ihr Hand in Hand.«

»Nun wohl denn, wenn es nicht im Namen Gottes ist, so sei es im Namen der Sendung, welche Sie verfolgen! Barmherzigkeit!« entgegnete Danglars.

»Das verstehe ich allerdings besser! Aber was wollen Sie denn von mir?«

»Daß Sie mir zu Hilfe kommen.«

»Worin?«

»In allem! – In allem! Netten Sie mich, beschützen Sie mich!«

»Verlangen Sie nicht etwa, daß ich Sie mir nachschleppen soll, Sie alter, unverschämter Mensch? Ich verlasse Italien; ein Schiff, das mir gehört, wartet meiner in dem Hafen!«

»Ein Schiff!« wiederholte Danglars, indem er laut aufatmete und sich plötzlich emporrichtete: »Ein Schiff?«

Man hätte glauben sollen, er gewänne ein neues Leben.

»Was gibt es denn? Was haben Sie?« fragte Benedetto, welcher, als er die rasche Bewegung Danglars bemerkte, hastig die Hand in die Tasche steckte und den Griff einer Pistole erfaßte.

»Haben Sie mir nicht gesagt, daß ein Schiff, welches Ihnen gehört, Ihrer im Hafen wartet?«

»Ja.«

»Haben Sie einen Piloten?«

»Natürlich.«

»Ah!«

»Nun?«

»Ich hätte Sie um die Stelle gebeten.«

»Sie?«

»Ja, ich! Aber da Sie die Reise beschlossen haben, werden Sie ohne Zweifel Handel treiben. Sie werden vielleicht Contrebandewaren hier in dem Mittelländischen Meere aufnehmen, und in diesem Falle biete ich mich Ihnen als Superkargo an.«

»Also verstehen Sie sich auf die Leitung eines Schiffes und auf die Handelsangelegenheiten der Marine?«

»Ob ich mich darauf verstehe! – Mir sind die ersten Zähne auf dem Meere gewachsen, wo ich zwischen Warenballen lag, mit denen das Schiff beladen war!«

»Was sagen Sie? und das Wappenbild, welches Ihre Wiege schmückte? – Und der Name Ihrer Ahnen?«

»Ich war zuerst Matrose – dann stieg ich – ich erhob mich – ich gelangte endlich zu dem, als was Sie mich gesehen haben. Jetzt werde ich wieder hinabsteigen und auf dem Punkte endigen, von dem ich ausgegangen bin.«

»Schwören Sie mir bei Ihrem Leben, daß Sie mir die Wahrheit sagen?«

»Ja.«

»Bedenken Sie, daß, wenn wir auf dem Meere sind und Ihre Unfähigkeit erkannt und bewiesen wird – Sie einen Sarg bekommen, der Ihrer würdig ist: den Bauch eines Haifisches.«

»Ich bürge für mich.«

»Nun, so stecken Sie denn Ihre Titel in die Tasche und folgen Sie mir! – Ihre Geschichte scheint mir sehr interessant zu sein! Sie müssen mir dieselbe erzählen, wenn wir auf dem Meere sind. Ich beteuere Ihnen, daß niemand imstande sein würde, unter diesem schönen, mit Samt und Seide gefütterten Rocke die gemeine und grobe Jacke des Matrosen zu erkennen! – O über die Welt! Ueber die Welt!«

*


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