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XV. Die Rückkehr zu dem Grabe.

Nachdem Benedetto den Sohn des Edmund Dantès der Barmherzigkeit Valentines übergeben hatte, blieb ihm nichts mehr zu tun, als nach Frankreich zurückzukehren, um daselbst neben der Leiche seines Vaters die Hand wieder niederzulegen, welche er ein und ein halbes Jahr zuvor von dem Körper getrennt hatte, getrieben durch den tollen Einfall eines grausamen Entschlusses.

Nachdem er seine Sendung erfüllt hatte, fühlte er, daß etwas Furchtbares nicht zögern würde, ihn zu ereilen. Er wußte sich indes keine Rechenschaft von dem eigentümlichen Gefühle zu geben, das ihn zu bedrücken anfing. Für den Augenblick schrak er jedoch nicht vor dem gefaßten Entschlusse zurück, nach Frankreich zu gehen, weil die Hand des Herrn von Villefort nicht auf der Erde verloren gehen durfte.

Benedetto verließ Rom und kehrte nach Paris zurück, wo er sich von Peppino trennte, der, wie er sagte, einen Handel mit alten Kleidern anfangen wollte; denn das war der einzige Handel, für welchen er Neigung empfand.

Der Sohn Villeforts durchschritt ruhig die Stadt und trat bei einem Notar ein, dessen Wohnung er noch von früherer Zeit kannte. Das strenge Gesicht Benedettos, seine Ruhe und zuversichtliche Weise zu sprechen flößten dem Manne, den er aufgesucht hatte, anfangs eine tiefe Sympathie ein.

Eine halbe Stunde darauf war der Notar von dem in Kenntnis gesetzt, was von seinem Amte verlangt wurde. Benedetto ließ eine Schenkungsakte von beinahe zwölf Millionen Franks zu Gunsten Valentine Morels aufsetzen, welche in der Nähe Roms wohnte, unter der Bedingung, die Zinsen dieses Kapitals zu der Errichtung verschiedener Asyle für die Kindheit und das unglückliche Alter zu verwenden, sowohl in Italien als in Frankreich. Diese Schenkung sollte ihr durch den erwähnten Notar im Namen einer geheimen Wohltätigkeitsgesellschaft übergeben werden, als deren Bevollmächtigten Benedetto sich ausgab.

Ein anderes Kapital von sechs Millionen Franks sollte auf demselben Wege zur Verfügung des Herrn Albert Mondego, wohnhaft in Marseille, gestellt werden im Namen eines ehemaligen Schuldners seines verstorbenen Vaters, des Grafen von Morcérf, welcher diese Schuld bezahlte, über welche kein gerichtliches Dokument bestand.

Als diese Dispositionen in Gegenwart mehrerer Zeugen getroffen waren, verließ Benedetto den Notar und ging nach einem Wirtshause, wo er bis zum Anbruche der Dunkelheit blieb.

Es war acht Uhr abends, als er ausging, gehüllt in den schwarzen Mantel, dessen er sich gewöhnlich bediente, um sich zu verkleiden.

So ging er nach dem Kirchhof des Père Lachaise, an dessen Tor er pochte.

»Wer da?« fragte eine Stimme, welche Benedetto wiederzuerkennen schien.

»Ein Freund,« entgegnete er ruhig.

»Ein Freund zu dieser Stunde an dem Tore eines Kirchhofs? Hm!« sagte der Diener indem er seinen mit einer Laterne versehenen Arm zu dem Fenster seiner Wachhütte hinausstreckte.

»Willst Du etwa, daß ich Dein Feind sein soll?« fragte Benedetto mit derselben Ruhe.

»Es kümmert mich wenig, ob Du ein Freund oder ein Feind bist. Bist Du ein Freund, so sage ich Dir, daß ich an die Freunde zu dieser Stunde nicht glaube. Bist Du ein Feind, so fürchte ich Dich nicht. Dieses Tor ist fest verschlossen, die Mauern sind hoch und überdies besitze ich hier zwei ausgezeichnete doppelläufige Gewehre, die im Falle der Not vier Kugeln schicken.«

»Gut! Aber wenn ich Euch nun beweise, daß ich weder Euer Freund noch Euer Feind bin!«

»Wie versteht Ihr das?«

»Zum Beispiel diese wohlgefüllte Börse!«

»Oho,« rief der Hüter, als er das Geld neben der Tür seines Postens klingen hörte, »das nenne ich sprechen. Nun, was verlangt Ihr denn? Man sollte meinen, Ihr wolltet nach Eurer Wohnung zurückkehren.«

»So öffnet diese Tür.«

Es entstand ein Augenblick des Schweigens.

»Sagen Sie mir doch, mein Herr, wären Sie etwa ein gewisser Lord – ein Lord –«

»Wilmore,« sagte Benedetto scheinbar gleichgiltig.

»O, das ist sehr gut! In diesem Falle eile ich, Ihnen zu dienen, mein Herr. Ich habe Sie an Ihrer originellen Art erkannt, an die Tür eines Kirchhofs zu klopfen, wenn alle Welt sich davon entfernt. – So, so, Sie können eintreten.«

Die Tür öffnete sich und Benedetto ging hinein.

»Welchem der Gräber bestimmen Sie Ihren Besuch?«

»Der Gruft, welche den Familien St. Méran und Villefort gehört.«

»Ei,« brummte der Hüter vor sich hin, »sollte er etwa zufällig kommen, um den Skeletten ihre Schmuckgegenstände zurückzubringen? – Nein, dieser Schurke ist zu verschlagen – er kommt gewiß mit einer neuen Absicht: aber er kann überzeugt sein, daß er sich in den Rachen des Wolfes stürzt!«

Einige Augenblicke daraus ging der Hüter, versehen mit einer Hacke und einer Laterne, vor Benedetto her, der auf das bezeichnete Gewölbe zuschritt.

Benedetto blieb in einer gewissen Entfernung stehen, während jener die Erde wegschaufelte, um die Tür zu öffnen, eine Arbeit, die nicht lange währte. Der Hüter öffnete die Tür dieses Asyls der Toten, stellte seine Laterne daneben und entfernte sich, indem er Benedetto ein Zeichen gab, welches dieser sogleich verstand.

Als Benedetto die Schritte des Hüters nicht mehr hörte, hob er die Laterne auf und ging langsam die Marmorstufen hinab, die in die Mitte der Leichen seiner Familie führten.

Alles war noch ganz so, wie Benedetto es verlassen hatte, als er einige Zeit zuvor von hier fortging.

Er öffnete ohne Schwierigkeit den Sarg seines Vaters, dessen Skelett noch mit den Resten des Leichentuchs umhüllt war, dem letzten Gewände des ehemaligen Prokurators von Paris, nach seinem Wunsche ähnlich der Kleidung, welche mehrere der durch ihn Verurteilten in ihrer letzten Stunde trugen.

Der rechte Arm des Skeletts ruhte auf der Brust, der andere war längs der Seite ausgestreckt.

Nachdem Benedetto längere Zeit das Skelett betrachtet hatte, in welchem der Tod sich in seinem ganzen Entsetzen zeigte, nahm er aus seiner Tasche ein Kästchen von schwarzem Holz, zog daraus die verdorrte Hand, die er bei sich bewahrte, hervor und legte sie auf die Brust des Leichnams.

»Die Schuld ist getilgt, mein Vater, und Deine Hand, die solange gegen den Lebenden erhoben war, kann jetzt auf der Brust ruhen, deren Herz in dieser irdischen Welt soviel litt. Empfange in diesem Kusse den letzten Beweis der tiefen Ehrfurcht, welche Deine entsetzlichen Leiden mir eingeflößt haben! – Und nun scheide ich für immer!«

Indem Benedetto diese Worte sprach, drückte er einen Kuß auf die Totenhand, schloß dann den Sarg, nahm die Laterne, stieg die Treppe hinauf, und da er die Türe geschlossen fand, versuchte er sie mit der linken Hand zu öffnen. Sie widerstand. Er setzte darauf seine Laterne weg und gebrauchte die rechte Hand und dann das Gewicht seines ganzen Körpers, allein die von außen geschlossene Tür wich den Anstrengungen Benedettos nicht!

Einige Augenblicke war er wie vernichtet, ohne alle Gedanken und ohne zu fassen, was vorgefallen war; aber nach einer halben Stunde erwachte er aus diesem Zustande der Betäubung, in welchen ihn die Ueberraschung gestürzt hatte, und er konnte sich mit aller möglichen Geistesklarheit den Grund erklären, weshalb die Tür geschlossen war.

Es genügte ihm dazu, sich der ersten Nacht zu erinnern, wo er hier eingedrungen war.

»Ich bin der Entweihung des Grabes angeklagt und der Hüter hat mich der Justiz überliefert.

»Vor einem und einem halben Jahre wurde dieses Grab prosaniert und bestohlen; ich entfloh, ohne die Habgier des Hüters zu befriedigen, und jetzt rächt er sich!«

Benedetto, welcher daran gewöhnt war, gegen die Gefahr zu kämpfen, dachte nicht daran, die Unmöglichkeit zu besiegen. Er setzte sich daher auf die Stufen der Treppe, stützte den Kopf in die Hände und erwartete den Tag. – Die Nacht schien ihm ewig zu währen.

In der Tat hörte er am nächsten Morgen die Schritte mehrerer Personen sich dem Grabgewölbe nähern. Die Tür öffnete sich und Benedetto erblickte vor sich die finsteren Gesichter von sechs Polizeisoldaten, welche den gezogenen Säbel in der Faust hielten.

»Der Wille Gottes geschehe bis zum Ende!« murmelte er, indem er sich in die Mitte der Soldaten stellte.

Der Hüter folgte ihnen bis zu dem Tore des Gottesackers, und als die Patrouille hinaus war, schloß er hinter ihr das Gitter, indem er mit spöttischer Stimme sagte:

»Auf Wiedersehen, Lord Wilmore!«

*


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