Hans Dominik
John Workmann der Zeitungsboy
Hans Dominik

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9. Kapitel

Langsam, als arbeiteten sie sich durch einen unergründlichen, flüssigen Sumpf, krochen die Tugboote und Dampfer dicht beieinander vorwärts. Mit angestrengten Sinnen schaute an Bord der Dampfer jeder nach allen Seiten und lauschte, ob aus der grauen Nacht sich irgendein Unheil nahe. Zu sehen war nichts. Je mehr sie auf den Ozean kamen, um so dichter wurde der Nebel. Auch zu hören war kaum etwas.

Dann und wann nur schollen wie aus weiter Ferne gedämpfte Stimmen von Menschen, und sie wußten, daß die Stimmen von Bord eines haushohen Passagierdampfers kamen, der irgendwo in ihrer nächsten Nähe lag, ohne daß sie ihn sahen.

Ab und zu hörten sie das Klucksen und Schluchzen von Wasser, wenn es aus dem Schiffsinnern gepumpt wird, hörten das monotone Stampfen einer unter Dampf stillstehenden Schiffsmaschine. Dann wieder ertönte dicht vor ihnen gleich einem entsetzlichen Lärmsignal der Hölle das ohrenzerreißende Heulen einer Sirene vom Bord eines Frachtdampfers.

Und nun kam wie der gespenstische Schatten eines großen ungeheuerlichen Seevogels der Urzeit ein schweres Lotsenboot in Sicht und aus der grauen Finsternis scholl mit dumpfem Klang durch ein Megafon:

»Wer seid ihr? – Warum seid ihr in Fahrt?«

Und durch das vier Fuß lange Megafon des Herald-Depeschenbootes brüllte es zurück:

»Hier ›Owlet‹ New York Herald. Auf der Suche nach ›Republic‹. Habt ihr etwas erfahren?«

»Wir wissen von nichts!« scholl es zurück. »Was ist mit Schiff?«

Die nächste Antwort, welche der »Owlet« gab, verschlang der Nebel.

Spurlos war das Lotsenboot in der grauen Nacht versunken, und auch das schärfste Auge hätte nicht mehr entdeckt, wo es sich jetzt befand.

Plötzlich klangen die Glocken der Signalstation für drahtlose Telegrafie auf dem Depeschenboot des Herald.

Sofort stoppten die Maschinen der Dampfer, und wenige Sekunden später wurde die empfangene Nachricht für alle hörbar durch das Megafon gebrüllt:

»Die ›Baltic‹ ist 17 Meilen von New York von ihrem Kurse abgewichen, um der ›Republic‹ zu Hilfe zu kommen.«

Wenige Minuten später kam ein zweites Telegramm, welches besagte, daß die »Lucania« von der Cunard-Linie gleichfalls zur Hilfe abgegangen wäre.

Kurze Zeit darauf empfing der Funker eine Nachricht von Ship News:

»An Bord der ›Republic‹ befindet sich Mister J. B. Conolly, sendet ihm Telegramm, daß er über den Schiffbruch für Herald schreibt.«

Mister Conolly war ein Freund des Präsidenten Roosevelt und an Bord der »Republic« nach Gibraltar, um dort die von ihrer Weltreise zurückkehrende amerikanische Flotte abzuwarten und mit ihr heimzukehren. Conolly galt in Amerika als der beste Erzähler von Seegeschichten.

Der Herald funkte in der Richtung nach Nantucket mehrmals den Namen Conolly. Nach einer Viertelstunde antwortete der Apparat:

»Hier Conolly!«

Ein erleichtertes Aufatmen ging aus der Brust des Funkers.

Er funkte zurück:

»Wo befinden Sie sich?«

»An Bord der ›Baltic‹«, antwortete die Funkstation.

Darauf funkte der »Owlet«:

»Auftrag von Mister Bennett. Schreiben Sie über Rammung der ›Republic‹. Wir sind auf dem Wege zu Ihnen!«

Ein kurzes lakonisches »Ja«, dann schwieg der Apparat.

Nach den Seezeichen, welche sie jetzt im Wasser entdeckten, erkannten sie, daß sie sich bei Sandy Hook in dem schmalen Fahrwasser des Gedney-Kanals befanden. Die Durchfahrt ohne Lotsen durch dieses schmale Fahrwasser zwischen den Sandbänken des Ozeans war zur Zeit sehr gefährlich, da seit einigen Tagen das große Wrack des Dampfers »Finance« in demselben lag. Jede Sekunde konnten die Dampfer, trotz der langsamen Fahrt, auf das Wrack stoßen.

Für die nächsten Minuten war jedes Auge an Bord auf dem Ausguck.

Bei allen gab es ein erleichtertes Aufatmen, als sie endlich die nur wenige Meter aus dem Wasser hervorschauenden Mastspitzen des gesunkenen Dampfers entdeckten. Endlich war die Gefahr vorüber, und jetzt strengten sie ihre Ohren an, um die Glocke oder Sirene von der Sandy Hook-Station, dem äußersten vorgeschobenen Ozeanposten der New Yorker Lotsen, zu hören.

Hier in der Nähe von Sandy Hook passierten die Dampfer auf Dampfer, welche in langen Linien in der schmalen Fahrrinne zwischen den Sandbänken des Ozeans vor Anker lagen.

Endlich tauchten durch den Nebel die zuckenden Scheinwerfer von der Leuchtstation Sandy Hook auf. Es war 15 Minuten nach 5 Uhr, als sie die Lotsenstation erreichten.

Einsam wie Robinsons Insel lag die Station auf den Sandbänken des Ozeans vor der amerikanischen Küste.

In Sandy Hook wußten weder die Lotsen noch Funker, wo sich die ›Baltic‹ mit den geretteten Passagieren befinden konnte.

Dagegen lag ein anderer Funkspruch bei ihnen vor. Der »New York Herald« hatte seiner ersten Hilfsexpedition eine zweite folgen lassen.

Und wieder tappten sich die Heralddampfer in das graue Nebelmeer.

Dunkler und dunkler wurde es, und die graue Farbe des Nebels veränderte sich in die schwarze der Nacht.

Unaufhörlich bellten die Sirenen ihre schauerlichen Töne in das Dunkel, unaufhörlich gellten die Glocken, während der Herald-Funker alle zehn Minuten in das Dunkel hinein die lakonischen Worte funkte:

»Wo ist Baltic?«

Und nach dreistündiger Fahrt gab der Apparat die erste Antwort:

»Hier ist Baltic!«

Der Herald-Funker gab zurück:

»Könnt ihr Ort bestimmen?«

»Unmöglich! Wer seid ihr?«

»Herald-Depeschenboot ›Owlet‹!«

»All right, wir erwarten euch!«

Es war merkwürdig, an Bord der suchenden Dampfer zu beobachten, wie der entsetzliche Nebel fast eine ähnliche Wirkung wie ein schweres Narkotikum ausübte. Fast taumelnd bewegten sich Leute und Reporter.

Und John Workmann saß am Bug des Dampfers, den Kopf in die Hände gestützt. Es war ihm zumute, als befände er sich in einem bodenlosen Chaos, aus dem er nie wieder herauskommen würde. Solange es Tag gewesen, hatten die vor seinen Augen schwebenden dicken grauen Nebelschatten in ihrer flatternden, tanzenden, gleitenden Bewegung einen förmlichen Schwindel bei ihm ausgelöst.

Jetzt, bei Nacht, war es ihm, als sei er selbst mit der Finsternis, die sich um ihn gelegt hatte, ausgefüllt, und er vermochte nichts anderes mehr zu denken, als: es ist dunkel.

Plötzlich wurde der Nebel licht. Alle Augen blickten nach oben und nahmen wahr, daß das Mondlicht durch die Nebelmassen drang und dieser selbst dünner wurde.

Aber nur für wenige Minuten belebte sie diese Hoffnung, daß sie aus der Nebelschicht herauskämen. Dann senkte sich von neuem ägyptische Finsternis über den Ozean. Wieder verging eine halbe Stunde, als sie plötzlich aufschreckten, da deutlich und klar das Heulen mächtiger Dampfsirenen zu ihnen drang. Sofort riefen die vom Bord des Depeschenbootes durch das Megafon:

»Wer dort?«

»Hier Baltic«, kam es zurück.

Wie elektrisiert brachte diese Antwort alle auf die Beine, dann klang es durch den Nebel:

»Wer seid ihr?«

»Depeschenboot Owlet!«

Nun begann ein Suchen der kleinen Dampfer nach dem großen Passagierschiff, und es währte fast eine Stunde, bis die Heraldboote sich an die riesigen Seitenwände des langsam fahrenden Dampfers manövriert hatten.

Jetzt erkannten sie, daß sie die ganze Zeit nur einige Meter Längen voneinander entfernt gewesen waren.

In dem Licht der Scheinwerfer konnte John Workmann oben an der Reling des haushohen Dampfers die geretteten Passagiere der ›Republic‹ sehen, die dort dicht gedrängt, Schulter an Schulter, standen, und auf die seltsamen Besucher auf hoher See herniederschauten.

Mister Thomson, der Führer der Journalisten, nahm das Megafon und rief:

»Ist Mister Conolly an Bord?«

»Ja, Sir, hier bin ich.«

»Haben Sie den Artikel geschrieben?«

»Ja, Sir.«

»Nehmen Sie einen Blechkasten, schließen Sie ihn hinein und werfen Sie ihn zu uns herunter.«

Dann wandte sich Mister Thomson an John Workmann:

»Junge, ich glaube, du kannst schwimmen! Ich werde dir ein Seil um den Leib geben, und sollte der Blechkasten in das Wasser fallen, so mußt du versuchen, ihn aufzufischen.«

Endlich erhielt John Workmann etwas zu tun. Er mußte im stillen die Vorsicht Mister Thomsons bewundern, denn das, was er gefürchtet, trat ein.

In dem unsicheren Licht war die herniedergeworfene Blechbüchse tatsächlich in das Wasser gefallen.

Kaum hörte John Workmann das Aufklatschen, als er mit einem mutigen Sprung in das kalte Wasser tauchte und die nur wenige Meter von ihm entfernt schwimmende Blechbüchse glücklich auffischte.

Unter dem Hurra der Heraldleute brachte er sie an Bord, und naß wie eine Katze beförderte man ihn mit der geretteten Erzählung über das Unglück der »Republic« in die Kapitänskajüte, hüllte ihn dort in warme Decken und brachte ihn zu Bett.

»Das hast du gut gemacht«, sagte Mister Thomson zu ihm, indem er den Kasten aufbrach.

Inzwischen hatten die übrigen Reporter die Passagiere an Bord der »Baltic« interviewt und von ihnen erfahren, daß der italienische Dampfer »Florida« die »Republic« gerammt habe und daß sie es gewesen, welche zuerst die Passagiere von Bord des sinkenden Dampfers gerettet hatte.

Die meisten hatten nur Zeit gehabt, ihre notwendigsten Kleidungsstücke zusammenzuraffen.

Was aus der »Republic« geworden war, wußte keiner. – Kapitän, Offiziere und Mannschaft waren an Bord geblieben. Die »Florida« aber selbst war auch bei dem Zusammenstoß leck geworden, und so hatte sie den ihr begegnenden Passagierdampfer »Baltic« um Hilfe angerufen und auf hoher See die Passagiere übergebootet.

Jetzt gab Mister Thomson seine weiteren Befehle:

Der kleine Dampfer, welcher die »Owlet« begleitete, sollte sofort nach Sandy Hook zurück und von dort aus durch einen bestellten Draht an die Herald Office den Bericht Conollys über das Unglück telegrafieren.

Während die »Owlet« sich weiter auf den Weg nach Nantucket begab, um, ohne Rücksicht auf Gefahr, Nachrichten über die sinkende »Republic« zu erhalten, nahm der kleine Dampfer seinen Weg nach Sandy Hook und gelangte trotz des Nebels morgens 6 Uhr dort an.

In der Zwischenzeit hatte die »Owlet« durch Funk sich mit Sandy Hook verbunden und einen Draht für die Nachrichten zum »New York Herald« freigemacht.

Es war 5 Minuten nach 6 Uhr, als der Telegraf die Geschichte Conollys zum Herald depeschierte, die dort sofort mit fieberhafter Tätigkeit bearbeitet wurde.

Es war 9 Uhr morgens, als der Herald als erste Zeitung Amerikas den ausführlichen Bericht Conollys über das Unglück veröffentlichte.

Damit hatte der Herald wieder den Rekord geschlagen.

Zu derselben Zeit hatte sich die »Owlet«, an deren Bord sich John Workmann befand, weiter durch das Nebelmeer gearbeitet. Und endlich – – 10 Uhr vormittags lichtete sich der Nebel, und wie durch einen Zauberschlag lag die grüne, schimmernde, weitlaufende Dünung des sonnenbeglänzten Ozeans vor ihnen.

Es war gegen Mittag, 1 Uhr, als sie auf den Sandbänken von Nantucket schwarze mächtige Punkte, welche wie riesige Seevögel aussahen, mit dem bloßen Auge entdeckten und dann durch ihre Ferngläser wahrnahmen, daß diese Punkte das Wrack der »Republic« waren, bei welcher bereits von der Küste Rettungsboote und andere Schiffe zur Hilfeleistung lagen.

Bald hatten sie die »Republic«, welche auf die Seite gekehrt, auf einer Sandbank lag, erreicht und sahen, daß sich die Matrosen damit abgaben, die Passagiergüter der »Republic« auf die zu Hilfe geeilten Frachtdampfer zu laden.

Besonderes Interesse aber zollten sie dem tapferen Funker der »Republic«.

Ihm war es zu verdanken, daß sofort nach dem Zusammenstoß die Küstenstation von Nantucket und die in der nächsten Nähe befindlichen Dampfer, wie die »Baltic«, den C. Q. D. erhielten, ein Zeichen, das in der Funksprache besagt: Schiff in Not.

Er war der einzige gewesen, der bei der eintretenden Panik nicht den Kopf verloren, sondern pflichtgetreu seinen Posten ausfüllte. Er war bis zum letzten Augenblick an seinem Apparat geblieben, und erst als das Wasser ihn davon verdrängte, mußte er flüchten.

Mit ihm an Bord kehrte die »Owlet« nach New York zurück, wo das Schiff am nächsten Tage in den Hafen einlief.

Die New Yorker standen in dichten Massen an der Batterie, um die tapferen Journalisten und den Helden der »Republic« zu empfangen.

Im Triumphzug wurden sie den Broadway hinauf zum Palast des Zeitungsriesen geführt. – Die Damen warfen ihnen Blumen zu, und besonders John Workmann, von dem es bereits im Herald veröffentlicht war, daß er durch einen Sprung in den Ozean den Bericht Conollys aufgefischt hatte, erregte die allgemeine Aufmerksamkeit.

Er war nächst dem Funker der »Republic« die am meisten bewunderte Persönlichkeit.

Mister Bennett aber ließ ihm für seine Arbeitstätigkeit auf dem Journalistenschiff fünfzig Dollar anweisen, und diese fünfzig Dollar waren es, die in John Workmann den Entschluß zu einer großen Tat reifen ließen.


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