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III

Trotz der Zerstreuung, die die Beschäftigung mit Jorgi Nieddu ihr bot, fing Mariana an, sich da oben, in dem windigen Dörfchen, zu langweilen, wie sie sich übrigens allenthalben langweilte, wo sie einige Zeit zubrachte. Die Obliegenheiten ihres Bruders, des Kommissars, währten bis Juni – aber so lange wollte sie nicht bleiben. Das schlechte Wetter trübte ihr das Vergnügen, ihren unglücklichen Schützling aufzuheitern; der Regen verdarb ihre Kleider, ihre Hüte und vor allem ihre Schuhe. Und gerade die Sorge für ihre Schuhe erhöhte ihre schlechte Laune: sie mußte sie sich selbst reinigen, denn die Magd Zia Giuseppa Fiores entblödete sich nicht, statt Schuhcrème und Bleiweiß Wichse, ja Schmiere anzuwenden! Und wenn sie sich die Schuhe putzte, verdarb sie sich ihre wie Dornen spitzen Nägel; also: sie mußte fort, den aus Halbdunkel, Poesie und Trauer, aus Mitleid und – Widerwillen gewobenen Traum abschütteln. Es war Zeit, die Kataloge der Grands Magazins du Louvre zu studieren und die schönen Kleider für den Sommer zu bestellen.

Mitunter, wenn sie am Bett des Kranken saß, und er sie betrachtete wie ein trübseliger und hungriger Dichter den Abendstern, versank sie in tiefes Nachdenken: sollte sie die Strümpfe von der Farbe des Kleides wählen – oder nicht? Wenn nun die Moda Illustrata sagte, man trüge jetzt violette Strümpfe? Nun, dann mußte sie eben violette bestellen und auch solche von der Farbe des Kleides … Und nachdem sie dieses Problem gelöst, ermunterte sie sich, lachte und sagte zu Jorgi: »Ich bin wohl recht oberflächlich, nicht wahr? Mitunter freilich kann ich vor Gewissensbissen nicht schlafen, wenn ich über diese Armseligkeiten nachgedacht, während ich doch weiß, daß es so viele Menschen auf der Welt gibt, die leiden; und am Morgen stehe ich auf, vergnügt wie ein Spatz, weil die Sendung aus Paris ankommen soll. Und wenn sie dann kommt, dann ist es mir, als käme ein Stückchen von der großen Stadt selbst … Wissen Sie, wie viele Schleier ich habe? Raten Sie!«

»Alle Schleier einer Oktoberdämmerung und einer Maimondnacht!«

»Ja,« entgegnete sie ernsthaft, »für den Strand braucht man so viele. Dieses Jahr gehen wir nach Viareggio; meine Schwägerin schreibt mir, daß sie schon Wohnung im Viale degli Oleandri für uns bestellt hat, einer ganz von blühenden Oleandern beschatteten Straße. Kennen Sie jene Verse von Gabriele d'Annunzio?«

Aber sein Gesicht hatte sich verdunkelt, und sie spürte etwas Kaltes an ihrem Herzen, wie man es in den ersten Herbsttagen verspürt. Leiser fuhr sie fort: »Aber wehe, wenn es regnet! Dann ist Viareggio bodenlos schmutzig, und der Pinienwald und die wie Vulkane dampfenden Berge kommen mir nicht anders vor wie die Heide in meiner lieben Heimat – und mir scheint, dann fehlen selbst die Krähen nicht.«

Um ihn zu trösten, malte sie sich selbst so trübe Bilder aus, und die schönen Orte, an die sie sonst mit Verlangen und Freude dachte, erschienen ihr melancholisch und ungastlich: Ja, sie mußte machen, daß sie fortkam, sonst würde sie schließlich auch krank werden, trotz der Waschungen und Desinfektionsmittel, die sie jedesmal anwandte, wenn sie von einem Besuch bei Jorgi nach Hause kam. Eines hielt sie noch hier: ihr fester Vorsatz, ihren Bruder zu dem Kranken zu führen. Aber der Kommissar war widerspenstig: er fürchtete, er könnte dadurch Anstoß erregen, etwas, das der absoluten Unparteilichkeit widersprach, die er sich vorgesetzt, als er es übernommen, die Angelegenheiten von Oronou mit seiner so empfindlichen Bevölkerung zu regeln. Die Schicksale Jorgis, die ihm Tag für Tag von Zia Giuseppa, von Mariana und allen ihren Bekannten vorgetragen und kommentiert wurden, rührten ihn nicht mehr, oder vielmehr hatten ihn nie gerührt: er pflegte darüber zu scherzen, und wenn seine Zeit es erlaubte, sich sogar damit zu amüsieren, die Frauen und Zia Giuseppa insbesondere dadurch zu reizen, daß er die Unschuld des unglücklichen Studenten in Zweifel zog. Den Besuchen Marianas bei dem Kranken widersetzte er sich nicht, weil er ohnehin wußte, daß das zwecklos sein würde; aber es war ihm nunmehr lieb, wenn sie abreiste, und damit eine Beziehung abgebrochen wurde, die für sie wertlos, für ihn verdrießlich war.

»Und wenn du nun fort bist, wird der Unglückliche unglücklicher sein als vorher,« sagte er zu Mariana, wenn sie bei Tisch zusammentrafen.

»Er wird nicht unglücklicher sein als vorher, denn er wird unter so vielen trüben Erinnerungen wenigstens eine freundliche haben und … eine Hoffnung.«

»Welche?«

Sie lächelte und blickte auf die üppige, braune Lia, die schweigend und völlig durchdrungen von heiligem Respekt für die hohe Würde des Kommissars den Tisch bediente. Und Lia stellte mit einer Hand nur eine Riesenschüssel mit einem Hammelbraten für zwanzig Personen auf den Tisch und dachte bei sich: sie wird ihn heiraten, wenn er gesund ist und Doktor wird; während der Kommissar, ohne die Antwort der Schwester abzuwarten, ärgerlich sagte: »Und auch heute kein Salat, Lia? Aber was für eine Gegend ist das: nicht einmal im Frühling habt Ihr Grünzeug?«

»Grünzeug gibt es schon, Missionoria, aber es paßt nicht für Euch, es ist für die Bauern.«

»Was denn? Zichoriensalat? Aber wenn ich dir doch tausendmal gesagt habe, daß ich ihn haben will! Geh und putze ihn und bringe ihn gleich!«

Als Lia hinausgegangen war, sagte Mariana: »Welche Hoffnung? Nun, daß ich wiederkomme.«

»Du? Ach ja, du wirst wiederkommen, wenn ich wieder hierherkomme, meine Liebe! Und an solche Orte geht man wie nach dem Gelobten Lande: einmal in seinem Leben!«

»Ich habe ja nicht gesagt, daß ich wieder hierherkommen würde; ich habe nur gesagt, daß er die Hoffnung behält, daß ich wiederkomme.«

»Und schließlich wird er sich noch in dich verlieben.«

»Das kann er nicht mehr, denn das hat er längst getan.«

»Und du glaubst Gutes zu tun?«

»Freilich! Leben wir nicht von Illusionen, mein Lieber? Wenn du ihm nun einen Besuch machst, wird das ganze Dorf anfangen ihn zu verehren; er wird seinen guten Ruf wiedererlangen und vielleicht genesen. Das wollte ich.«

»Ich gehe aber nicht hin; ich habe Verdruß genug.«

»Du wirst nicht nur hingehen, sondern ihm auch eine monatliche Unterstützung von der Gemeinde verschaffen.«

»Du wirst närrisch, meine Liebe! Höre, es ist wirklich besser, du reisest ab.«

»Ich reise nicht eher, als bis du ihn besuchst hast …«

»Na, Lia, und der Salat?«

Lia kam herein, rund und doch beweglich, mit einer Schüssel voll schwärzlichem Grünzeug und die Ölflasche an den vollen Busen gedrückt; ihr dunkles, feines Gesicht hatte eine würdevolle Miene angenommen.

»Meine Herrin will nicht, daß Missignoria dieses Kraut ißt.«

»Sag' ihr, daß auch Jesus sich in der Wüste mit dem begnügte, was er hatte.«

»Kommst du heute mit, Mariano? Tu's, dann kann ich ruhig abreisen. Ich reise morgen, wenn du heute mitkommst.«

»Aber nicht im Traum! Vielleicht kurz bevor ich selbst abreise, aber jetzt nicht. Ich will keine Unannehmlichkeiten haben.«

* * *

Mariana kam in Begleitung Priester Defrajas, der Jorgi zu einem vertrauten Freunde geworden war. Noch bevor sie den Kranken begrüßte, tat sie ihren Hut ab, legte ihn auf die Truhe, nahm dem Priester seinen kleinen, glänzenden Dreispitz aus der Hand und setzte ihn sich auf. »Ecco, das ist die rechte Form für mich. Vielleicht müßte nur der Rand hier noch ein wenig höher aufgeschlagen sein.«

Ihr Spiegelchen in der Hand, hob sie mit der andern bald diese, bald jene Seite des Hutes, während der Priester ihr zusah und seine farblosen Augen ungewöhnlich glänzten.

»Aber Sie verderben ihn mir, Signorina!«

»Das tut nichts. Sie haben mehr Geld als ich. Ja, Sie werden mir diesen Hut schenken, weil er mir wirklich gut steht, nicht wahr, Signor Giorgio?«

Noch matt von der Fiebernacht folgte Jorgi mit trübem Blick dem auf den Wänden umhertanzenden Reflex des Spiegels. Er mußte an Columba denken und meinte noch ihre ernste, gebeugte Gestalt vor sich zu sehen, wie sie ihn um Verzeihung, um Liebe anflehte. Ach, welch ein Unterschied zwischen den beiden: die eine dunkel und geheimnisvoll wie die Nacht – die andere hell und heiter wie der Tag: er sah sie an und fühlte seine Leiden schwinden.

»Endlich haben wir wieder schönes Wetter,« sagte der Priester, sich mit der weißen Hand über das gelbe Haar streichend. »Aber jetzt wird es wohl gleich heiß werden, und sie sagen, das sei hier kein Spaß.«

»Aber wenn es in Ihrem Hause so kühl ist wie in den Alpen!« sagte Jorgi, sich ermunternd. »Und oben auf dem Platze ist es immer frisch, und von der Bank in der Ecke sieht man das Meer! Ach, wie gern saß ich da oben! Stunden und Stunden habe ich dort verbracht.«

»Ja, es ist schön, aber auch recht weit, jenes Meer …«

»Ich liebe das Meer so aus der Ferne,« sagte Mariana, tat den Spiegel wieder in ihr Täschchen und reichte dem Priester seinen Dreispitz. »Ach, Ihr Hut gefällt mir nicht mehr, und obendrein bringt er Unglück. Behalten Sie ihn nur, ich will ihn nicht!«

»Ich hatte ihn Ihnen auch nicht geschenkt, Signorina!«

»Wenn ich ihn wollte, würden Sie ihn mir schenken.«

»Aber nicht im Traum!«

»Das hat mir heute schon ein anderer in einer anderen Sache gesagt,« erwiderte sie, dem Priester in die Augen sehend, mit Nachdruck; »und statt dessen gibt er nun nach und wird tun, was ich will!«

»Wer? Wer?« fragten die beiden Männer gleichzeitig; sie errieten, daß sie ihren Bruder meinte, und Jorgi wurde rot vor Aufregung. Ach, wenn der Kommissar sich entschloß ihn zu besuchen, dann war seine Revanche vollständig.

Doch Mariana sagte nichts weiter. Sie entnahm einem Paket, das sie mitgebracht, ein dickes Buch und zeigte den beiden von weitem den Titel: der Priester bedeckte sich die Augen mit der Hand, und sie lachte.

»Macht Ihnen das so bange? Nun, Sie haben recht! Es ist ein Buch von Leben und Tod, und beide sind furchtbar! Aber Signor Giorgio wird es mit Vergnügen lesen, denn er fürchtet sich weder vor dem einen noch vor dem andern.«

»Geben Sie!« bat Jorgi und streckte die Hand aus, während der Priester den Kopf schüttelte und die Lippen bewegte, als murmelte er eine Beschwörung.

Mariana steckte Jorgi das Buch unter das Kopfkissen: es war Forse che si forse che no.

»Ich habe den Herzogspalast zu Mantua vor fünf Jahren besucht. Ja, wahrhaftig, es sind schon fünf Jahre! Sie meinen, ich wäre noch jung? Ich bin alt, Priester Defraja, sonst würde ich einem so gefährlichen Menschen wie Sie nicht erlauben, mich zu begleiten! Ja, ich sehe noch den Saal del Paradiso vor mir, aus dessen Fenstertüren man auf den melancholischen See sieht; es war im Herbst: über dem gelben Röhricht stiegen kleine, rote Wolken auf, die mir wie Flamingos erschienen, die schönen, scharlachroten, der Sonne geheiligten Flamingos … Und dann erinnere ich mich des Speisesaals mit den die großen Ströme darstellenden Bildern von binsengekrönten Greisen … und der Spiegelgalerie, und des Bettes Napoleons, das nicht anders aussah als so viele andere Betten kleiner, unbekannter Menschen, und des Zimmers der Kaiserin mit dem gemalten Schleier auf den Wänden; und der Gemächer Isabellas mit ihrem Bild auf dem Türrahmen … Aber der Palazzo del Te hat mir noch mehr Eindruck gemacht als der Palazzo ducale: er ist noch verlassener, noch trauriger, aber so feierlich in seiner Trauer. Er geht auf einen verwilderten Garten mit einem leeren Wasserbecken, über dem etwas Schauerliches liegt, etwas, das noch schauerlicher ist als totes Wasser … aber voller Erinnerungen. Im Hintergrund ist eine Grotte mit Stalaktiten, die keinen Glanz mehr haben, mit einer Fontäne, aus der kein Wasser mehr sprudelt. Und auf den Wänden der Säle im Palast ungeheure Pferde und Riesen, die denselben gutmütigen Ausdruck haben wie die Mantovaner von heute, dieselben roten Gesichter, hellen Augen, rötlichen Haare, dicken Lippen und Grübchen im Kinn; sie recken ihre Glieder in einem Kampf, der seit Jahrhunderten währt und noch immer ebenso großartig wie nichtig ist …«

»Signorina,« fragte der Priester, »warum schreiben Sie nicht?«

»Ja, schön! Einmal habe ich eine Novelle geschrieben, und man hat sie sogleich gedruckt und … kritisiert: den Erfolg hatte ich. Sie sagten, meine Novelle sei niederdrückend, das heißt schlimmer noch als unmoralisch! Wie war sie wohl? … Wer weiß es noch?«

»Und warum fahren Sie nicht fort?« fragte Jorgi.

»Das Fräulein ist auch eine tüchtige Malerin,« sagte der Priester; »aber malen mag sie auch nicht … also …«

»Wozu, Prete Defrà?« fragte sie. »All unser Kämpfen ist wie die Gigantenschlacht auf den Fresken im Palazzo del Te … Da ist es schon besser, nichts zu tun, besser, stillzuliegen wie unser Jorgi Nieddu: er allein ist der Starke! Wir rühren uns, schwärmen wie Schmetterlinge um das Licht und fallen herunter mit verbrannten Flügeln …«

»Ihre Worte sind ebenso niederdrückend wie Ihre Novelle,« sagte Jorgi trübe. »Und ich weiß auch, warum Sie so sprechen: weil Sie fort wollen!«

Da schlug sie schnell ein anderes Thema an: »Wissen Sie, wen ich gesehen habe? Den Doktor, der zur Jagd ging. Jeden Augenblick sah er sich um, und ich schmeichelte mir, er täte es meinetwegen – aber da sah ich seine Margherita daherkommen. Und hören Sie: ich habe etwas sehr Merkwürdiges beobachtet. Der Doktor ist doch häßlich, nicht wahr? Er ist der häßlichste Mann im Dorfe: nun, wenn er bei dem Mädchen steht, dann wird er ordentlich schön, seine Augen leuchten, und sein Gesicht sieht ganz sanft aus … Und doch erzählt man bei Zia Giuseppa ein wunderliches Faktum: der Doktor sucht einen Mann für Margherita, weil er fürchtet, er könnte sie sonst selbst heiraten!«

Dann griff Mariana wieder in ihr Paket, weil ihr einfiel, daß sie Jorgi noch etwas anderes geben wollte.

»Sie müssen mir aber versprechen, es niemand zu zeigen, auch Priester Defraja nicht. Drehen Sie sich einmal um, Sie sollen es nicht sehen!«

Sie reichte dem Kranken einen Umschlag, und er zog ihre Photographie heraus: Mit hellen Lichtern hoben ihre Haare sich von einem dunklen Hintergrunde ab; eine sardische Kette aus gebräuntem Silber, zusammengesetzt aus Rosetten und Symbolen: dem Fisch, der Taube, dem Schwert und dem Reiter, umgab den bloßen Hals; und der Mund lächelte, kindlich und gütig, während die Augen traurig, fast drohend blickten.

Der Priester bückte sich, um zu sehen, was es war. »Das sind Sie ja wahrhaftig selbst: der Teufel als Engel verkleidet!«

Beinahe gekränkt barg Jorgi das liebe Bild in beiden Händen und betrachtete es ganz versunken, bis Priester Defraja, der unterdes mit Mariana herumgestritten, sich entschloß zu gehen.

Da blickte er auf und sagte zu ihr: »Danke! Wenn Sie nun auch fortgehen, werde ich ruhiger sein …« Und mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Wissen Sie, diese Nacht war Columba hier …«

Er glaubte, Mariana würde sich wundern und wohl gar eifersüchtig werden; sie setzte sich jedoch ruhig neben ihn und bat, ihr das zu erzählen.

»Ich wußte, daß es so kommen würde,« sagte sie, als er geendet. »Und was nun tun? Wie den andern loswerden?«

»Aber warum ihn loswerden?« entgegnete Jorgi ärgerlich. »Ich liebe Columba nicht mehr! Ich glaubte sie zu hassen, aber ich habe erkannt, daß ich sie nicht einmal hasse; sie flößt mir nur Mitleid ein.«

Mariana ward nachdenklich. Dann aber ermunterte sie sich und verkündete ihm in ihrer gewohnten heiteren Art, daß ihr Bruder, auch von Priester Defraja darum gebeten, sich endlich entschlossen habe, ihn zu besuchen. Doch während Jorgi sich über diese Nachricht freute, fing sie wieder an zu philosophieren.

»Wer weiß!« sagte sie, die Wange an den Knopf ihres Sonnenschirms gelegt … Sie liegen da, Signor Giorgio, als Opfer Ihrer Leidenschaft für jenes Mädchen, und jetzt … jetzt sagen Sie, es läge Ihnen nichts mehr an ihr? Warum? Warum verflüchtigen sich unsere Leidenschaften wie Dunst? Und das schlimmste ist, daß immer neue aufleben, aufsteigen, gerade wie die Dünste in der Luft! Und so werden Sie auch mich vergessen! Sie werden genesen, aufstehen, wieder lieben und hassen: und eines schönen Tages werden Sie unter Ihren Papieren eine vergilbte Photographie finden und sagen: ach, das ist das Bild des leichtfertigen Fräuleins, das einmal in mein Dorf gekommen war!«

»Treiben Sie keinen Scherz mit mir! Ich bin weder der Doktor noch der Priester!«

Aber sie redete im Ernst, von einem Gefühl unsagbarer Trauer bewegt. »Ich sage Ihnen, es ist so! Sie werden sehen.«

»Aber halten Sie das nur für möglich?« entgegnete er und tastete unter seinem Kissen nach dem Etui mit der Feder, das sie ihm geschenkt. »Ich werde nicht genesen … ich fühle es … aber daran liegt nichts, ich verzweifle nicht darum. Und wissen Sie, weshalb? Weil ich glücklich bin, daß ich hier so still liegen darf – schon begraben – und an Sie denken, nur an Sie! Ja, unsere Leidenschaften mögen sich wie Dunst verflüchtigen – nicht so unsere tiefen und wahren Gefühle: sie sind die Äste, nicht das Laubwerk am Baum unseres Lebens, und bricht einer von ihnen, dann ist der Baum verstümmelt … Mir ging es so schlecht, bevor Sie kamen, weil ich niemanden liebte, mit niemand Mitgefühl hatte, nicht einmal mit mir selbst. Das war die eigentliche Krankheit, die mich lähmte. Der Stolz allein hielt mich noch aufrecht, aber ich fühlte auch den schwinden, und der Tod regte schon die Flügel um mich her. Aber da kamen Sie, Mariana, Sie, die das Leben ist, und vertrieben das düstere Gespenst. Wie könnte ich Sie vergessen? Nur wenn man Ihnen sagen wird: Giorgio ist tot, nur dann dürfen Sie so sprechen wie Sie es vorhin getan …«

Er schrieb einige Worte auf den Rand der Photographie und fuhr fort: »Wenn Sie nun abreisen wollen, so reisen Sie nur. Gehen Sie, amüsieren Sie sich, leben Sie! Ich fürchte mich jetzt nicht mehr, allein zu bleiben, weil Sie mir versprochen haben, sich meiner zu erinnern. In dieser Hoffnung werde ich weiterleben …«

Er hielt das Bild in die Höhe, und Mariana las auf dem weißen Rand:

 

Nessuno ti amerà dell'amor mio.

 

Und sie wußte nicht weshalb, aber sie, die gesund und glücklich war, die in der Welt umherschweifen konnte, froh und leicht wie die Lerche zum Himmel aufsteigt: sie fühlte sich unglücklicher als ihr armer kranker Freund.

* * *

Später kam der Priester noch einmal wieder.

»Wenn das Mädchen da ist, ist es ja unmöglich zu sprechen,« sagte er, setzte sich ganz nahe zu Jorgi und drückte ihm die Hand. »Sie läßt ja niemand in Frieden, und überdies, wenn sie da ist, hast du keinen Sinn für anderes. Ich muß etwas Ernstes mit dir besprechen.«

Jorgi dachte, er meinte Columbas Besuch und ihren Streit mit dem Großvater; doch Priester Defraja strich sich wieder und wieder über das Haar wie stets, wenn er sehr in Gedanken war, und deutete an, es sei eine weit ernstere Angelegenheit.

»Du hast mir des öfteren von deinem Verdacht gegen Dionisi Oro gesprochen. Um ihn handelt es sich. Du hast ihn nie mehr gesehen?«

»Nein, warum?«

Da der Priester nicht gleich antwortete, wurde Jorgi unruhig. »Es ist keine bloße Vermutung,« sagte er, »sondern meine Überzeugung. Warum ist er seit jenem Tage verschwunden, nachdem er die ganze letzte Zeit so oft gekommen war, von Gewissensbissen oder von Angst getrieben. Und als ich ihm sagte, ich hätte geträumt, er wäre der Dieb, da nahm er eine drohende Haltung an. Was würde er gesagt oder gar getan haben, wäre Mariana nicht in dem Augenblick gekommen? Würde er seine Schuld bekannt oder mich erwürgt haben? Das weiß ich nicht; aber ich bin gewiß, daß er der Schuldige ist, und manchmal fürchte ich, er könnte wiederkommen …«

»Nun, höre, wenn er wirklich der Schuldige wäre, was würdest du tun?«

»Das weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall wäre es nicht meine Sache, ihn anzuzeigen, sondern Sache des Bestohlenen.«

»Höre, Jorgi,« sagte der Priester, preßte sein Hand und beugte sich tief auf ihn herab, »Dionisi ist wirklich der Schuldige. Und nun müssen wir sehen, was zu tun ist.«

»Ah,« seufzte Jorgi, wie von einem Alp befreit, und sein erster Gedanke galt Mariana. Jetzt stand er also rein und fleckenlos vor ihr da: ihrer würdig!

»Wie haben Sie das erfahren? Erzählen Sie, Defraja!«

»Als ich gestern von der Frühmesse kam, trat Junassiu Arras zu mir und bat mich, mit in seine Schäferei zu kommen, um einem schwerkranken Hirten die Beichte abzunehmen. Ich habe Pferde bereit, sagte er, wenn Sie gleich mitkommen wollen. Wir stiegen sogleich auf, und unterwegs – seine Schäferei befindet sich unweit des Kirchleins del Buon Consiglio – sprach er beständig von dir: ›Jorgi hat mich sogar in meiner wilden Einsamkeit aufgesucht, sagte er, mich immer in Schutz genommen und vielleicht sich selbst dadurch geschadet; aber ich bin kein Undankbarer, ich werde für ihn tun, was weder Giuseppa Fiore noch die Schwester des Kommissars vermögen. Und endlich sagte er: Priester Defraja, ich muß Ihnen eines sagen, der Mann, dem Sie die Beichte abnehmen wollen, ist der Dieb, der Remundu Corbu sein Geld gestohlen hat. – Wer denn? fragte ich. – Zuerst wollte er nicht mit der Sprache heraus, dann aber sagte er, es sei Dionisi Oro. Jorgeddu hatte mir von seinem Verdacht gesprochen, fügte er hinzu, und als ich erfuhr, daß Dionisi verschwunden war, begab ich mich auf die Suche nach ihm. Ich fand ihn in der Kirche des heiligen Franziskus, an dessen Fest, und fing an, ihn mit Fragen zu bedrängen. Er leugnete, stellte sich tauber, als er ist, aber er hatte Angst; und auf einmal entwischte er mir und verschwand. Ich erfuhr indes, daß er mitunter in einer nahegelegenen Schäferei vorsprach, und spürte ihn dort auf. Als er mich sah, war er bestürzt und versuchte nochmals sich davonzumachen; aber unter Drohungen zwang ich ihn, mit in meine Schäferei zu kommen; dort band ich ihn wie einen Hund und sagte ihm, wenn er nicht gestände, würde ich die Karabinieri holen. Zwei Tage lang verhielt er sich stumm; dann geriet er in Wut, stöhnte, schlug sich den Kopf mit den Fäusten und sagte endlich, er wolle den Priester, und nur ihm werde er alles bekennen. Und darum habe ich Sie gerufen!

Nun, wir kamen also in die Schäferei – bei dem Unwetter gestern! Dionisi lag am Boden, noch immer gebunden. Ich hieß Zio Arras ihn losbinden und tadelte ihn, daß er ihm so zugesetzt. Aber der Alte entgegnete laut: ›Die Todsünde ist's, die ihn so heruntergebracht hat, nicht ich!‹ Da fing Dionisi an zu zittern und sagte mir, er wolle beichten. Und nach der Beichte erzählte er mir, jede Nacht sähe er den heiligen Franziskus, der ihm geböte, das unrechte Gut zurückzugeben. Um den Heiligen zu beschwichtigen, habe er die gestohlene Geldkasse bei der Umfassungsmauer von San Francesco vergraben. ›Und was wolltet Ihr damals bei Giorgio Nieddu?‹ fragte ich ihn. ›Wolltet Ihr ihm die Tat gestehen?‹ Er überlegte eine Weile, dann erwiderte er – vielleicht durch meine Frage beeinflußt – ›ja!‹ ›Unglücklicher,‹ sagte ich, ›wißt Ihr auch, was Ihr ihm angetan habt? Ihr werdet jetzt das unrechte Gut zurückgeben und für ein paar Jahre ins Gefängnis kommen – wie aber wollt Ihr den Kummer, die Unehre, die Krankheit und all den Schaden abbüßen, die Ihr Jorgeddu zugefügt habt?‹ Er antwortete nicht: was hätte er auch sagen können? Und dann kam der alte Arras herbei, und auch vor ihm bekannte er, daß er das Geld gestohlen, und gab genau an, wo er es verborgen hatte.«

Jorgi sagte: »Dann müssen Sie zu Zio Remundu gehen und die Sache ihm anheimgeben. Aber ich muß noch einen ernsten Umstand erwähnen: diese Nacht war Columba hier – wußte sie schon von Dionisis Geständnis?«

»Nein, niemand hat bis jetzt davon erfahren. So, sie war hier? Erzähle mir das!«

Und nachdem Jorgi den Vorgang erzählt, den der Priester mit tiefer Bewegung vernahm, sagte dieser: »Ja, Jorgi, das ist freilich ernst! Wenn Sie jetzt die Sache mit Dionisi erfährt, dann ist sie imstande, einen Skandal zu machen und die Heirat aufzugeben.« »Und das will ich nicht!« sagte Jorgi bestimmt. »Alles kann ich ertragen, nur ihre Liebe nicht: ich liebe sie nicht mehr und habe sie vielleicht nie geliebt. Ich bemitleide sie, aber ich glaube, ihr einziges Heil ist die Heirat mit dem Witwer. Wenn sie fortgeht, werden wir beide ruhiger dahinleben.«

»Also was tun?«

»Schweigen, bis sie verheiratet und fortgezogen ist.«

Der Priester fand Jorgis Ansicht nicht richtig. »Wenn die Entdeckung des wahren Schuldigen Columba notwendig großen Schmerz bereiten muß, so ist es besser, das geschieht vor als nach der Hochzeit. Wir würden den Anschein haben, als wollten wir uns zu Werkzeugen ihrer Strafe machen, und das dürfen wir nicht.«

»Nun, dann stelle ich die Sache Ihnen anheim,« sagte Jorgi müde. »Aber daß Columba nur nicht wieder herkommt! Ich kenne sie: jetzt treibt sie die Eifersucht wie ihre Gewissensbisse; sie würde sich und mich quälen, und das ist unnütz, ganz unnütz! Denn eher kann ein Toter aus seinem Grabe erstehen als eine Liebe wieder aufleben, die der Haß ausgelöscht, und … an deren Stelle eine andere Liebe getreten ist.«

Da ging der Priester. Er stieg zu dem kleinen Platz bei der Kirche hinauf und wanderte dort auf und ab, unruhig, ja bestürzt. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen wie von einer plötzlichen Erinnerung angerufen. Auch er hatte seinen Roman gehabt: Eine hatte ihn geliebt und betrogen und war wieder zu ihm zurückgekehrt, als eine andere Liebe – größer als alle irdischen Leidenschaften: die Liebe zu Gott – seine Seele schon von der kleinen Liebe zum Weibe freigemacht hatte. Doch wenn auch die Seele stark ist, das Fleisch ist schwach, und um sich vor den Nachstellungen jener Frau zu retten, war er fortgegangen, hatte sich in dieses kleine Bergdorf geflüchtet, wie ein Einsiedler in die Wüste zieht.

Der unglückliche Jorgi aber konnte nicht flüchten! Wie also ihm helfen? Und die Seele des Priesters schwankte zwischen Jorgi und Columba; er fühlte Mitleid mit beiden, aber die Waagschale neigte sich nach der Seite Jorgis, und nach mehreren Tagen des Schwankens und der Erwägungen beschloß er zu tun, wie Jorgi wollte.


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