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Dritter Teil


I

Sie müssen wissen,« begann Mariana, daß ich ein sehr romantisches Mädchen bin und das Abenteuerliche über alles liebe: vielleicht ist mir gerade deshalb nie etwas Außerordentliches begegnet. Ich liebe den Wechsel und werde der Orte und Dinge, die ich sehe, bald müde. Mein Vater war ein Industrieller und fortwährend auf Reisen; er starb, als ich noch ein Kind war. Meine Mutter hingegen hat nie unser Dörfchen verlassen, das wenig größer als dieses ist; sie ist eine Frau wie die der Bibel: stark und rührig, tätig und verständig; sie verwaltet das Vermögen der Familie, und ihr verdanken meine Brüder ihre Erziehung und ihre Tüchtigkeit. Meine einzige Schwester ist mit einem Adligen aus unserer Gegend verheiratet und meiner Mutter sehr ähnlich; sie ist sparsam, eine gute Hausfrau, und ihr größtes Vergnügen ist, die ländlichen Feste zu besuchen oder die in den kleinen Städten, und mit ihr war ich auch voriges Jahr in Nuoro. Ich dagegen habe sehr viel gereist. Von meinen Brüdern ist der eine Abteilungschef im Ministerium des Innern, der zweite ist Artilleriehauptmann und hat eine reiche, elegante Frau, und der dritte, Giovanni Maria, ist der hier: sie sind alle intelligent und arbeitsam und haben mich sehr gern; und so teile ich etwas ihr Leben, bin heute hier in Ihrer Einsiedelei, Signor Giorgio, morgen in Rom, in Porto d'Anzio oder Viareggio, und im Herbst wieder in unserm feuchten, von Sümpfen und Röhricht umgebenen Dorf, mit seinen fast ständig bleifarbenen, nur von Wasserhühnern und andern Strichvögeln gefurchten Horizont. Dort berausche ich mich dann an Langerweile und Melancholie. Unser Haus ist ein früheres Kloster; davor erstreckt sich eine steinige, öde, endlose Ebene voller Sümpfe, und in der Ferne ist das Meer. Wolken und Krähen, Signor Giorgio, soviel ich ihrer nur mag! Dies hier ist im Vergleich ein lebhafter Ort, gleichsam die Schweiz zur Zeit der Höhlenbewohner – oder wenigstens vor der Zeit der Hoteliers. Unser Haus ist sehr groß, aber so leer wie ein Bienenstock, aus dem die Bienen ausgeflogen sind; meine Brüder sind einer nach dem andern hinausgezogen, wie es fast alle begabten jungen Leute der Gegend tun; dann und wann kommen sie wohl mit ihren Frauen und Kindern zum Besuch, und meine Mutter hält das Haus immer zu ihrem Empfang bereit. Ich werde Ihnen mitunter von dort schreiben, Signor Giorgio! Aber auch von Rom aus, zweifeln Sie nicht daran. Um unser Haus ist ein riesiger Gemüsegarten, und ich amüsiere mich damit, den Blumengarten zu bestellen. Vor drei Jahren habe ich einen Granatbaum gepflanzt, der jetzt schon Früchte trägt, und einen wilden Oleander habe ich so gut gepflegt, daß er jetzt gefüllte Blüten hat, so schön wie Rosen. Neben uns wohnt ein merkwürdiger alter Mann, ein Zauberer, der mich um meinen Oleander so beneidete, daß er ihn durch Beschwörung zum Absterben bringen wollte; und da ich darüber lachte, drang er nachts in unsern Garten ein, riß meinen Oleander aus und pflanzte mir einen wilden hin! Aber ich schickte gleich einen Knecht nach dem kleinen Besitztum des Zauberers hinüber, und er fand meinen Oleander in einem verborgenen Winkel eingepflanzt! So verbringt man das Leben auf dem Dorfe. Wenn ich nicht im Garten arbeite, lese ich die Zeitungen und Zeitschriften, die meine Brüder mir schicken, oder ich mache Besuche, oder ich helfe meiner Mutter. Aber Sie werden denken: was erzählt diese Närrin mir nur?«

Jorgi lauschte, wie von einer fernen Musik gewiegt, und es war ihm, als wäre er wieder ein Kind, vor der traurigen Zeit der Stiefmutter, als noch sein Großvater ihm Geschichten erzählte; und er bat: »Erzählen Sie weiter, Signorina!«

»In unserm Dorfe habe ich einen ganzen Schwärm von Verehrern, lauter kleine Schlingel natürlich, Nichtstuer, Studentlein, den Barbier, den Postboten, auch einige Arbeiter, alle ganz jung, so sechzehn bis neunzehn. Nachher sehe ich sie nicht mehr an …«

»Vorher wohl?«

»Das heißt … dann sehen sie mich nicht mehr an! Wenn sie neunzehn sind, begreifen sie schon, daß nichts zu hoffen ist; sie werden vernünftig, das ist alles! Aber die Burschen von sechzehn bis neunzehn sind hinter mir her wie bezaubert: für sie bin ich die, die aus fernen Ländern kommt, wo alles groß und schön ist. Sie verehren in mir die Welt, die sie erträumen; Rom, die eleganten Seebäder, das was sie sich als das Leben der Großen dieser Erde vorstellen. Mir machen ihre Illusionen Spaß, während meine Mutter und Schwester und Schwager mich darum schelten, und ich im ganzen Dorf als eine schreckliche Kokette gelte. Und das ist mir sehr lieb, denn ich möchte nicht, daß es den ernsten Männern dort, den Adligen, die noch hinter dem Pflug gehen, oder den reichen Herdenbesitzern in den Sinn käme, mich heiraten zu wollen. Nein, Signor Giorgio, lieber sterben als heiraten, lieber zweimal sterben als mich in jenem Dorfe verheiraten und mein ganzes Leben lang dortbleiben!«

Jorgi lachte leise, leise: wie ihre Worte ihn amüsierten! »Aber so eine kleine Liebelei haben Sie mitunter doch wohl gehabt?«

»Versteht sich! Warum sollte ich es leugnen! Der erste war ein schöner, blasser, ja grüner Junge, so dünn wie ein Blumenstengel … aber jetzt ist er tot: reden wir nicht mehr von ihm! Auch verlobt war ich einmal: er war ein kleiner Bezirksarzt, den man mir als einen großen Geist gerühmt hatte. Eines Abends kam er zu uns, als Besuch da war, und tat den Mund nicht auf; ich meinte, er schwiege aus Hochmut oder um sich ein Ansehen zu geben – doch er kam wiederholt, wir waren auch allein: es war kein Wort aus ihm herauszubringen! Er lächelte höchstens, und wenn er gerührt war, zitterte er … Nun, auch er ist tot …«

»Alle tot, Signorina?«

»Schlimmer als tot: vergessen!« sagte Mariana und hielt sich das Taschentuch vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen. Sie war jetzt selbst müde und wünschte, es möchte jemand kommen, damit sie gehen könnte.

Und die Sonne ging unter, und sie saß noch immer da, schwankend zwischen dem Verlangen zu gehen und dem Mitleid, der Gewißheit, daß ihre Anwesenheit dem Kranken unaussprechlich wohl tat.

Vielleicht wird er bald sterben! dachte sie, während ich noch lange leben kann, vielleicht vierzig, vielleicht fünfzig Jahre noch …

Warum sollte sie von diesem halben Jahrhundert nicht ihm ein paar Stunden opfern?

Dennoch verspürte sie ein Gefühl der Erleichterung, als auf dem Hofe ein schwerer Schritt und das Aufstoßen eines Stockes laut wurde: und der Doktor trat ein in seinem Sommeranzug – denn für ihn gab es keine Übergangssaison –, in weiten weißen Beinkleidern, schwarzer Alpakajacke und Strohhut mit dreifarbigem Band. Er sah darin jünger aus, und seine Augen erschienen wahrhaft frühlingsmäßig blau.

Mariana war aufgestanden, um ihm ihren Platz einzuräumen. Er hatte sie gar nicht angesehen, aber während er Jorgi den Puls fühlte, kehrte er sich plötzlich nach ihr um und schrie, auf den Schemel deutend: »Zum Teufel, Signorina, setzen Sie sich doch wieder hin!«

»Danke, ich muß doch gehen …«

»Wie? Sie gehen schon?« rief Jorgi erschrocken. Und der Doktor ergriff den Schemel und trug ihn ihr hin.

»Bitte, setzen Sie sich wieder, bestes Fräulein! Ihre Gegenwart ist das einzige Heilmittel für meinen Patienten, der übrigens ein Halunke ist, lassen Sie sich das gesagt sein! Seine ganze Krankheit ist Verstellung, und dieser Tage werden wir es erleben, daß er aufsteht und spazieren geht. Aber setzen Sie sich wieder hin; oder möchten Sie noch wachsen?«

»Und ob!« sagte Mariana, setzte sich auf die Truhe und brachte ihre kleinen blanken Schuhe zur Geltung. »Das ist etwas, das die Wissenschaft noch erfinden müßte; wie viele könnte sie damit glücklich machen!«

»Wenn alle groß wären, würden Sie das Gegenteil wollen.«

»Gewiß nicht! Schopenhauer …«

»Ach, lassen Sie mich mit Schopenhauer in Ruhe!«

»Aber ich wollte nur sagen, daß er sich irrt, wenn er behauptet, große Frauen gefielen den Männern von kleinem Wuchs: sie gefallen den kleinen und den großen, während kleine Frauen …«

»Den großen und auch den kleinen Männern gefallen, wenn sie so hübsch sind wie Sie!«

Er lachte befriedigt über seine Galanterie, und Mariana verschmähte es nicht, weiter mit ihm zu diskutieren; sie wurde ganz lebhaft und erschien so kokett, daß Jorgi, der diese Art an ihr noch nicht kannte, Eifersucht empfand. Es war ihm, als hätten die beiden ihn vergessen; und er schloß traurig und müde die Augen und sah Petru auf sich zukommen und sich über das Bett beugen: »Wenn sie nach der Kaffeekanne fragt, so sage, du hättest sie zum Klempner gebracht …«

Auf einmal aber schrie der Doktor: »Sie haben wahrhaftig recht!« und tat einen so furchtbaren Schlag gegen das Fußende des Bettes, daß Jorgi erschrocken auffuhr. Er öffnete die Augen und sah Mariana ganz weiß auf der dunkeln Truhe sitzen; sie lachte, schüttelte den Kopf und beugte sich vornüber, daß ihr Hutrand die Knie berührte. Wie lustig sie war! Sie war wirklich die Personifikation der Fröhlichkeit und der Jugend: kein Wunder, daß die jungen Leute in ihrem Dorfe hinter ihr herliefen wie bezaubert. Und er, er lag da wie ein vom großen Baum des Lebens abgefallenes Blatt, das langsam vermodert und zu der stummen Muttererde zurückkehrt: für ihn gab es nichts mehr, weder Windesrauschen noch Sonnenlichter, nur, von Zeit zu Zeit, einen Widerhall vom Leben in der Ferne, Wolkenschatten und verhaßten Krähenruf … Warum war sie gekommen? Er war glücklicher vorher, als er sie noch nicht kannte.

»Kommen Sie mit, Fräulein?« sagte der Doktor endlich; »ich begleite Sie!«

Aber sie blieb, und kaum war der Doktor gegangen, so trat sie wieder an das Bett und beugte sich über den Kranken, der sie mit traurigem und liebevollem Blick ansah.

»Armer Signor Giorgio, wir haben Sie ermüdet, nicht wahr? Was für ein Original ist Ihr Doktor!«

»Ein Narr ist er! Er ist in seine Magd verliebt und spielt auch noch bei andern den Liebenswürdigen …«

Mariana lachte wieder. Aber als sie dann sagte: »Morgen komme ich wieder, wenn es Ihnen nicht zuviel ist!« und er mit einem Schluchzen in der Stimme erwiderte: »Kommen Sie immer, immer, wann Sie wollen … Sie sind jetzt alles für mich … mein ganzes Leben!« da erblaßte sie; und während im Hofe der leichte Schritt Petrus erklang, beugte sie sich noch tiefer über den Kranken und küßte ihn auf die Stirn.

Das sah Petru, und eine Stunde später erzählte er Columba, sobald sein Herr wieder gesund sei, werde er die Schwester des Kommissars heiraten.


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