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V

Als Petru wieder eintrat, las sein Herr noch immer die geheimnisvollen Briefchen; aber damit sein kleiner Diener es nicht sehe, schob er sie schnell zwischen die Blätter seines Büchleins und fing an in den Psalmen zu lesen.

Etwas Ungewohntes machte das Zimmer weniger traurig als sonst. Der aus dem Kistchen aufsteigende Duft der kandierten Früchte und der vom Abhang herüberwehende Frühlingshauch vertrieben den Geruch von Feuchtigkeit und Elend. Und der feine Kopf des Kranken erschien auf dem von der Unbekannten gespendeten weißen Kissenbezug beinahe engelhaft.

Während sein Herr las, bereitete Petru das Abendbrot und schwatzte. »Gott sei Dank, nun ist Ostern vorüber. Meine Mutter hat einen Ziegenbraten zum Geschenk bekommen und wollte mir davon geben, um es Euch zu bringen, aber ich sagte ihr: ›Wir wollen nichts, von niemand!‹ Ja, Zia Giuseppa Fiore hat eine Kuh geschlachtet, um das Fleisch an die Armen zu verteilen; aber den Lendenbraten und die besten Stücke hat sie für sich behalten, eine Kugel soll ihr in die Wade fahren! Und mein Vater hat meiner Mutter fünf Orangen geschenkt. Da ist eine. Ihr sollt die Hälfte haben.«

Er schälte sie und reichte Jorgi die Hälfte: so schüchtern, als fürchte er, der könnte die Herkunft der Frucht erraten. Doch der Kranke, dessen Gedanken im unbegrenzten Reich der Träume umherschweiften, nahm ein Stückchen und achtete nicht weiter darauf. Erst später, während er die Milchsuppe schlürfte, die Petru ihm bereitet, sah er sich im Zimmer um und sagte: »Ja, die Wände sind schmutzig, wir müssen sie tünchen lassen; und dann mußt du den Tisch und die Truhe und die Tür einmal ordentlich reinmachen …«

Petru lächelte und sagte: »Ich weiß, wen Ihr erwartet. Den Kommissar und seine Schwester. Mir sagt Ihr nie etwas, aber ich weiß es doch, und alle wissen es, und Zia Grazia sagte vorhin, wer Euch die Geschenke schickt, wäre das Mädchen.«

Jorgi erbebte; dennoch fragte er möglichst ruhig: »Von wem sprichst du, alberner Junge?«

»O, das wißt Ihr ganz gut. Von dem Mädchen. Sie heißt Donna Mariana, und sie ist schön, aber sie sieht aus wie ein weißer Pilz, klein, wie sie ist, unter einem Hut so groß wie ein Korb; ihre Schuhe sind auch weiß; ich habe sie gesehen, wie sie mit dem Priester und dem Amtsschreiber spazieren ging, und sie lachte mich an. Sie hat Augen so groß wie zwei frische Mandeln. Und sie muß sehr reich sein, hol's der Teufel! Ich sage, daß ihr Kleid zwanzig Lire kostet. Und die Schuhe wenigstens sieben. Der Schreiber machte ihr Augen so groß wie zwei Räder – aber den will sie sicher nicht. Auch Giuseppa Fiore hat gesagt: für die gehört sich ein Doktor. Nun, und wenn Ihr wieder gesund seid, Zio Jò, dann werdet Ihr ja ein Doktor!«

Die unerwartete Schlußfolgerung brachte Jorgi zum Lachen. Nach einer Weile aber hieß er den Knaben das Licht anzünden und nach Hause gehen.

»Soll ich die Hoftür offen lassen?«

»Ja, laß sie nur offen.«

Die Zeiten hatten sich geändert. Der Herr war nicht mehr scheu und unzugänglich wie in den vergangenen Tagen: er erwartete wieder jemand; doch außer dem Doktor, dem Bettler und Zio Arras kam niemand.

Als er allein war, blickte er lange ins Licht: es war ihm, als leiste die Flamme der Kerze ihm Gesellschaft. Dann nahm er wieder sein Büchlein zur Hand und las nochmals die beiden Briefchen, obwohl er sie schon auswendig wußte. Beide waren auf elfenbeinfarbenes, nach Veilchen duftendem Papier geschrieben, mit langen, eckigen Schriftzügen.

»Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mein bescheidenes Geschenk nicht zurückwiesen. Es ist nutzlos, daß ich fernerhin vorgebe, ich sei weit von Ihnen entfernt; nein, ich bin Ihnen nahe, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich kenne Ihre ganze lange Leidensgeschichte und weiß, daß Ihre Tür den Gleichgültigen und Neugierigen verschlossen bleibt; aber ich bin nicht wie die andern und wage Sie zu bitten, mir zu erlauben, Sie zu besuchen. Wenn Sie wünschen, daß ich komme, so lassen Sie es mich durch unsern Freund, den Postillon, wissen.«

Und das zweite Briefchen lautete:

»Danken Sie mir nicht! Ich bin's, die Ihnen zu danken hat, weil Sie mir gestattet, ein wenig Gutes zu tun. Ich werde kommen. Könnte ich Ihnen doch Gerechtigkeit verschaffen und zu Ihnen sprechen wie Christus zu Lazarus: ›Stehe auf und wandle!‹«

Stehe auf und wandle! wiederholte er für sich zehn-, hundertmal und blickte wieder in die Flamme. Dann schlug er das Gleichnis von Lazarus auf, las und las es nochmals, während an dem lauen Abend die Liebeslieder der Hirten aus der Ferne bis zu ihm drangen.

Obwohl es Nacht war, wartete er noch immer, und die Hoffnung und Unruhe, mit der er wochen- und monatelang auf das Kommen Columbas gewartet hatte, waren nichts im Vergleich zu der gegenwärtigen Erwartung. Die, die mit ihrer Gegenwart seine armselige Kammer strahlend hell machen würde, stellte für ihn die ihm so ferne Kultur, die Gerechtigkeit, das Mitleid, das Leben dar. Aus dem Geplauder seines kleinen Dieners, der ihm die Reden der Weiber auf der Straße zutrug, erkannte er bereits, daß seine Rehabilitation begonnen hatte; und das Wort des alten Banditen kam ihm in den Sinn: »Die Zeit ist der einzige gerechte Richter, Geduld und Mut die einzigen wahrhaften Zeugen.« Die Worte seiner neuen Freundin: »Stehe auf und wandle!« vibrierten in seinem Herzen.

Von ungestümer Hoffnung erfüllt, versuchte er aufzustehen – doch von Schwindel überwältigt, sank er wieder zurück. Und in dem Augenblick meinte er, wie durch einen vom Wind bewegten Nebelschleier hindurchzusehen, daß die Tür aufging und der gelbe Rocksaum Columbas sich zeigte; dann war alles wieder verschwunden, und er glaubte, es sei eine Sinnestäuschung gewesen; und wie es nach einem heftigen Schwindelanfall stets geschah: er versank in tiefen Schlaf.

Am folgenden Morgen ließ er das Zimmer und den Hof reinigen, und von Mittag an konnte er kein Auge mehr zutun, obwohl Petru, vor der Tür im Schatten sitzend, auf seiner Leonedda Weisen blies, die wie leises Wasserrauschen und Bienensummen klangen.

Seit einigen Tagen war die bisherige Schlafsucht gewichen; ein leidenschaftlicher Lebensdrang regte sich in ihm, und da er sich doch nicht bewegen konnte, arbeitete sein Geist nur um so lebhafter, und die seltsamsten Bilder zogen ihm durch den Sinn, bald trübe, bald lichtvoll wie das leichte Gewölk am Frühlingshimmel.

Auch der geheimnisvolle Diebstahl im Nachbarhause beschäftigte noch immer seine Gedanken, und er fragte sich bisweilen, ob er nicht doch eine Ungerechtigkeit begehe, wenn er den Alten beschuldige, das Verbrechen simuliert zu haben. Er wunderte sich selbst, daß er nicht schon versucht hatte die Sache aufzuklären; jetzt aber, seit jene Freundin in sein Leben getreten war, wurde sein Verlangen nach Rehabilitation zu einem festen, bewußten Vorsatz.

Und wie von diesem festen Willen beeinflußt, kam Dionisi Oro, der Bettler – dessen sonderbares Benehmen und häufiges Kommen Jorgi schon zu denken gegeben hatten – gerade wieder an seine Tür geschlichen.

»Komm nur herein,« schrie Jorgi. »Was gibt's Neues in der Welt?«

Dionisi betrachtete den von weißen Wolken bedeckten blauen Himmel und sagte: »Eh, es scheint, es will regnen. Und das wäre gut, denn das Korn vertrocknet noch, bevor es heraus ist.«

In diesem Augenblick hörte man einen Chor von Knaben, die im Dorfe umherzogen, als Standarte ein Taschentuch an einem langen Rohr, und um Regen flehten:

Dazenos abba, Sennore;
Pro custa necessidade;
Sos anzones pedin abba
E nois pedimus pane. Gib uns Regen, Herr,
weil es nottut;
die Schafe verlangen nach Wasser,
und wir nach Brot!

»Ecco,« sagte Jorgi, mit dem Finger nach den Sängern hindeutend. »Ja, der Herr straft uns, weil unsere Sünden groß sind!« Da der andere nicht antwortete, bedeutete er ihm an sein Bett heranzukommen, und wiederholte ihm lauter, was er gesagt. Dann fragte er: »Hast du nun gebeichtet? Dionisi, hast du wirklich das Ostergebot erfüllt?«

»Jeder Christ tut's!«

Aber Jorgi sah ihn fest an, biß die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf; und dieses Mienenspiel verstand der Mann besser, als die lauten Worte.

»Wie, ich habe es nicht getan? So geh' doch und frage Priester Defraja!«

»Könnte ich mich rühren, so erführe ich manches, und du wärest nicht hier?«

»Wo dann? Bei San Francesco?«

»Ganz genau!« sagte Giorgio und schob die Hand unter die Wange. »In vier Wochen ist sein Fest; wirst du da hingehen?«

Statt zu antworten, küßte der Mann inbrünstig die Medaille des Heiligen.

Geh' ja zum Fest, Dionisi! Aber hüte dich, den heiligen Franziskus zu beleidigen, denn er rächt sich. Betritt seine Kirche nicht in der Absicht ihn zu täuschen: Denn hast du gestohlen, so weiß er's, hast du den lieben Gott gekränkt, so weiß er's! Er ist furchtbar, der kleine Heilige; sie sagen, er läßt die Sünder, die seine Kirche betreten, auf der Stelle sterben.«

Aber jetzt schüttelte Dionisi seinerseits den Kopf und biß die Lippen zusammen; endlich, nachdem er sich die Sache gut überlegt, sagte er: »Du irrst dich, mein Junge! Wenn doch die berühmtesten Banditen zu ihm gehen: wieviele müßten wohl in der Kirche sterben?«

Jorgi sah ihn scharf an und machte noch einen Versuch. »Dionisi,« sagte er plötzlich, »glaubst du an die Hölle?«

»Anderes gibt's überhaupt nicht, liebes Herz! Hölle hier und Hölle da!«

»Höre, was ich diese Nacht geträumt habe. Komm näher, daß ich nicht so zu schreien brauche! Also ich träumte, ich wäre schon tot und auf dem Wege zum Himmel. Es war eine steile Straße neben einem Fluß … sagen wir wie auf Monte Albo. Und ich ging und ging und kam nie hin. Da sehe ich auf einmal einen Frater mir entgegenkommen, und das war San Francesco. Wo willst du hin? fragte er. Ich sage es ihm, und er fängt an zu lachen. Komm mit, sagt er, ich will dir etwas zeigen. Und er führt mich auf einer andern Straße zu einem sehr schönen Ort, unter einen Laubengang voll dunkler Trauben. Setze dich, sagt er, und iß von diesen Trauben, dann wirst du sehen, warum ich gelacht habe. Ich tue so, und kaum habe ich einige Beeren gegessen, so sehe ich alsbald am Fuße des Berges sich die Welt ausbreiten, und sehe in das Innere der Häuser und sehe die Menschen und was sie in der Tasche haben. Und ich sehe mich auf diesem Bette liegen und dich davor mit deinem Sack auf dem Rücken, und in dem Sack ist der Kasten mit Geld, der Zio Remundu Corbu gestohlen worden … Und San Francesco sagt: Siehst du nun, warum du nicht an die Himmelstür kommen konntest? Weil du einen solchen Sünder in dein Haus einließest …«

Wie Jorgi sprach, riß der Bettler die Augen immer weiter auf und runzelte die verwilderten Brauen. Sein Gesicht drückte Staunen aus, aber auch Geringschätzung, ja Hohn.

»Sant´ Anna steh dir bei!« sagt er, kehrte sich um und tat, als wolle er gehen. »Wer hat dir den Gedanken eingegeben?«

Er hielt an und wendete den Kopf zurück, als wolle er hören, was der Kranke sagte; aber Jorgi schwieg, sah ihn nur immerfort scharf an und nickte, wie um ihm zu bedeuten, daß er alles wisse. Da schien dem Bettler mit einemmal ein Gedanke zu kommen: er ging auf das Bett zu, sein Gesicht war erdfahl, seine großen dunklen Hände wie Krallen gekrümmt.

Jorgi fürchtete sich. »Dionì … Dionì,« schrie er, »was willst du?«

In diesem Augenblick klopfte es leise an die nur angelehnte Hoftür – und als fürchte er in seiner drohenden Haltung betroffen zu werden, fiel Dionisi vor dem Bett auf die Knie.


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