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V

Das Dörfchen, in dem ich geboren bin, ist fast ausschließlich von Hirten bewohnt. Die Natur des bergigen, unebenen Geländes gestattet keinen Ackerbau, und andererseits kann die Bevölkerung, ihrer besonderen Art nach, sich nicht gewöhnen, geduldig den Boden zu bearbeiten. Der Bewohner dieser Berge steht der Kultur noch recht fern, und wenn es ihm gelingt, eine Ziege zu stehlen und sie mit seinen Gefährten oder seiner Familie zu verspeisen, so freut er sich darüber als über ein gelungenes Unternehmen. Auch ihm hat man am Tage zuvor, oder die Woche zuvor ein Zicklein gestohlen: weshalb also sollte er sich nicht dafür schadlos halten? Und wenn Ihr ihm sagt, er habe unrecht getan, so ist er gekränkt und grollt Euch wie jemand, den Ihr um ein Recht zu bringen sucht. Von der übrigen Welt abgeschieden, in beständigem Kampf mit den wenigen andern seinesgleichen, häufig sogar mit seinen Verwandten, dem Bruder selbst, glaubt der Bewohner dieses Dorfes das Recht zu haben, sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen mit den Waffen, die er besitzt: seine Muskelkraft, seine Schlauheit, seine Zunge. Er weiß nicht, was die Gesellschaft ist, und das Gesetz ist für ihn eine unlogische Gewalt, die man umgehen muß, da man sie nicht besiegen kann. Und von seinem Standpunkt hat er nicht unrecht: die durch den Staat repräsentierte, ihm so ferne Gesellschaft beschäftigt sich mit ihm nur, um ihn auszunutzen: sie fordert Abgaben von ihm, zwingt ihn zum Militärdienst – schützt ihn aber nicht vor seinem Feind, nicht vor den Dieben, steht ihm nicht bei, wenn der strenge Winter sein Vieh tötet, rettet ihn nicht vor falschem Zeugnis, wenn er eines Verbrechens angeklagt wird. So verteidigt er sich eben selbst, seinem Instinkt, seiner Gewohnheit, seinem Gerechtigkeitsgefühl gemäß.

Jahre und jahrelang spaltete wilde Feindschaft die Bewohner dieses Dorfes; Feindschaft, die ursprünglich zwischen zwei Familien um das Wegerecht an einer Tanca ausgebrochen war. Der daraus entstandene Rechtsstreit löste die Frage nicht in billiger Weise, und der Eigentümer, der sein Recht unterdrückt sah, schaffte sich selbst Gerechtigkeit dadurch, daß er den Feind, der seinen Boden betrat, niederschoß. Die Familie des Getöteten rächte sich; der Haß verbreitete sich wie Unkraut von Familie zu Familie, und es folgten schreckliche Jahre beständiger Racheakte und Bluttaten.

Ich war damals noch ein Kind, aber ich erinnere mich sehr wohl der traurigen, düstern Mienen meiner Landsleute. Es war, als mißtrauten alle einander, auch die, die der gleichen Partei angehörten; bei Anbruch der Nacht wurden alle Türen sorgfältig verschlossen, und selbst wenn eine Hochzeit gefeiert ward, blieben alle schweigsam und melancholisch.

Viele Männer, die unter Anklage standen wegen Verbrechen, die sie begangen oder auch nicht begangen, lebten in der Macchia und teilten von dort ihre Befehle an die Dorfbewohner aus: die beiden feindlichen Parteien gehorchten blind zwei Führern, die noch den zuerst verfeindeten Familien angehörten. Der eine dieser Führer war unser Nachbar, Zio Remundu Corbu, der andere Zio Junassiu Arras, ein entfernter Verwandter meines Vaters, und beide waren flüchtig.

Auch mein Vater war Hirte; er hatte nach dem Tode meiner Mutter eine Witwe geheiratet, die älter war als er, die aber etwas hatte, und war somit ein wohlhabender Mann. Die zweite Frau war und ist mit den Corbus verwandt; doch die Heirat erfolgte erst, nachdem die beiden Parteien, nach langen Verhandlungen, auf Vermittlung der bürgerlichen und kirchlichen Behörden Frieden geschlossen hatten.

Ich entsinne mich noch sehr wohl der großartigen Friedensfeier, die in einem einsamen Kirchlein oben auf der Hochebene stattfand. Den Flüchtigen war sicheres Geleit zugesagt, damit auch sie der Feier beiwohnen und mit ihren Feinden Frieden schließen könnten. Doch man erzählte sich bereits, daß der eine Führer, Junassiu Arras, sich nicht einfinden werde.

Der Bischof, der Präfekt der Provinz und andere Amtspersonen ritten mit einem zahlreichen Gefolge von Bürgern und Landleuten, von Frauen und Kindern über die Hochebene, die die Dörfer Tibi und Oronou trennt. Es war wie eine Prozession, und auch die Fahne fehlte nicht. Der sie trug, war ein alter Patriarch, dessen langer gelber Bart auf das Köpfchen eines kleinen Knaben niederhing, den er vor sich auf dem Sattel hatte. Dieser Knabe war ich. Meine Augen ließen nicht ab von dem vergoldeten Fahnenschaft, auf den sich eine kleine rote Hand und die dunkle des Alten legten; und die blaue Seide der Fahne kam mir vor wie ein Stück jenes großen, lichten Himmels, der sich von einem Berge zum andern hinüberwölbte, hoch über der felsigen, mit Forst und Buschwald bedeckten Hochebene.

Wenn ich meine Augen schließe, so sehe ich noch heute den malerischen Aufzug, in dem das Rot und Gelb der Landestrachten vorherrschte; ich sehe die großartige Landschaft und die goldene Linie des fernen Meeres.

Die Sonne, die noch tief über dem Meere stand, goß ein rosiges, sanftes Licht über das unvergeßliche Bild. Der Bischof, ein schöner Mann mit frischem Gesicht und blauen Augen, ritt auf einer weißen, frommen Stute; und statt immer vor dem Zuge herzureiten, blieb er von Zeit zu Zeit zurück, gleichsam als hätten die Bauern, die alle halb wilde Pferde ritten, von denen jedes dem andern vorzukommen suchte, ihn vergessen.

Nachdem der Zug einen Bach passiert und eine grasbewachsene Mulde erreicht hatte, kam plötzlich aus dem Walde ein Mann zu Pferde in schwarzem Mantel, die Kapuze über den Kopf gezogen und bewaffnet wie ein Krieger und ritt auf den Bischof zu, der sich eben wieder hinter dem Zuge befand. Der Mann war nicht mehr jung, aber noch rüstig und saß im Sattel, als wäre es ein Sessel: keine Muskel bewegte sich, während das Pferd sich wie selbständig fortbewegte, an die Last und die Hand gewöhnt, die ihm Tag und Nacht auflagen. Die schwarze Kapuze umrahmte ein finsteres Gesicht, das fast völlig von einem grauen, verwilderten, zweizipfeligen Bart bedeckt war, aus dem das Weiß der mißtrauischen Augen und der noch geschlossenen Zahnreihen hervorleuchteten.

Ein Gemurmel ging durch die Menge: der Mann war Junassiu Arras. Der Alte, auf dessen Sattel ich saß, und der mit Arras verwandt war, bedeutete allen, sich nicht umzudrehen und die Unterredung des Bischofs mit dem gegen den Frieden sich sträubenden Führer nicht zu stören. Alle begriffen, daß Arras Bedingungen stellen würde, bevor er sich entschloß, an der Friedensfeier teilzunehmen. Jene Unterredung währte eine ganze Strecke Weges; dann sprach Arras auch zu dem Präfekten, und mehrere Männer aus dem Zuge, unter anderen der Alte mit der Fahne, wurden zu einer Besprechung herbeigerufen.

Sie hielten im Kreise, und Arras sprach. Was er sagte, weiß ich nicht mehr genau, aber ich erinnere mich, daß er sehr erregt war und die Feier eine Heuchelei nannte.

Er verlangte Freiheit für alle Flüchtigen und Bestimmung schwerer Strafen für den, der die Eintracht zuerst wieder stören würde.

Der Bischof schnaubte vor Zorn, der Präfekt lächelte und klopfte Arras mit dem Knopf seiner Reitpeitsche auf die Schulter. Der aber blieb ernst. Und dann fingen alle an laut miteinander zu diskutieren, und manche der Vorausgerittenen kehrten wieder um und schlossen sich den Streitenden an.

Zio Remundu Corbu auf seinem großen Braunen verhielt sich schweigend und sah mit einer gewissen Geringschätzung dem Auftritt zu. Schließlich spornte Arras sein Pferd und ritt davon, ohne etwas erreicht zu haben, und alle gaben ihm unrecht. Man ritt weiter, und der Bischof wie der Präfekt hielten sich fast immer neben Zio Remundu und besprachen sich mit ihm.

Ich erinnere mich, daß Zio Remundu, wie er so groß und streng im Sattel saß, meine Bewunderung erregte. Noch heute ist er eine stattliche, aufrechte Gestalt, und sein Gesicht mit dem hebräischen Profil hat etwas von der Rinde einer Eiche; sein graues Haar ist noch dicht, er trägt noch immer seinen langen, graugesprenkelten gelben Bart, und seine grünlich-schwarzen, funkelnden Augen blicken noch immer stolz, ja drohend.

Auch er war jahrelang flüchtig gewesen und mit schweren Beschuldigungen belastet; er war gefürchtet, doch gleichzeitig respektiert.

Endlich erreichten wir das Kirchlein der Madonna del Buon Consiglio, das sich etwa halbwegs zwischen Oronou und Tibi erhebt. Auch aus diesem Dorfe waren zahlreiche, mit denen von Oronou verwandte Familien gekommen, um an dem Friedensfeste teilzunehmen.

Es ist ein hübscher, schattiger Platz: ein Eichenwäldchen umgibt das Kirchlein, das aussieht wie eine einfache Hütte mit einem Kreuz darauf; in geringer Entfernung fließt ein Bach unter wilden Oleandern hin, und in der Ferne sieht man das Meer.

Die Bauern hatten schon Feuer angezündet, um das Mittagessen zu bereiten. Wie bei allen ländlichen Festen standen viele Karren aufgefahren, in deren Schatten Frauen und Kinder saßen, während die Pferde und die Zugochsen auf den Wiesen grasten, die Hunde die Quersäcke voller Lebensmittel umsprangen und die Männer die Lämmer für das Festmahl schlachteten.

Eine hagere, schwarzgekleidete Frau mit gelbem Gesicht – die, die später meine Stiefmutter werden sollte – nahm mich vom Pferde herunter und führte mich in die Kirche. Ein grünes Tuch verhüllte eine Steintafel zur Seite des mit Wiesenblumen geschmückten Altars; mitten auf dem Fußboden, auf einem alten gelben Teppich, lag ein schwarzer Christus, und die um das gelbe Viereck herum knienden Frauen beteten, seufzten, schlugen sich an die Brust und küßten den Boden.

Meine zukünftige Stiefmutter nahm zwischen diesen Frauen Platz und behielt mich immer an ihrer Seite; auch ich kniete nieder und betete. Das Kirchlein füllte sich mit Leuten. Der Bischof zelebrierte die Messe, und nachdem er das Evangelium verlesen, trat er auf die Stufen des Altars und sprach zu den Anwesenden. Seine Stimme war klar und klangvoll; seine Worte der Liebe, der Drohung, des Vorwurfs und der Ermahnung zu Frieden und Eintracht hallten laut durch den kleinen Raum, und die Frauen brachen in Tränen aus, die Männer senkten den Kopf auf die Brust.

Danach enthüllte der Präfekt in eigener Person die Gedenktafel; ein Olivenzweig umgab die vergoldete Inschrift:

 

Am 15. Mai 1895 schworen in der Kirche der Madonna del Buon Consiglio
die stolzen und starken Bewohner von Oronou und Tibi
nach langen Jahren des Hasses
des Unheils und der Verblendung
nachdem sie ihre Augen dem Licht der Liebe geöffnet
einander Friede und Versöhnung
und eröffneten damit eine neue Zeit
der Gesittung.

 

Zu zwei und zwei schritten die Männer und Frauen der verschiedenen Parteien an dem Christus vorüber und tauschten den Friedenskuß. Ich sehe sie noch vor mir: Zio Remundu Corbu, so groß und so spröde, sah aus, als koste es ihn eine Anstrengung, sich zu dem kleinen Dionisi Arras herabzubücken, dem Bruder des dem Frieden widerstrebenden Führers. Ein Murmeln ging durch die Menge, als die beiden einander küßten; und Zio Dionisi, ein frischer, heiterer Mann, kehrte sich um und breitete die Arme aus, als wollte er sagen: Mein Bruder ist nicht da; also was ist zu machen: stehe ich nicht hier?

Die andern folgten: es waren stolze und halsstarrige Menschen, große junge Leute mit bronzefarbenem Gesicht, Alte, um deren Kopf es hing wie das Wurzelwerk der Eichen, unter denen sie ihre Tage, ihre Nächte verbrachten. Allen war etwas Hartes und Rätselhaftes eigen: sie tragen gleichsam die Natur des Gesteins an sich, aus dem unsere Berge bestehen.

Auch die Frauen küßten einander: die einen weinten, die andern lachten, und vielleicht waren diese die tiefer bewegten. Ach, jetzt waren ja die traurigen Tage der Angst und des Schreckens endlich zu Ende: endlich werden die Mütter sich in stürmischen Nächten nicht mehr aufrichten wie die Schlangen in ihren Schlupfwinkeln, Verwünschungen ausstoßend und von einem Augenblick zum andern eine Unglückskunde erwartend; endlich dürfen die jungen Mädchen harmlos ihrem Nachbar zulächeln und unter den jungen Burschen sich den schönsten auswählen, ohne sich sagen zu müssen, jener sei ein Feind, den sie hassen und nicht lieben sollen.

Einige Paare, die einander heimlich geliebt wie Romeo und Julia, schritten lächelnd an dem Christus vorüber, und dann verlas ein Priester das Aufgebot vieler Paare, unter anderem das meines Vaters mit der Witwe.

Es war ein Tag der Freude und wirklichen Friedens. Der verhaltene, beinahe herbe Frühling der Hochebene und jene großartige, vom Meer begrenzte Landschaft bildeten einen würdigen Hintergrund zu dem von den schönsten Gestalten belebten Bilde, von dem dekorativen Bischof an, der mit dem goldenen Kreuze auf der Brust, am Finger eine Perle wie ein Tautropfen, zu Füßen einer Eiche saß gleich einem Druiden, bis zu den alten, wilden Hirten, die nicht einmal beim Essen ihre Kapuze vom Kopfe zogen; von dem blassen, sarkastischen Präfekten im Jagdkleid bis zum Gemeindeschreiber, der sich für die Gelegenheit einen schwarzen Anzug und einen Zylinder angeschafft hatte.

Die jungen Frauen und Männer tanzten vor der Kirche; mit ihren ernsten, beinahe tragischen Mienen sahen sie aus, als vollzögen auch sie einen heiligen Ritus. Ich hing den ganzen Tag am Rock der Witwe; im Schatten eines Baumes am Boden sitzend, beobachtete sie mit ihren kleinen, funkelnden Augen die verschiedenen Gruppen und redete Böses von allen.

Mein Vater kam und holte mich zum Festschmaus: Haufen von Brot, Käschen, Focaccien flache Kuchen aus Brotteig. und gedörrtem Obst, die allenthalben auf Säcken lagen, die als Tischtücher dienten, zogen meine Blicke an. Mir kam das vor wie ein Traum, wie ein Festmahl im Märchen. Der Wein floß aus den Fässern wie das Wasser aus dem Brunnen, die Milch vermengte sich mit dem Honig, und ganze Wildschweine, Berge von Rebhühnern und Laccheddas Holzgefäße. voller Aale gingen an dem Bischof vorüber, der nur Wasser trank und eine wilde Distel verspeiste.

Und dann folgten Reden, Gesänge, Trinksprüche. Ich kehrte mit dem alten Großvater und der zukünftigen Stiefmutter vor Sonnenuntergang ins Dorf zurück; aber das Fest dauerte drei Tage – nach deren Verlauf viele Flüchtige in den Buschwald zurückkehrten, andere sich dem Gericht stellten, wieder andern vorläufig die Freiheit belassen wurde.

In der Nacht des dritten Tages drang jemand heimlich in die Kirche ein, zerschlug die Gedenktafel und ließ einige Geldmünzen als Schadenersatz zurück: alle behaupteten, das sei Arras gewesen.

Bluttaten kamen von nun an nicht mehr vor; und es wurden wieder Ehen geschlossen, die feindlichen Parteien gönnten einander wieder den Gruß, unterhielten Beziehungen und machten Geschäfte miteinander: aber die heimliche Abneigung zwischen Familie und Familie, zwischen Individuum und Individuum besteht heute noch, fünfzehn Jahre nach jenem feierlichen Friedensfest.

Zio Remundu Corbu, der sich ebenfalls dem Gericht gestellt, wurde freigesprochen; andere wurden verurteilt, wieder andere sind gestorben. Zio Arras ist noch übrig: seit nunmehr dreißig Jahren ist er ein Geächteter, und bald wird er das Recht haben, frei zurückzukehren, losgesprochen von jenem einen unbestechlichen Richter: der Zeit.


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