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III

Da er kein Sonetto bekommen hatte, begnügte Petru sich mit einer Leonedda Doppelflöte., die er sich selbst aus dicken Halmen gemacht hatte. Auf dem Abhang sitzend, auf den Jorgis kleine Tür hinausging, blies er die Melodie des sardischen Rundtanzes oder der Gosos Lobgesänge.. Um Mittag zogen große, weiße Wolken vor der Sonne vorüber, und das ganze, von der violetten Linie der Hochebene abgeschlossene Rundbild von grünen und grauen Tälern schien alsdann zu schlummern; von Zeit zu Zeit jedoch kam die Sonne zum Vorschein, und dann erglänzte das Gras und der Buschwald, und alles ringsum regte sich im Wind, als sei es plötzlich aus dem Schlummer erwacht.

Auch Jorgi schlummerte und regte sich dann und wann – und doch fühlte er sich so schwach, daß er ganz zufrieden war, still zu liegen. Was für eine Mühe, aufzustehen und umherzugehen! Und warum nur? Leben ist die Bewegung des Weltalls, und die Steine, die Pflanzen leben auch, ohne sich zu bewegen! Und dann war ihm, als rühre selbst sein Schwindel und das Wallen seines armen Blutes von der Umdrehung der Erde her, und die beständige Bewegung aller Dinge risse auch ihn mit sich fort durch den Weltenraum.

Der Tag ist vergangen, für mich wie für die Glücklichen der Erde, dachte er am Abend. Zum wenigsten habe ich niemand etwas zuleide getan!

Wenn er aber in der Nacht aufwachte, im Dunkeln, dann packte ihn der Schrecken des lebendig Begrabenen: er erzitterte in verzweifelter Angst, und kalter Schweiß feuchtete sein Haar; mitunter schlief er erst beim Morgengrauen wieder ein, und sein einziger Trost war die Hoffnung, bald zu sterben …

Die zornige Stimme seines kleinen Dieners weckte ihn aus dem Halbschlummer. »Perdonate Perdona = Verzeiht, sagt man in Sardinien zu dem Bettler, dem man kein Almosen geben will. habe ich Euch gesagt! Jetzt, da Ihr den Weg gefunden habt, scheint Ihr ihn ausnutzen zu wollen.«

Aber die rauhe Stimme des Bettlers entgegnete: »In nomen de su Babbu, de zu Izu, de v'Ispiridu Santu, faghidi la caridade a custu poberu ezzu istorpiadu Im Namen des Vaters, des Sohnes, des heiligen Geistes, gebt diesem armen Krüppel eine milde Gabe. …«

»Wenn Ihr nicht geht, so sollt Ihr gleich da hinunterkugeln wie eine Wacholderbeere …«

»Sant' Anna und Sant' Elia stehen dir bei! Wo ist dein Herr?«

»Wo wird er sein? Er ist in seine Tanca geritten! Und nun geht und laßt Euch aufspießen.«

Doch der Mann, der aussah wie ein Bündel Lumpen, blickte mit seinen runden, wie zwei unreife Haselnüsse hellen Augen nach der kleinen Tür Jorgis und ging darauf zu, gebückt unter der Last seines vollen Sackes.

»Komm nur, Dionisi,« rief der Kranke ihm zu.

Und der Bettler trat ein, gefolgt von Petru, der sich auf die Fußspitzen stellte, um in den Sack zu sehen.

»Gib ihm etwas, Petru!«

»Was soll ich ihm geben? Was wir übrig haben? Seht Ihr nicht, daß er den Sack voll Brot und Käse hat? Gebt mir welchen, Zio Dioni, dann machen wir Osterkuchen daraus. Ihr seid reicher als wir und belästigt uns?«

»Hör' auf, Petru,« rief Giorgio ärgerlich, ohne daß er einen Augenblick den Bettler aus dem Auge ließ, der sich rund umschaute und seufzte.

»Alle Tage kommt er,« murrte Petru, hob den Deckel der Truhe und holte die Hälfte einer wie der Mond runden und gelben Focaccia hervor.

Und alle Tage hatte der Kranke dasselbe Gefühl: daß Dionisi Oro entweder aus sich, oder von jemand geschickt – von Columba oder von dem Alten? – zu ihm kam, um auszukundschaften, was vorging; und er seinerseits verspürte Widerwillen und Neugier zugleich und wartete gewissermaßen darauf, daß der Bettler ihm irgend etwas Außerordentliches verraten werde.

Jener indes redete nur wenig und ohne Zusammenhang.

»Nun, Dionisi, was gibt's Neues in der Welt? Warst du in der Predigt?«

»Wie? Was? liebes Herz … Zu der Zeit, als die Leute noch einfältig waren, aßen die Einsiedler Hunde …«

»Und jetzt, da die Leute schlau geworden sind, essen sie lieber Kälber und tun sehr gut daran!« schrie Petru und reichte ihm widerwillig das Brot.

»Ich frage: Hast du gebeichtet?« rief Jorgi ihm zu. »Wir sind in den Fasten!«

»Habt Ihr gebeichtet?« schrie Petru ihm ins Ohr.

Der Mann fuhr zusammen und wurde böse: »Eh, so taub bin ich nicht! Ja, ich war in der Kirche. Eine schöne Predigt! Als wäre er San Francesco selbst.« – Er bekreuzte sich und küßte seine Medaillen.

»Wer?«

»Wer?« schrie Petru.

»Aber geh doch und laß meine Ohren in Ruhe! Ich sage Priester Defraja, eine Kugel soll ihm in die Tasche fahren!«

»Das ist wahr!« gab Petru zu. »Wenn er predigt, ist er wie ein kleiner Heiliger: seine Stimme ist nicht stark, aber die Leute müssen weinen. Meine Mutter sagt's.«

»Also ist es an der Zeit, an seine Sünden zu denken und sich zu bekehren! Sag' ihm das, Petru.«

»Also ist es an der Zeit, Eure Sünden zu beichten!« übersetzte Petru in das Ohr Dionisis.

»Wir leben alle in Todsünde!« entgegnete der Bettler; dann aber sprach er kein Wort mehr, welche Unverschämtheiten der Junge ihm auch zuschrie. Immerfort jedoch sah er sich um und als er endlich wieder ging, kehrte er sich noch einmal um und betrachtete angelegentlich die verwitterte Decke.

»Wenn Ihr nichts mehr braucht,« sagte Petru, »meine Mutter will gerade in die Kirche gehen und ich soll mein Brüderchen verwahren.«

»Geh' nur und vergiß nicht eine Kerze mitzubringen.

»Zio Jo,« verkündete der Knabe ärgerlich, »die Soldi sind zu Ende, wie Ihr wißt. Und Ihr gebt dem Nichtstuer noch Brot?«

Jorgi seufzte verdrießlich und schaute nach der offenstehenden kleinen Tür. Die Sonne schien hell, und der Widerschein der mit glänzendem Gras bedeckten Hänge drang bis in seine traurige Kammer.

»Es wird zwei Uhr sein, Petru; um vier kommt der Doktor, und dann will ich ihn daran erinnern, daß er den Kaufakt machen läßt.«

Petru hob den Deckel der Truhe und ließ ihn geräuschvoll niederfallen; und im gleichen Augenblick klopfte es laut an die Hoftür, und der Kranke fuhr zusammen.

»Wer kann das sein?« fragte er und blickte mit weitgeöffneten Augen in die Petrus, der ihn anstarrte. »Der Doktor sicher nicht!«

Petru würde gar nicht aufgemacht haben, hätte nicht eine rauhe Stimme gerufen: »Die Post!«

Ein frischer Luftzug drang herein, und ein Postillon, der den Postdienst zwischen Nuoro und Oronou versah, trat ein mit einer Kiste und seinem Quittungsbuch.

»Ein Paket aus Nuoro,« rief er. »Hier, unterschreiben! Und wie geht's, Jorgè?«

Er stellte eine Kiste mit roten Siegeln auf Jorgis Tischchen, das unter der ungewohnten Last schwankte.

Der Kranke schwieg, sah den Mann und die Kiste verständnislos an, und nur der Gedanke, daß Frau Zio Conzus ihm jedes Jahr zu Ostern einiges Backwerk und frischen Käse zu schicken pflegte, hielt ihn ab, das Paket zurückzuweisen.

»Also, wie geht's? Nun denke aber auch endlich einmal daran aufzustehen, du Faulpelz!«

»Könnte ich's nur!« murmelte Jorgi.

Als der Mann wieder gegangen war, verschloß Petru die Tür hinter ihm, und das Zimmer lag von neuem in dem durch die kleine Hintertür einfallenden blaugrünen Licht; die Sonne kam schon bis an die Schwelle wie ein guter Freund, der alle Tage einmal hereinschaut.

»Petru, schneide den Bindfaden durch!«

Solange der Bote da war, hatte Petru den Mund nicht aufgetan, aus Furcht, Zio Jorgi könnte sich ärgern und die Sendung ablehnen; aber sein Herz klopfte: das war hier ein unerhörtes Ereignis!

Er zog sein Taschenmesser hervor, das hübsche schwarz und silberne Messer, das sein Stolz und größter Schatz war – in seinen guten Tagen hatte Jorgi es ihm einmal aus der Stadt mitgebracht –, und fing an zu sägen.

»Zio Jò, wahrhaftig, mir klopft das Herz! Was kann das nur sein? Aber jetzt muß ich die Nägel herausziehen, das ist die Geschichte!«

Er stellte die Kiste auf den Schemel und schob sein Messer unter den Deckel; aber die Klinge bog sich und drohte abzubrechen.

»Nein, nein, Petru, so geht es nicht. Nimm das große Messer!«

»Wie schwer sie ist, Dio mio! Wenn sie nun voll Geld wäre? Voll Soldi und Lire! Wieviel wäre das?«

»Da ist schon ein Nagel heraus!«

Petru schwitzte und lachte, und auch Jorgi fühlte sein Herz klopfen. Endlich knirschte der Deckel, hob sich an der einen Seite, und der Kranke sah mit Staunen eine Lage dunkler Veilchen und glaubte, die ganze Kiste wäre voll Blumen.

Ich schlafe und träume, dachte er; und in der gewissen Erwartung, daß er von einem Augenblick zum andern erwachen werde, empfand er weder Neugier noch Verwunderung mehr. Wer in aller Welt konnte ihm Blumen schicken, wer seiner gedenken wie eines lieben Toten, auf dessen Grab man die ersten Märzveilchen niederlegt?

Aber Petru hatte schon das Rosenpapier aufgehoben, auf dem die Veilchen lagen, und nahm nur andere Dinge aus dem Kistchen heraus, betrachtete und betastete sie mißtrauisch, als zweifle auch er daran, daß es Wirklichkeit sei.

Zuerst kamen zwei Bettücher zum Vorschein, so leicht und weiß wie Schnee; dann drei Damasthandtücher und gestickte Servietten, so fein wie das Altartuch in Santu Jorgi; dann mit einem himmelblauen Bändchen zusammengebundene Taschentücher, und schneeweiße Kissenbezüge mit einem gestickten Blumenzweig darauf; und zuletzt ein Blechkasten mit zwei gelben, hochbeladenen Kamelen darauf, die von zwei schwarz und weißen Beduinen durch eine rote Wüste geführt wurden, über die sich ein lilafarbener Himmel spannte, während am Horizont die grünen Palmen einer Oase aufragten. Mit zitternden Händen erfaßte Petru den Blechkasten und zögerte, ihn zu öffnen. Seine Blicke kreuzten sich mit denen seines Herrn: da lachte Jorgi nervös, unwillig über sich selbst und sein Staunen.

In dem Blechkasten waren Biskuits, so zart und fein wie Hostien.

Petru war enttäuscht: Hm, sie hätten auch frisches Gebäck schicken können.

»Das ist ganz was Feines,« sagte Jorgi ernsthaft. »Koste nur eins!«

»Eßt die nur selbst! Das sind Dinger für Kranke!«

Aber es waren noch andere Sachen darin: drei, vier Paketchen, mit gewöhnlichem Bindfaden umschnürt. Und wie sie die auspacken, öffneten und betrachteten, kehrten Herr und Diener zur Wirklichkeit des Alltags zurück: das eine enthielt Kakao, ein anderes Zucker, noch ein anderes drei Büchsen Sardinen und das letzte endlich einen Salame!

Aber während Petru sich freute und mit lauter Stimme berechnete, wie lange diese Vorräte reichen könnten, überkam Jorgi wieder seine gewohnte Empfindlichkeit.

»Es ist ein Almosen, sage ich dir! Wer kann das geschickt haben?«

»Wenn Ihr es nicht wißt, wer soll's denn wissen?«

»Ich weiß von nichts. Ich weise alles zurück.«

»Dann nimmt sich's der Postbote. Hört, Zio Jò, es ist schon besser, Ihr eßt es selbst. Es wird wohl die Dame aus Rom sein, von der Ihr neulich gesprochen habt …«

Er sagte es halb im Scherz, halb im Ernst. Und Jorgis Augen ruhten von neuem auf den Veilchen, und die Rührung des ersten Augenblicks erfaßte ihn wieder: Ein weibliches Wesen war es ohne allen Zweifel, das ihm dieses Geschenk geschickt! Und eine traumhaft liebliche Erinnerung zog an seinem Geiste vorüber: Die Erinnerung an einen Abend in Nuoro, unter den farbigen Lichtern und all dem Lärm des Festes: Damen kamen daher mit wiegendem Gang, als folgten sie dem Takt der von der Kapelle gespielten Weisen, und eine von diesen – vielleicht die schöne Unbekannte mit dem glitzernden Schleier? – mußte von seinem Unglück gehört und seiner gedacht haben … Sein ermattetes, doch noch nicht gestorbenes Herz pochte unregelmäßig wie das Herz eines aus der Narkose Erwachenden, das langsam wieder pulsiert und zum Leben zurückkehrt …

Doch wiederum verwandelte seine verwirrte Freude sich in Beklemmung, und er empfand beinahe Scheu, die Sachen zu betrachten.

»Nimm alles fort, Petru, lege es in die Truhe; ich will es nicht sehen … Mach' schnell und geh!«

Er kehrte das Gesicht der Decke zu und schloß die Augen; und Petru, der seinen Herrn kannte und wußte, daß seine Verstimmung bald vorüber sein werde, beeilte sich, alles wieder in die Kiste zu tun, legte das Rosapapier darüber und darauf die Veilchen; aber den Deckel deckte er nicht wieder darüber, ließ die Kiste auf dem Schemel stehen und ging eilends fort, weil er dieses Ereignis unbedingt jemand erzählen mußte.

Die Stunden vergingen, und die Aprilsonne mit ihrer milden und gleichmäßigen Wärme – so gleichmäßig wie ein treues Herz! – neigte sich bereits. Das Sonnenviereck war bis zu den Füßen des Bettes vorgedrungen, als wollte es hinaufklettern und den Kranken streifen; und die Kiste mit dem Rosapapier und den Veilchen brachte einen ungewohnten Farbenton in die graue Kammer. Jorgis Zorn legte sich, und als die rote Sonnenscheibe verschwand und einen großen veilchenfarbenen Schleier am Himmel zurückließ, schien die Veilchenfarbe auch über sein Herz einen Schleier der Ruhe und des Friedens zu breiten.

Nein, wer ihm dieses Geschenk geschickt, konnte keiner der gewöhnlichen plumpen Wohltäter sein! Er suchte im Geiste alle auf, die er in Nuoro gekannt, und dachte an die kleinen, von rohen Mäuerchen umschlossenen Gärten mit den großen steifen farblosen Kohlblüten und dem grünen Haar des Safrans; hin und wieder erschien auch wohl das blaue Auge einer Hyazinthe oder das Sammetbraun des Goldlacks; um all diese Veilchen aber mußte die Spenderin sich viele Male gebückt haben längs des von der Sonne beschienen, von den Steineichen beschatteten Pfades im göttlichen Frieden des Orthobene. Wer mochte es sein? Eine arme Magd? Oder ein barfüßiges Mädchen mit dem Holzbündel auf dem Rücken?

Wer es auch sein mochte: Jorgi fühlte sich in Zusammenhang mit dem unbekannten Wohltäter, mit ihm verknüpft für den ganzen Rest seiner traurigen Tage. Von weit her und ungesehen hatte jemand ihm eine Schlinge übergeworfen, wie der kleine Hirt in der Dämmerung, im Gesträuch versteckt, dem noch ungebändigten Fohlen die Schlinge über den Hals wirft: streut der Strick das Laub, so reißt er wohl ein Blatt ab; und das Fohlen zerrt an ihm, wiehert rebellisch – aber die Schlinge wird angezogen, und das noch ungebändigte Tier beruhigt sich allmählich und folgt dem kleinen Führer.

So spannen Jorgi Nieddus Träume ihren geheimnisvollen Faden weiter, und nicht einmal die Rückkehr des Knaben weckte ihn.

»Zio Jò, schlaft Ihr? Jetzt stecke ich das Licht an. Was für Augen Ihr habt! Habt Ihr Fieber? Soll ich die Kiste forttun?«

»Nein, laß nur.«

»Und wenn der Doktor kommt, wo soll er sich hinsetzen? Und was wird er sagen? Sollen wir ihm alles zeigen? … Wie gut die Sachen riechen! Aber jetzt ist Fastenzeit! Der Priester hat heute so schön gepredigt, sagt meine Mutter, daß alle mit offenem Munde dastanden. Sogar die verteufelten Weiber hier herum hören sich seine Predigten an. Nur Columba nicht, ich weiß nicht warum. Morgen kommt der Bräutigam wegen des Aufgebots und bringt die Geschenke; und auf der Straße sagten sie, er nähme sich zwei Karabinieri mit, soviel Wertsachen bringt er.«

Die Augen Jorgis füllten sich mit Tränen. Nun, so sei denn alles zu Ende, dachte er und wandte das Gesicht nach oben; mag sie sich verheiraten und fortgehen! Nachher werden sie mir vielleicht meinen guten Namen wieder gönnen. Doch was ist auch daran gelegen? Gibt es doch noch jemanden auf der Welt, der mich achtet, da er mir Blumen schickt …

Und dieser Gedanke, nicht die Nachricht vom Kommen des Bräutigams, war es, der ihn zum Weinen brachte: es waren Tränen der Liebe, nicht des Kummers, und sie kühlten seine heißen Lider.

Der Doktor verspätete sich an diesem Abend; endlich aber wurden auf dem stillen Höfchen langsame, schwere Schritte laut und eine Stimme, die in pathetischem Tone sang: »Dai campi, dai prati …«

Petru öffnete, und der große Mann trat ein in Pelzmütze und Pelzkragen, trotz des milden Abends; vielleicht war er deshalb röter im Gesicht als sonst; der Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Augen glänzten.

Während Petru vor dem Schemel stand, bereit die Kiste fortzunehmen, sobald der Doktor sie bemerkt, fühlte dieser dem Kranken den Puls.

»Es geht ja prächtig! Und wie bringen wir die Zeit hin?«

»Recht gut! Petru, nimm die Kiste fort.«

Er sagte es ganz sanft, und der Knabe nahm die Kiste, blieb aber hartnäckig vor dem Doktor stehen; doch der setzte sich, streckte die Beine aus und nahm weder die Neuigkeit wahr, noch die ungewohnte Freude, die aus Jorgis Mienen sprach. Auch er war vergnügt und lachte über das, was er erzählte: ein Jagdabenteuer, ein Zusammenstoß mit den Waldhütern, die ihn dabei betroffen hatten, wie er auf ein Rebhuhn schoß.

»Aber jetzt ist doch Brutzeit, Doktor! Wie können Sie jetzt jagen?«

»Ah, es ist Brutzeit? Ja, du hast recht: es ist Frühling; aber ist der Jäger etwa im Frühling kein Mensch? Ebensogut wie sonst, und er geht hinaus, in die freie Natur, und wenn er nicht jagt – was soll er sonst tun? Sich unter einen Baum legen und von Weibern träumen? Der Jäger ist kein Dichter! Er muß in diesen schönen Tagen aus dem Dorf, dieser offenen Galeere, heraus und eine Luft atmen, die nicht nach Schmutz riecht. Und ist er draußen, so vergißt er, wer er ist und warum er heraus kam; zwischen ihm und dem Himmel ist nichts als das Rebhuhn; der einzige Zweck seines Lebens also ist im Augenblick der, das Rebhuhn herunterschießen. Unterläßt er das, so fühlt er sich nicht mehr als lebendigen Menschen, als ein Wesen, das sich das Warum seines stupiden Daseins zu erklären vermag …«

»Sie sind ein Wilder … Tolstoi …«

»Geh' zum Teufel mit deinem Tolstoi: ich liebe, was mir gefällt, die Jagd, den Tabak, den Wein, wenn es sein muß … Du und dein Tolstoi, Ihr langweilt mich. Ich tue niemand etwas zuleide: die Tiere leiden nicht; und ich bin groß und stark und werde lange leben, während du mit deiner Nächstenliebe es gemacht hast wie die Klosterschwestern, die sich freiwillig einsperren lassen. Ich will frei sein, ja frei,« schrie er, und das ganze Zimmer erzitterte vom Aufschlagen seines Stockes; »frei sein will ich und auf euch alle pfeifen, ihr Barbaren oder Degenerierte, die ihr seid. Ich gehe, wo es mir gefällt, und das Wildschwein und der Falke sind die einzigen Feinde, denen nachzustellen mir der Mühe wert ist. Auf euch Menschen pfeife ich; und wenn ich morgen eine Tollheit begehe, die euch keinen Schaden tut – was geht's euch an? Ich tue, was mir gefällt!«

Mit dem Doktor zu streiten, war zwecklos, denn häufig genug wechselte er seine Meinung und schrie am lautesten, wenn er vergnügt war. An jenem mußte er also wohl sehr vergnügt sein: Weshalb? Ein schalkhaftes Lächeln kräuselte Jorgis Lippen. »Und hat Margherita wieder einen Geist gesehen?« fragte er.

Der Doktor beruhigte sich nicht nur, sondern lachte und sang: Margherita, non sei più tu … »Jetzt will ich dir erzählen, was das einfältige Ding getan hat …«

Petru schlich sich leise näher und stellte sich hinter den Doktor; und die Schatten der beiden Köpfe: der eine ungeheuer und in ständiger Bewegung, der andere regungslos und scharf umrissen, bedeckten die ganze Rückwand des Zimmers.

»Das einfältige Ding also hat ihre Zuflucht zu Eurer Ärztin genommen, die ihr wie gewöhnlich ihren Mischmasch zu trinken gegeben hat. Und es scheint, der hat ihr die Seele um und umgekehrt. All diese Tage war sie melancholischer und einfältiger als je. Als ich heute von der Jagd komme, finde ich sie ganz verdummt am Boden liegen, und weißt du, lieber Freund, was sie sagt? Sie hätte eine Schlange im Magen. Nun, so krepiere, sage ich ihr. Und sie weint, umfaßt meine Knie und fleht mich an, ich solle ihr ein Gegengift geben … Na, das habe ich getan: zwei Unzen Rizinusöl, und als ich ging, weinte sie noch immer. Ja, sie ist schrecklich einfältig, aber wenigstens nicht schlecht, sie scheint ganz uninteressiert …«

»Sie sind ein schöner Mann, Doktor!«

Der schöne Mann lachte. »Du meinst, sie sei imstande, sich aus Liebe hinzugeben?« fragte er auf Französisch, sich an Jorgi wendend wie an einen Mann von Erfahrung, der die Psychologie des weiblichen Herzens besser kenne als er. »Nun, ich habe ihr rund heraus gesagt, daß ich sie nicht heiraten werde. Ein Bürgermädchen mochte ich nicht – stell' dir also vor, ob ich mich einer Bauerndirne wegen ins Joch spannen werde! Aber sie gab mir zur Antwort, sie sei auch so zufrieden. Sie hat eben eine Sklavenseele: abergläubisch, barbarisch und komplizierter als die modernste Frauenseele. Die Geschichte mit dem Geist hat sie erfunden, bester Freund! Ich hatte sie nicht gerufen, damals, sie kam von selbst in mein Studierzimmer und sagte, sie wollte fort, weil ich sie dreimal an einem Morgen gescholten hätte. Ich jagte sie hinaus und sagte ihr, wenn sie ginge, täte sie mir den größten Gefallen. Das war der Schrecken, daß ich sie wirklich fortschicken würde. Ganz geduckt kam sie wieder herein, und dann … kam es, wie es kommen mußte. Sie küßte mir die Hände, und ihre Lippen brannten. Sie sagt, sie habe mich geliebt, seit sie zwölf Jahre war: es scheint, daß sie damals krank war und ich sie gut behandelte … Genug, ich werde sie bei mir behalten, und das ist mir ganz recht – aber heiraten: nein, daran braucht sie nicht im Traum zu denken. Nein, lieber Freund, an Liebe glaube ich nicht, weder bei den Frauen, noch bei den Männern; alles ist bloß Instinkt, Interesse, Gewohnheit.«

»Dann,« sagte Giorgio, ebenfalls auf Französisch, »werden Sie also früher oder später, wenn Sie ihrer überdrüssig sind, Ihre Magd fortjagen …«

»Nein, das nicht!«

»Nun, wenn Sie sie bei sich behalten, so heißt das doch, daß Sie sie gern haben; und wenn Sie sie bei sich behalten, auch wenn Sie ihrer nicht mehr begehren, so heißt das doch, daß es Liebe gibt: Wir legen ihr nur verschiedene Namen bei, nennen sie Pflichtgefühl, Verehrung, Zuneigung, Mitleid, auch Gewohnheit … aber im Grunde ist alles Liebe!«

Er dachte an die Veilchen, an die unbekannte Geberin, und da der Doktor spöttisch lachte über seine ungewohnte Schwärmerei, offenbarte er ihm schließlich deren Ursache.

»Hören Sie, Doktor, jemand hat mir Blumen geschickt … Mir, verstehen Sie? Das heißt also, daß ich jemandes Mitleid erregt habe; aber wahres Mitleid, das ist wahre Liebe … Ich bin so glücklich, daß ich meine, ich müsse von einem Augenblick zum andern genesen. Petru, zeige dem Doktor …«

Flink nahm der Knabe die Kiste und stellte sie vor das Bett – zog sie aber sogleich wieder zurück, weil der Doktor Anstalt machte, mit seinem Stock darin zu wühlen.

»Sie lachen, und doch ist's so,« wiederholte Jorgi, während Petru die Kiste auf die Truhe stellte und die Sachen von fern dem Doktor zeigte, der laut auflachend den Kopf schüttelte. »Ja, ich bin glücklich! Es ist, als wäre damit eine Brücke über den Abgrund geschlagen, an dem ich stehe, eine Brücke zur Welt. Könnte ich doch aufstehen, Doktor!«

Der stand auf, schlug mit dem Stock auf den Boden und heftete seine glänzenden Augen auf die des Kranken, als wolle er ihn suggestionieren: »Wenn du willst, so kannst du. Stehe auf!«

Doch Jorgi lächelte trübe: »Sie sind nicht Christus!«

Und daß er nur ein Mensch war wie alle andern, das bewies der Doktor, indem er zu Petru trat, ihm die Sachen aus der Hand nahm, sie neugierig betrachtete und seine Vermutungen über ihre Herkunft äußerte.


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