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Die Sinfonien

Die Sinfonien bedeuten zunächst ethische Fortführung der Kirchenmusik in den Formen der Profanmusik. Aber die zweite tiefversenkte Naturkraft, der Heide im christlichen Bruckner, drängte zu Äußerungen, denen die Kirchenformen nicht mehr genügten. Die Natur, die strenge Einheit des Charakters nur in Feldwebelstuben liebt, pflegt ihre Prachtexemplare aus vielen Erden zu mischen. Den seelischen Ausgleich, Ruhe in Gott zu finden, bildet das Thema des sinfonischen Kampfes, der sich nun erhebt. Noch hat die ganze Fülle der Seele nicht geklungen, noch nicht der Gläubige seine volle Wirklichkeit, sein Verhalten zu Gott und Natur bekannt: das muß hervor, muß, aus dem Innersten gepreßt, zu Form und Klang werden. Es kostete den Künstler ungefähr sieben Jahre schwerster Anstrengung – etwa von 1866 bis 1873 –, um, zu seinem Selbst vordringend, ihm die Wahrheit zu entreißen. Das immer von neuem Ergreifende der Brucknerschen Sinfonie liegt auch zum größten Teil an der prachtvollen Ehrlichkeit, mit der nur Kind oder Genie seine Erregungen bloßlegt. Diese Entwicklung, an die sich stilistisches Sicherwerden und Sichverfeinern, Gewinnen des letzten großen Niveaus im Hochbrucknertum schließt, soll im folgenden betrachtet werden.

Die Erste Sinfonie, komponiert 1865/66 in Linz, ist nicht die allererste. Gräflinger kennt auch eine in d-moll. Dann geht noch vorher eine Sinfonie in f-moll, komponiert 1863, ein Studienwerk, das Bruckner bei Kitzler vollendete. »Es war dies mehr eine Schularbeit, zu welcher er nicht besonders inspiriert gewesen war, und konnte ich ihm über dieselbe eben deshalb nichts besonders Lobendes sagen: Über diese meine Zurückhaltung schien er gekränkt, was mir bei seiner unendlichen Bescheidenheit auffiel. Später, nach Jahren, gestand er mit Lachen, daß ich doch recht gehabt hätte.« – Die Universaledition hat das Andante aus dieser f-moll-Sinfonie herausgegeben: es zeigt klassische Abkunft und stellenweise die Klaue des Löwen.

Die als Erste bezeichnete Sinfonie steht in c-moll, sowie die Zweite und die Achte Sinfonie. Als Einfallskünstler änderte Bruckner die Tonarten nicht ab, mochte es praktisch sein oder nicht, so wenig wie er die Tonart seiner Neunten änderte, die wie die der Beethovenschen Neunten d-moll ist: »Es ist mir halt so eingefallen«.

 

Die erste Aufführung der c-moll, Nr. 1, in Linz, 9. Mai 1868. Instrumentale Umänderung zwanzig Jahre später und Aufführung in dieser neuen Gestalt in den Wiener Philharmonischen Konzerten, 13. Dezember 1891. In Linz: 20. März 1898, wobei das Werk unter August Göllerichs Leitung wahren Jubel erregte. Erste Aufführung in Deutschland: 1898-1899 in Mannheim durch Kapellmeister E. N. von Reznicek, dann Oktober 1902 in Berlin durch Richard Strauß mit dem Berliner Tonkünstlerorchester. –

Mit dem Hauptthema der Violinen über Viertelbässen setzt die erste Szene eines sinfonischen Seelenbildes ein, die charaktergebend ist wie ein erstes Romankapitel, ein eröffnender Auftritt. Shakespeare wetterleuchtet so über die Bühne im Lear, Balzac wirft so erste Symbole aus wie Bruckner in seiner Freiheitssinfonie. Ungebärdig stößt das Kopfthema um sich, nimmt in bockigem Sprung die Sext, die Oktave, und rumort wie in einem Käfig. Seine zornigpunktierten Rhythmen, seine rechthaberischen Vorhalte (Takt 10-13), das neue eckige Baßthema mit Sprungoktav und mit Sextolenrollen – alles spricht von Protest, von Freisein- und Nach-eignem-Kopfvorgehen-wollen. Hier herrscht nicht mehr die kirchliche Gebärde, hier geht's sehr weltlich, zerrissen und rauflustig zu: die Gemütsunruhen des Diesseits.

Eine sehr knappe Überleitungsgruppe – die Holzbläser haben nur sieben Takte Zeit dafür – beruhigt die Aufgebrachtheiten für den Augenblick; aus Es-dur löst sich ein edles Gesangsthema und bildet einen schönen Kontrast für ein erstes, singendes Allegro. Aber noch wird hier nicht von der Heimat gesungen – der Künstler lebt in der Heimat selbst – erst später, in den Wiener Jahren, wird er sich sehnsüchtig dahin zurückwenden, und dann finden an dieser Stelle, im Seitensatz, alle Ländlerlüfte ihren Platz.

Zu breiter Lyrik ist überdies nicht viel Zeit: schon stapft die Wucht eines Unisono einher, von Violinen umspielt, von figurierten Bläsern begleitet, dazwischen hartnäckige Oktavrufe der ersten Trompete, des dritten Horns, die Figurenwelt der hohen Streicher wird erregt – Sturm in den Wipfeln – und aus der Tiefe wächst ein hymnenartiges Gebilde der Trompeten und Posaunen, wie in der Wut empfangen. Es kümmert sich nicht um Linie, um Glätte, ein echtes Sturzthema will es zermalmen: Quos ego! Aus seinen weit gespreizten Schritten sieht man die Tritte des Organisten: man kann es auch ein Pedalthema nennen. Nach diesem Sturmangriff in der Schlußgruppe tritt seelische Beruhigung ein: Aufatmen, Sichsammeln, und zwar mit einem kleinen, weichen Folgemotiv der Holzbläser, Festsetzung auf Es-dur, erster tiefer Einschnitt im sinfonischen Bau.

Der Vortrag entwickelte also bisher: ein gruppiges Hauptthema, eine kurze Überleitung, das Gesangthema und die Schlußgruppe mit einer breiten Entladung. In ziemlich gedrängter Form (15 Partiturseiten) wurden die geistigen Energien gesammelt, die Konflikte vorbereitet. Aus der Kitzlerschule hervorgegangen, entwickelt der junge Sinfoniker die Form genau, erfüllt sie aber mit ganz individuellem Erlebnis: ein neuer Stürmer, ein neuer Mensch tritt auf.

Auf diesen Satzeinschnitten verweilt Bruckner gern in lyrischem Spiel, er zögert, um sich Mut zu machen – Großes steht bevor: wie im Überfall setzt die Plötzlichkeit der Bläserhymne mit wilden Umspielungen ein. Der Künstler kommt auf seine Erregung zurück, sie ist ihm Haupt- und Herzangelegenheit. Der Hörer hat seinen Seelenzustand gesehen, er ist vorbereitet zur eigenen Produktivität: Die Durchführung läßt das formgewordene Kräftespiel sehen. Alles wird versucht, das lyrische muß sich mit dem Protestthema messen – wer ist stärker? offenbar der härtere Schädel – die Sextolenskalen, die Oktavenschreie werden aufrührerisch, es kommt zu unheimlichem Fortstürmen über alle seelischen Akzente – Paradieseshelle und tiefe, schauervolle Nacht – von halbem zu halbem Takt, dann von Viertel zu Viertel wechselt FF und pp in den Skalenungewittern, bis die faustische Gewalt entladen ist – – die Sextolen sinken zur Dominante, der erste Teil kann wieder beginnen, die halbvergessene Form sich wieder bemühen.

Die Wiederaufnahme ist sinngemäß nur etwas verdichtet (keine Überleitung zwischen Kopfthema und Gesang); nach der Schlußgruppe wird noch weitergekämpft: die Trompete mit dem Gesangsthema versucht gegen das Protestthema durchzustoßen, schon ganz der Prinzipienkampf, den der spätere Bruckner (8. Sinfonie) entfesselt.

In der Coda rasen die Unisonostreicher voll eigensinniger Leidenschaft ihre Thematik zu Ende. Sextolengeschmetter der Hörner. Hundert Stimmen rufen: Quod nego! Unwirsch, unversöhnlich ist die Gebärde, mit der der Satz schließt.

Der zweite Satz führt diese Stimmung ergänzend und aufklärend fort: wer so ungebärdig und tobend ist, ist ein heimlich Leidender. Nur Nacht und Einsamkeit wissen von ihm. Daher die langsamen, stöhnenden Motive der tiefsten Streicher, die bis zum Gipfel hoffnungslosen Schmerzes aufsteigen, ein Schmerz, der sich in seine eigenen Tiefen vergrabend zurückstürzt (was der breitzerlegte verminderte Septakkord vom ges herab wohl andeutet). So sieht die Wirklichkeit dieser Seele aus. Zum dumpfen Gemurmel der Pauke ein lichter dreistimmiger Flötenchoral, wie ein fernes Hoffnungslicht, dann im Brucknerschen Prozessionsrhythmus ein Klarinettensätzchen, das zum zweiten Teil führt.

Über Quintolenunruhen der Bratschen geht eine selbst unruhevolle, fahrige Violinmelodie umher. Harmonische Wendungen und Sextolen der zweiten Violine singen dasselbe Lied von seelischer Friedlosigkeit, die Melodie steigert sich ins Hohe, sinkt aber ergebnislos nach B-dur zurück: sie »kommt nicht weiter«, in keinem Sinn … Erst dem folgenden Dreivierteltakt scheint das Weiterkommen vorbehalten zu sein. Es entwickelt sich ein milder, in die Sinnenwelt sehnsüchtig und sehnsüchtiger emporstrebender Gesang, der in Es versöhnlich schließt. Ist es Verlangen nach den Freudengütern dieser Welt? Später übernehmen die Klarinetten diesen neuen Gesang (C), dazu aber ertönt in den Hörnern der Ernst eines mahnenden Chorals als geistiger Gegensatz: ein wunderbares Selbstgespräch des Künstlers, der, um seine Seelenreinigung ringend, diese Doppelbildung in reizvollen Kombinationen fortführt.

Die Durchführung oder Variierung (E) beschwört wieder das mystische Passionsthema des Anfangs. Es erscheint in den Bässen und erhebt sich, zwischen vielen neuen Stimmen hinwandelnd, zu seiner vollen Gewalt. Auch das Unruhemotiv mit dem Sextolengang erscheint wieder, gelangt nach As-dur, wo zwar ein Abschluß, aber doch kein Gleichgewicht erreicht wird. Drei Posaunen – die Hörner fehlen – geben diesem Ausklang einen besonders feierlichen, kirchlichen Ton; aber in dieser letzten Stille bebt die Leidenschaft des ruheverlangenden Beters.

Unvermittelt brechen die angesammelten Leidenschaften in dem Scherzo (g-moll) wieder hervor. Die kämpferische Gebärde der Sinfonie setzt sich fort. Das Scherzo hat nur das Außen mit dem überlieferten tänzerischen Satz gemein. Acht Takte tobt zerlegtes g-moll, dann taucht, unheimlich, abgerissen, das Thema in Violinen und Bratschen auf. Ein Wildfangmotiv. Eigensinnig betont es die Non, es läuft wie halbirr aus der Harmonie hinaus, als wollte es allein sein. Dann ein neuer Losbruch aller Affekte, die im Sturm den ersten Halbschluß (d-moll) erreichen. Die Durchführung ist selbst formgewordene Unruhe, das Hauptmotiv mit seinem menschenscheuen Schluß wird zwischen wallenden Zerlegungen der Streicher von Flöte zu Fagott, zu Horn geschleudert. Im Kombinieren, Auswerten von Kontrastschönheiten werden Beethovensche Scherzokünste lebendig (Sechste Sinfonie). Dann formgerechte Wiederholung des ersten Teiles und Abschluß dieses gar nicht scherzenden Scherzos.

Das Trio gehört zu den eigenartigsten Gebilden moderner Orchesterlyrik. Es wird von einem Quartenmotiv des Horns beherrscht. Eigentümliche Fernklänge entstehen durch eine kleine harmonische Rückung, schon so romantisch wie die später in der Romantischen Sinfonie verwendeten Mischklänge. Dazu trägt auch der von Riemann sehr treffend als »ortlos« bezeichnete Hornklang bei. Delikate Violinstakkati spielen leicht darüber hin, drängende Holzbläsermelodien unterbrechen bis zum Wiedereintritt der von irgendwoher rufenden geheimnisvollen Hornstimme.

Auf des Sturmes Mantel fährst du hernieder,
Mächtiger Genius;
Weithin flattert dein Haupthaar.
Doch im Frühlingswinde auch kommst du,
Lächelnd, die Schläfen von Veilchen umwunden …

Man könnte die etwas goethelnden Verse Julius Harts der ganzen Ersten Sinfonie vorsetzen, mindestens dem Finale. »Bewegt und feurig« ist seine Überschrift, die sich bei den späteren Finalsätzen nie mehr findet. Im vollen Unisono bricht das »Sturmmantel«motiv herein, ein Thema mit Sprungoktav und Nachdrängesekunde. Erregte Streicher schwirren, die Sekunde verkürzt sich, treibt weiter, stürmt über Hindernisse. Dreinschlagestimmung, etwas Liliencronhaftes, klingt aus der Jugend dieses Satzes. Ein Austoben und Umsichhauen, das der Selbstbefreiung dient. Bruckner, der Abkömmling morgensternschwingender Bauerngeschlechter wird hörbar.

Ein zweites Seelenbild ist das singende Gegenthema in Es, dessen Schlußtriller fast nach Erden- und Minnelust girrt, und dessen synkopierte Bratschenstimme wieder etwas zaghaft Verlangendes hat, das nicht Besitz zu ergreifen wagt: das lächelnde Frühlingsmotiv.

Formell liegt kein Rondofinale, sondern ein zweiter »Erster Satz« vor, und der unbekümmerte Künstler gewinnt schon hier die ihm eigene Form des Kron- oder Gewichtsfinales. Sonst ist alles höchst formgerecht. Sturmmantelthema und Frühlingsmotiv bilden die Durchführung. Zuletzt wendet sich der Künstler mit Siegerwillen nach C-dur, in welcher Befreiungstonart nur das Kopfthema eintritt, das den Ausklang ganz beherrscht. Es ballt sich akkordisch-gebieterisch zusammen, nimmt gewissermaßen eine Gloriaform an, als sänge der Chor sein Messengloria, die große Schlacht um das Leben, das ist die Sinfonie, wird gewonnen.

Die kämpferische Grundgebärde, der unwirsche Ausdruck, die zornige Kraft des Werkes hat etwas Beethovensches. Die robuste Naturkraft wird nur im Adagio christlich gebeugt. Noch fehlen die überindividuellen Züge des späteren Bruckner, die individuellen sind überdeutlich: die knorrige, sonderlinghafte, fast provinzgewachsene Themenbildung, die Sprungoktave, die Sextolenweite, das Unisono, das Sturzthema. Noch kennen die Hauptthemen nicht Entfaltung in Urschritten, noch kocht's und brodelt's in den Kesseln der Erfindung, aber auch die Auswählerei kennt der junge Bruckner nicht; er hält sich an Beethoven und an sich selbst (Tannhäusereinflüsse im ersten Satz sind wegen anderer Rhythmisierung der Figuren fraglich).

Die Linzer Hörer waren wohl von ihrem frommen Messen- und Ave-Maria-Komponisten ein wenig überrascht. Noch heute, wo wir das Ganze leicht überschauen, fühlt man das Ins-Grenzenlose-Wollen des Jungbrucknertums. Die Linzer Aufführung gab ihm zu denken, die Zweifel erwachen, noch hat er sich, im Sinne der Romantiker, nicht »gefaßt«: sunt certi denique fines, er sucht sich. Zunächst beeinflußt seine ethische Haltung das neue Erlebnis: Wien.

*

Die Zweite Sinfonie (c-moll) wurde 1871-1872 in Wien komponiert und daselbst unter Bruckners Leitung am 26. Oktober 1873 aufgeführt. Zweite Aufführung im Wiener Gesellschaftskonzert vom 26. Februar 1876, erste Aufführung bei den Philharmonikern 25. November 1894. In Deutschland 1896-1897: Heidelberg (zweite Akademie des Bachvereins unter Univ.-Mus.-Dir. Phil. Wolfrum). Dann in Stuttgart durch Pohlig (30. Jan. 1902), in Berlin durch Nikisch (2. Philharm. Konzert 27. Okt. 1902) u. s. w. Seit 1868 hatte Bruckner kein sinfonisches Werk seiner Hand mehr gehört. In der neuen Zweiten Sinfonie machen sich Wiener Einflüsse geltend.

Nach der »Unbekümmerten Sinfonie« scheint er, wie vor sich selbst erschrocken, zur Mäßigung gestimmt. Das Knorrig-Wildwüchsige verschwindet und macht glatteren Bildungen Platz, deren Haltung entgegenkommend und gesittet ist. Immerhin geht die Mäßigung nicht zur Selbstverleugnung: das Hauptthema der Zweiten Sinfonie fällt so brucknerisch aus, daß es 24 Takte lang wird.

Es erscheint unter Sextolen hoher Streicher in der Tenorstimme der Celli, chromatisch absinkend, von den Hörnern mit sinkendem Molldreiklang fortgesetzt, eine melodische und eine harmonische Klage. Alles duckt sich piano, kein Protest erhebt die Faust. Das Thema belebt sich rhythmisch, gewinnt aber keine Aufschwungslust, keine Neigung zur Prachtentfaltung: – bald sinkt es auf die Dominante, sucht den Ruhepunkt, die Tiefe. Als ob etwas auf dem Künstler liege, seine Brust beschwere und bedrücke. Ist es die Luft der Kaiserstadt? Das Bewußtsein der Selbstbescheidung?

Das zweite Thema ist ein Cellogesang, der in den Armen wiegender Geigen ruht. Der Gesang schwillt, spannt sich in seligem Bogen über Ges-dur, Bratschen murmeln darunter wie Bäche, in einem Kontrapunkt, der seines steifen Namens spottet, versammeln die Violinen alle Wärme, der Violinen fähig sind: wenn der Künstler jetzt an die Heimat zurückdenkt, geht ihm das Herz auf: dort ist der Friede, das Obst, das Korn, und der Herr Prälat, mit dem man aus dem Sommerrefektorium über das blühende Land schaute. Heimweh brachte den österreichischen Klang, nach Franz Schubert, wieder in die Sinfonie.

Die anknüpfende Schlußgruppe mit einem Triller-Stoß-Motiv reißt nicht fort wie sonst Brucknersche Unisoni, bindet auch kein erregtes Gefühl; sie schleicht matt, etwas ernüchtert und macht fast den Eindruck formeller Anwendung. Auch ertönt kein Choral wie in der »Unbekümmerten«, keine vorbereitende Konfliktsstimmung. Der Tondichter weicht einer Entscheidung sichtlich aus. Die Durchführung erhebt eine breite thematische Klage, ernst, eindringlich, nicht kleinlich; aber mehr formell als ideenhaft wird sie von der Schlußgruppe kontrapunktiert. Das Heimwehthema erscheint im epischen Zusatz, nicht im Gegensatz, nirgend zeigt sich die alte Rauflust, geschweige Entladung im Hochgebirgsdonner. Man widerspricht nicht. Man läßt sich, was gefällig ist, gefallen.

Im Adagio (As-dur) sind gesenkte Stimmungen versammelt. Gottnähe … Man fühlt eine seltsam-ergebungsvolle Weihe, wenn die beiden Violinen einander übergreifend das vorhaltige Gesangsthema anstimmen. Man hört eine Verlassenheitsgebärde, wenn dann in f-moll unter scheuen Pizzikati eine Solohornstimme in aparter Linie geht und so Tiefes zu wissen scheint. Man sieht kindhafte Frömmigkeit und Reinheit, wenn die fortgeführten Violinterzen in altklassischer Kadenz beim Halbschluß ankommen. Aber der Sinn alles dessen wird erst gegen Ende in einer kodaartigen Melodik klar; anknüpfend und doch als Zitat hervortretend ertönt das Baßsolo aus der f-moll-Messe: Benedictus qui venit. In jener schweren Krisenzeit trat zu dem Menschenverlassenen die Gottheit, ihre Gnade heilte und rettete, und dieses Adagio ist nun das Votivgeschenk des Genesenen: eine Art weltlicher Wiederholung jener Kirchenlyrik mit ihrem mystischen Glauben an den, der da kommt … Gesteigert in zwei Variationen, eine höher als die andre, wächst der Dank, indem er dargebracht wird. Kein Kreuztragen, kein Zerknirschtsein wie im Adagio der Ersten Sinfonie. Ein Lobpreisen und ein verklärtes Aufblicken, wenn zum Schluß die gedämpften Violinen auf hohen As-dur-Klängen entschweben, der Weihrauchwolke gleich, die sich im Dom verliert.

Ein Bauernthema, die grobgenagelten Achteltritte auf dem schweren Taktteil, poltert ins Scherzo. Später einmal, in der Siebenten Sinfonie hat der Künstler diese Rhythmik Noten als Begleitungsfigur verwendet, hier ist sie noch regierendes Motiv, reißt Bässe an sich, die mitlaufen müssen, stelzt selbst im Baß umher, springt in die Pauke, stürmt mit Halbschlußabsichten über einen Trugschluß, wird gemütlich, trägt mit Vergnügen einen Flötenländler in E-dur (was mit dazwischen wallenden Geigen ein sehr hübsches Partiturbild ergibt), treibt die Streicher wie eine aufgeschreckte Herde vor sich her, dröhnt panisch in den Trompeten und löst, in Schwung und Übermut gekommen, seine Scherzoaufgabe in altgetreuen Kadenzen, ganz wie Schubert abgeschlossen hätte. In der Coda aber klingt es vorahnend: später wird die Plumpheit einmal zur Scherzograzie der Neunten Sinfonie werden.

Im Trio tritt die Bratsche als Mezzosopransängerin auf. Unter dem Tremolo ganz hochgenommener C-dur-Violinen ist ein seliges Jauchzen, auf und ab, wie jemand an einem schönen Sommertag, die Hände unter dem Kopf, am Waldrand selig zu werden beginnt, erst in diatonischer Ländlichkeit, dann modulierend und künstlich, über E und As, aber immerhin noch mit Volksliedbewußtsein und althergebrachten Halbschluß-Pflichten. Diese Weise läßt ein vergnügtes Wiederholungs-, Variierungs- und Imitationsspiel zu, die Sängerin verstummt, Horn und Flöte summen ihr leise nach, und alles entschläft im C-dur, pp. Ein reizender Einfall befriedigte so das Kontrastbedürfnis des Künstlers nach dem Scherzo. Er ging wieder einmal nach Oberösterreich, tanzte, polterte, lachte, träumte, ohne viel zu denken, und schuf ein apartes sinfonisches Naturbildchen.

Das Finalthema hat noch Gedanken aus dem Scherzothema im Kopf: seine störrische Triole auf dem schweren Taktteil, sein drängendes, steigerungssüchtiges Wesen, seine Poltermanieren erlauben diesen Schluß. Zu ihm gelangt man freilich erst nach einer 32 Takte langen Einleitung, einem Vorhof, der eine Art aufgelösten Orgelpunkts darstellt. Weit sind die Bogen des Satzes; seine Längenmaße, sein rhythmisches Partiturbild (zum Schluß mit punktierten Vierteltriolen) schubertisch. In einer Steigerung bringt uns der Künstler nahe an Des-dur heran, wir halten schon auf der Dominante und wollen eben hinabsteigen –, da wird des mit cis verwechselt, und wir kommen in ein bukolisches A-dur-Gebiet, in dem Violinen sich wiegen und wo es so gemütlich hergeht wie im Gesangsthema des ersten Satzes: der finale Seitensatz. Bruckner liebt diese Überraschungseintritte und, die Heiterkeit solcher Umdeutungstechnik im voraus auskostend, war er gewiß weniger davon überrascht als die Hörer: und dies gehört zu seiner Überlegenheitsgeste. Wie zu erwarten, erregt das Triolenthema – man sieht es ihm am Gesicht an – eine stürmische Durchführung, es wird zuletzt in den Trompeten ganz tobend, ein Unisono schwillt an und reißt zu unbekanntem Ziel –, da plötzlich: Halt. Ein Choral der Streichinstrumente. Ein In-die-Knie-Sinken. Eine feierliche Akkordmelodie ertönt wie aus andrer Weltgegend, unverkennbar kommt sie herüber aus den Kyrie-eleison-Gebeten der f-moll-Messe. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.

Die Sünder, ob sie gleich in lauter Freude leben,
So muß doch ihre Seel in größten Furchten schweben.

Hier hat das Ethos des Tondichters Klang und Gegenwart gewonnen … Unsere alten sinfonischen Hörergewohnheiten vertrugen anfänglich diesen rhythmischen Einschnitt nicht, das Anhalten im Ablauf; aber sowie wir die Stelle aus dem Ethos heraus anhören, gewinnt sie Bedeutung, und wir folgen still und ehrfürchtig. Wie auf Zehenspitzen schleichen von diesem heiligen Ort Streicherpizzikato und Holzbläserachtel fort, wieder beginnt das Spiel der Welt im Bilderbunt von Trotz und Lust, und endet nach klassischer Art mit einer kriegerisch-siegerischen C-dur-Stretta. Aber vorher, kurz vor dem Schluß, erhebt sich absichtlich zurückhaltend die choralartige Stimme der Trompeten und Posaunen (Buchstabe S) noch einmal. Trotz dieser Einbauten ist die rondohafte Form, der Wechsel dreier Themen in vier Abschnitten klar. Und es bedarf einer erklärenden Tabelle wohl nicht.

Wir verlassen die Sinfonie überhaupt ohne Fragen. Und wo keine Frage, da auch wenig Erlebnis. In den überlieferten Stimmungsgruppen findet sich schon die Brucknersche Gebärde, aber sie bestimmt noch nicht die Gruppen. Die Gegensätze werden nicht gebunden, sondern episch aufgereiht, der Künstler ist sich seiner Riesenkraft bewußt, doch zieht er es vor, zahme Musik zu machen, aus der freilich die Gewalten durchblitzen wie nahe Gewitter. Der Ausdruck will nichts übersteigern, die Form wird eingehalten, zwar gedehnt, aber nicht gesprengt. Die Ethosentwicklung ist noch nicht vollzogen, der Musiker will eine Sinfonie schreiben, kein schrankenloses Bekenntnis. In der ersten Sinfonie ein Gemisch von protestierenden und religiösen Stimmen, aus einer gährenden Seele rufend –, hier ein fast absichtlich zurückgedrängtes ethisches Bewußtsein. Es ist ablesbar aus der »gesitteten« Haltung des Werkes, das bei seinen Wiederholungen denn auch mit Wohlgefallen aufgenommen wurde.

*

Vollentwickelt ist das Brucknersche Ethos in der Dritten, der Wagner-Sinfonie in d-moll. Am 31. Dezember 1873 abgeschlossen, kommt sie ins Wiener Gesellschaftskonzert am 10. Dezember 1877, in die Philharmonischen Konzerte (nach kleiner Umarbeitung) am 21. Dezember – 1890. Weitere Aufführungen in Wien sind: 25. Januar 1891 (Musikaufführung des Wagnervereins, geleitet von Hans Richter), 9. Juli 1892 (Populäres Sinfoniekonzert in der Theater- und Musikausstellung, geleitet von Ferd. Löwe), 9. Januar 1898 zweite Aufführung in den Philh. Konzerten, 17. März 1900 (Fünftes Sinfoniekonzert des »Neuen philharmonischen Orchesters«, aus dem später das Konzert-Vereins-Orchester entstand, geleitet von Ferd. Loewe); 2. April 1900 (zweites außerordentliches Konzert des Neuen philh. Orchesters, auf Verlangen aus dem 5. ordentlichen wiederholt). In Deutschland: Dezember 1885 in Frankfurt, Museumskonzert unter Leitung Müllers. 1897/98 Oldenburg, 1899/1900 Breslau; 1902/03 Leipzig (Nikisch), Mannheim (Kaehler). In Berlin 1901/02 namentlich durch Richard Strauß und das Berliner Tonkünstler-Orchester, auch auf Kunstreisen in einer Reihe von Provinzstädten. Als diese Sinfonie am 18. März 1894 in den Lamoureux-Konzerten zu Paris zum erstenmal erschien, enthielt das Programm folgenden Vermerk: »Le grand public ignorait encore à Vienne tout ses œuvres, lorsque Hermann Lévi fit exécuter à Munich en 1886 sa septième symphonie, qui obtint un succès extraordinaire. Alors seulement la Société philharmonique de Vienne se décida à jouer des œuvres de Bruckner …«

Die d-moll-Welt klingt auf: Viertelnoten der Bässe, Dreiklangszerlegung der in Sechzehnteln schwirrenden Bratschen und der einander nachahmenden beiden Violinstimmen. Im vierten Takt die Trompete mit dem gehaltenen Urschrittthema d – a – d, dem folgenden melodischen Aufstieg und Abklang in die Oktave.

Ein neues Thema! Das war nicht die Sprache, die schon andere gesprochen hätten. Das war Verkündigung und Stolz des Eignen. Dieses Trompetenthema protestiert nicht, dieses Thema bestimmt erst zart, wie aus der Ferne rufend, später aus der Dominantwelt heraus (a) immer bewußter: »Es muß so sein!« Es entwickelt sich, es ballt sich, holt verdichtend und verkürzend, neue Energien aus sich selbst heraus. Bei Beethoven gab es die bange Frage: »Muß es sein?« Hier ist ein Überzeugungsruf: »Es muß so sein!«

Aber dem Gottesgedanken tritt von Anfang an in skalig niederstürzender Unisonowucht ein Gegensymbol entgegen mit allen Zeichen bewegten Lebens; kaum ertönt, duckt es erschrocken vor sich selbst zusammen und kriecht wie im Staub, ermannt sich, bäumt sich auf, zeigt robuste, sinnliche Naturkraft, bis es, sein störrisches Wesen verlierend, singend wird und sich zuletzt in Vierteltriolen der Flöte wie in die Luft verliert. Wer ist dieses Motiv? Welches Erlebnis kündet es an?

Mit der Heiterkeit des Umdeuters – wir kennen diese warme Technik schon – setzt der Künstler inzwischen sein Gesangsthema: F-dur. Die große Gebärde Dessen, der Segen der Felder und Wälder kennt, der sie preist und nie vergißt, wie Rosegger sie gepriesen und nie vergessen hat, wird Gestalt. Die singende Bratsche liegt mittelstimmenhaft geborgen unter der kosenden zweiten Geigenstimme, das Horn summt nach – wo Vergangenheiten tönen, kann das Horn nicht fehlen –, die zärtlichen Geigenstimmen werden in Vierteltriolen und Nebennoten – Sonderreize für Musikerohren – immer zärtlicher, das Ganze gerät in naturhaftes Blühen, der Garten des Seitenthemas schwillt und sprießt, selbstbewußte, markige Rhythmen wenden die Thematik ins Stolze –, der von der Welt noch für den einfältigen Organisten gehalten wird, ist ein heimlicher König, ist sinfonischer Vollbringer. In jubelnden Schlägen hämmert er seine F-dur-Thematik ins Breite und reißt in seinem oktavigem Unisonothema zur Schlußgruppe fort. Da – sechs Takte nach Buchstaben G – Trompeten und Posaunen in geballten Akkorden choralhaft verkündigend: Sursum corda! Die innere Logik des Künstlers kann daran nur das Urthema selbst anschließen, das in beiden Posaunen aus der Tiefe – E-dur – antwortet. Und aus gleicher Logik folgt die Demutsgebärde – ein flectamus genua –, Umkehrung des Schlußthemas in den Holzbläsern, ein Miserere der Flöten – Verrieseln, Verrinnen der Bewegung, Erstarren des Satzes in E-dur … So wurde in dieser sinfonischen Form, bis zur Durchführung – ein Gebärdenbild des Künstlers sichtbar, der nur sein Individualerlebnis gestaltet.

Was wird nun geschehen? Deutlich bemächtigt sich das Hauptthema des Bewußtseins des Künstlers. In ruhigem Schreiten erfüllt es allmählich die Tiefen der Sinfonie, schwillt aus sich in Imitationen heraus: Gott ist das Alpha und Omega. Über scheuen Pizzikatoschritten naht ein anderes Symbol – es scheint uns bekannt, wo sahen wir dieses Gesicht? –, da zeigt sich: aus der ersten, selbstsicheren Unisonowucht des Gegenmotivs, aus diesem bäumigen Knorren wurde ein seiner Kleinheit bewußtes Menschenkind, ein Gebeugter … Sein Flehen wird Inbrunst (in breiten Gesängen der Trompeten und Holzbläser), seine Inbrunst Aufbegehren und Trotzen – das Motiv findet zu seiner Natur zurück –, das Ringen mit dem Engel beginnt, beide Themen verbeißen sich ineinander, bis sich das Hauptthema losreißt und im vollen Orchesterunisono alle Stimmen zu einer Stimme bindet: »Ahnst du den Herrn?«. – Es schmettert in einer Größe nieder, die nach allen Verkürzungen und Bekämpfungen verhundertfacht erscheint. Der Künstler hat seinen religiösen Seelenkampf entwickelt: ein Abbild, das die sinfonische Grammatik »Durchführung« nennt.

Ein Beben ging durch den Raum, als die Stimme Gottes ertönte. In den Tiefen vermurmelt der Paukenwirbel. Mit zaghafter Wärme wagt sich noch einmal der irdische Seitensatz hervor, aber klingt rasch ab. Die Coda erhöht die Höhe und Herrlichkeit des Gottesgedankens – Ges-dur- und A-dur-Breiten thematischen Bläserprunks –, wie in Scham verbirgt der Gottsucher sein Antlitz: noch kann er – er fühlt es – nicht gesegnet sein. In Unruhen wandeln die Bässe skalig zur Tiefe, eine Leiter ins Schattenreich, wie sie Beethoven beim Ausgang der Neunten baute; die Trompetenstimme verkündet den Glanz des Ewigen in die Räume hinaus. Abweisende Rhythmen brechen auf einem abweisenden Klang (dem verminderten Septakkord) ab – ein letztes Beschwören in aufhaltenden Holzbläserstimmen –, dann im Prestosturz des Orchesters ein hundertstimmiges »Zurück!«, wie es dem Weisheitssucher Tamino entgegenschlug – und auf ergebnisloser, leerer Quint schallt die Breite des Gottesthemas: noch ist die Antwort Gottes nicht erobert, der Kampf nicht zu Ende.

Das Adagio tritt aus der d-moll-Welt in das Halbdunkel von Es zurück. Das Antlitz der Musik wird verschleiert, ein neuer Weg zu Gott versucht. Im Streichquartett beginnt eine Seligpreisung, die Bässe sinken ins ppp des tiefsten Geheimnisses hinab. – In seiner schönen Rede über den Dichter sagt Hugo von Hofmannsthal: »Ich sehe beinahe als die Geste unsrer Zeit den Menschen mit dem Buch in der Hand, wie der kniende Mensch mit gefalteten Händen die Geste einer andern Zeit war …« Diese andere Zeit ist in dem Adagio Gegenwart geworden, die Musik Bruckners kniet und erschauert. Aus den Holzbläsern werden leise Seufzer, verehrend, schmeichelnd oder büßend laut, sie wachsen in den Hörnern zum Sehnsuchtsruf, das Gefühl schwillt in den Streichern zu den Höhen mystischer Liebestrunkenheit –, alles drängt zu Gott; aber das Feuer dieses Satzes ist nicht genährt von den Gluten der Tristanerotik, nicht von den Frauenleib- und Umschlingungsmotiven des Pariser Tannhäuser: es ist die reinste Gottesminne. Auf dem Terzquartakkord der Ges-dur-Dominante plötzliches Abbrechen. Weshalb? Die Stelle, die den wachsenden Fluß aufhebt, hat den Verfasser früher immer gestört; heute glaubt er, sie könne gar nicht anders sein. Man darf Gott nicht überfallen, man muß ihm nahen. Der Künstler ist sich seiner Niedrigkeit bewußt und deckt sie auf, wie jener Bruder David von Augsburg, der da lehrte: drücke dich nider, stöubelin … Er kann gar nicht anders. So ist seine seelische Wirklichkeit, und sein Abbrechen bezeugt Reichtum. Neuerliches trunkenes Aufbäumen und neuerliches Sichniederdrücken des Stäubleins: er kann seine Haltung nicht ändern.

Eine demütige Terzenfigur von Haydnscher Abkunft, aus der f-moll-Messe, aus der Zweiten Sinfonie bekannt, führt zu einer neuen Station.

Anscheinend bestimmt hiermit eine außermusikalische Kraft die Musik, zwar kein poetisches, aber ein ethisches Programm. Und doch bestimmt sich diese Musik nur durch ihr Selbst: Alles, was wir hörten, ist thematisch. War jenes Seufzen der Bläser nicht der umgekehrte letzte Vorhaltstakt des Themas? Und wird nicht der ganze Besitz des Themas, seine Anfangsterz, sein synkopiertes Steigen, seine Vorhaltigkeit als ein Schatz irgendwie verwendet, jetzt und in der Durchführung, ist nicht jeder Takt davon getränkt? Hierin liegt die schöpferische Kraft des Künstlers, der die alte thematische Arbeit, eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, seiner Gläubigkeitssinfonie dienstbar machte und, sich asketisch bindend, Phantasie und Gefühl ordnete. Die abbrechende Stelle erscheint in neuem ethischen Licht, und wo wir Unvermögen sahen, steht die Schöpferkraft.

Im Mittelteil wird eine neue Station erreicht. Die Bratschenmelodie unter klopfenden Achteln, die sich durch die Tonarten windet, die ganze Welt zu wissen scheint und wieder fromm und einfältig zurückkehrt, hat das seelisch-vereinsamte Wesen des Künstlers und geht, selbst wenn sie im Baß schreitet, unvermählt mit den anderen Stimmen ihres Wegs. Und wieder kommen wir zu einer Station, zum Misteriososatz in Ges, einer akkordischen Versammlung betender Streicher, die ihr Kyrie eleison stammelt. Die beiden Erlebnisse – Vereinsamungsmelodie und Streicherkyrie – verknüpfen sich, flehende Stimmen singen ineinander, die Inbrunst wächst, das große Gebetsthema des Anfangs beginnt zu erbrausen, alle Zungen werden klingend, alle Stimmen sind der Seligpreisung dienstbar, ob singend, figurierend, ob rhythmisch schmetternd oder triolenerregt – und wieder sieht man den knienden Menschen der anderen, der betenden Zeit, so oft der Demutsgedanke unterbricht, bis über altem Plagalschluß sich alles löst und in bebenden, tiefen Streichern das Ruhen in Gott erreicht wird.

Der ganze Satz läßt sich auf eine dreiteilige Liedform zurückführen, erweitert durch Durchführungsideen eines ersten Satzes: das Individualerlebnis hat, neugestaltend, dieses Adagio zum Kyrie eleison der Sinfonie gemacht. Ein starker Satz, dessen Schwäche (für das Empfinden des Verfassers) nur dort liegt, wo die naive Wagnerverehrung stärker wird als das Brucknersche Ethos, und (wie zwei Takte vor und nach Buchstabe N) Operngeister ins Tremolo fremd hereinwehen.

Ich meine, die großen Künstler wurden klingend, wenn ihre Aufgabe sie berührte. Wenn die Gesellschaft an sie pochte, verschlossen sie sich, konnten stumm oder linkisch oder grob oder verdrießlich werden. Nahte die Musik, so wurden sie überquellend, tänzerisch, liefen wohl im Zimmer auf und ab und sangen wie die alten Verzückten, kaum fähig, sich zu halten und zu schreiben. Als das Scherzo dieses Werkes kam, wurden alle Wirbel des Erdendaseins in Bruckner lebendig. Wie überlegen beginnt er zu schalten! Das Material wird erst andeutend hingeworfen: rollende Achtel, großschrittig aufdrängende Baßpizzikati – alles mit Sicherheit hingesetzt, bis die Spannung stark genug ist und aus dem Andeutungsmaterial das Thema selbst entsteht. Es ist nicht fertig wie in der Zweiten Sinfonie: wir sehen seiner Geburt zu. Es rollt in junger Kraft seine Achtel um die Tonika herum, es steigt, wie Riesen steigen, urschrittig durch zwei Oktaven, es stapft und plumpt im urhaften Brucknerrhythmus – alles Schwere der Welt beginnt zu kreisen. Ein bunter Spielreigen dreht sich, Trompeten antworten so hurtig, als Violinen fragen können, die Harmonie bekommt Flügel, und aus einem Freudensturz nach fremdem Sekundenakkord, fliegt sie federleicht der Dominante zu. Die Durchführung spielt sich mit der Thematik, erfindet eine lockende, rockschwingende Geigenmelodie und schickt alles Bisherige, Spielfigur, Rollfiguren und Baßpizzikati, zur Begleitung hinab. Der Meister steht über den Dingen. Es mag genug schwere Arbeit in der Scherzoleichtigkeit stecken, wie in allen künstlerischen Lösungen, die so »leicht« und mühelos schweben – aber er hat den Ton für die Weltfreuden des Gläubigen gefunden. Urschrittthema und wehende Rockmelodik.

Die gleiche demütige und doch entschiedene Kraft zur Freude im Trio. Eine A-dur-Tanzweise der Bratschen, die zwei Oktaven durchklettert, als ging es einen Maibaum hinauf. Mit Vergnügen sieht man zu, wie die erste Oktave im Urschritt genommen wird, der Künstler nirgend seine Grundhaltung verleugnen kann. Schon im dritten Takt der Klettermelodie setzen Stakkatoviolinen mit einer Gegenstimme ein, Material genug, um ein dreiteiliges Lied von irdischem Wohlgefühl unter den Augen des Ewigen zu singen: die Trillerseligkeit, das tonartliche Bunt, die Flötenjuchzer, die Verwebung von Thema und Figurenspiel und schließlich die köstliche Überraschungstechnik, die die A-dur-Welt aus Des herauszaubert – alles dies ist nur eine Kadenz von A nach E und nach A zurück. Und so wird Meister Antonius fröhlich.

Das Finale … Ein großes Thema, ein Thementurm wird sich hier erheben. Man ahnt es aus den sausenden, aufgescheuchten Achteln der Streicher. Nun erhebt es sich in der Wucht der Bläsertutti, das Haupt in den Achtelstürmen, gewalttätig in seinem Dezimensturz. Es ist kein singendes Thema. Es vergräbt sich in die Tonbasis D, entsendet eine akkordisch geballte Melodiekette. Mutige Energien gehen von hier aus, Willenskraft durchströmt den Satz, der fast wie ein zweites »erstes« Allegro aussieht, und doch das Finalgefühl in treibenden Unruhen gibt.

Das Kraftgefühl des Tondichters erwacht immer mit der Kraftprobe. Er kennt keine Finalermüdung. Wo sonst Ermattungen stehen, steht bei ihm Wachstum, das über sich hinaus will. Er lockt die Erwartungen nach g-moll, um sie durch Umdeutung zu überraschen; er wagt eine Melodik von praterhaftem Schwung, die außerdem noch modulatorische Keckheit besitzt: das Verwogene in der Form des Selbstverständlichen. Die Geste des lebenslustigen, »aufgekratzten« Bruckner. Alle hat dieses Gesangsthema in der Freudentonart Fis verblüfft, entzückt, befremdet, es ist eine Berühmtheit in der Brucknerliteratur geworden. Aber an der beinewerfenden Polkalust zieht der ernste Choral vorüber, ein Schatten aus Ewigkeiten fällt darauf. Hierdurch ist die oft angefeindete Stelle, eine der größten schöpferischen Kühnheiten der Literatur, ethisch gerechtfertigt. Der Künstler scheint sie besonders geliebt zu haben. Im Durchführungsteil (Buchstabe T) schält er den Choral aus seiner Umgebung heraus, bettet ihn nur zwischen Pizzikati, um ihn sichtbar zu machen und auszustellen wie einen heiligen Leib. Das ganze Gebilde hat ein so eigenartiges Profil, daß es den Satz über unvergeßlich ist und darüber hinaus: es steigt gleichsam über den Rand der Sinfonie, folgt uns nach, samt seinem Choral, und verkündet damit etwas von der Magie der sinfonischen Kunst, die nicht als Ohrenerlebnis im Konzertsaal endet.

Der Künstler findet alsbald, nach einem gehaltenen Zwischensatz, wieder zum ordnungsgemäßen F-dur zurück und schwelgt sich in den Praterklängen aus, unbekümmerter Jubel, eine erhöhte Verkaufts-mei-G'wand-Stimmung – da plötzliches Abbrechen und Versinken – feierliches Choralblasen der vier Hörner, schmerzliches Erinnern, Verrieseln der Freudenbewegung: die gleiche ethische Gebärde wie im Adagio. Der Mensch wird sich im Taumel seiner Niedrigkeit bewußt. »Drücke dich nider, stöubelin …« Wer könnte sich diesem Erschütterungsbild einer Seele versagen? – Eine knirschende, gepreßte Schlußgruppe im Unisono beginnt: ein Sichfassen, ein Sichvorbereiten auf die Offensivstellung, die nun die Durchführungskämpfe vom religiösen Helden verlangen.

Aus dieser Gebärdenklarheit leuchtet die Logik des sinfonischen Geschehens. Haben sich die Kräfte während dieser Arbeit abermals verdoppelt, haben sie im Ausgegebenwerden neue geheimnisvolle Beschaffenheit empfangen? Jedenfalls ist die Willenskraft der Schlußbildung ungeheuer. Der Tondichter darf es wagen, das Dezimenthema, das furchtbare, drachenhafte Symbol in seiner ganzen närrischen Verbissenheit zu zeigen –, er weiß, ein größeres, reineres Symbol wird kommen. Weite Unisoni führen aus dem pp irgendwohinaus, irgendwohinan, in sagenhafte Regionen, Trompetenchöre feiern mit Jubelvorhalten die Dominante wie eine Schwelle des Himmels: ein freudiger, warmer Glanz ergießt sich, und darin strahlt glorienhaft das überwindende Haupt- und Oberthema der ganzen Sinfonie mit seiner erzenen Bestimmungskraft auf.

Die D-dur-Seligkeit, als letzterreichte Höhe, ist die logisch-ethische Steigerung jenes leeren Quintschlusses im ersten Satz: der Ring wird geschlossen, freudenvolle Erhabenheit beseelt die Riesenstimme, in die sich alle Breiten des Orchesters schließlich vereinigen: Deo soli gloria!

Richard Wagner wußte, warum er die Widmung dieser Sinfonie annahm.

*

Die Vierte Sinfonie, Es-dur, Romantische Sinfonie genannt, wurde in den siebziger Jahren komponiert, die Reinschrift des Finales ist vollendet am 5. Juni 1880. Kurz darauf die erste Aufführung: 20. Februar 1881 in einem Konzert zum Besten des Deutschen Schulvereins mit den Philharmonikern und Hans Richter. In die Wiener Philharmonischen Konzerte selbst zum erstenmal aufgenommen: 5. Januar 1896. Mahler dirigierte sie am 28. Januar 1900 im 6. philharmonischen Konzert, Löwe am 20. November 1900 im Wiener Konzertverein, Mottl am 30. Januar 1903 mit dem Orchester des Wiener Konzertvereins in einer von Gutmann veranstalteten Aufführung. Dezember 1890 wird das Werk von Levi in München aufgeführt, Februar 1895 von Mahler in Hamburg, 4. März 1895 in Berlin von Weingartner (königl. Kapelle), dann Aufführungen von Nicodé (Dresden), Wüllner (Köln), Obrist (Stuttgart), Göllerich (Linz), Nedbal (Prag), Winderstein (Leipzig) usw., alle zwischen 1896 und 1902.

Die Sinfonie, die ungefähr zwanzig Jahre um ihre Anerkennung zu ringen hatte, gehört zu den »flüssigsten« aller Brucknerischen. Die größte Freude des Komponisten bestand darin, wenn jemand den letzten Satz gegen die anderen hervorhob, was freilich selten vorkam. »Er ist der beste Satz«, sagte er dann bestätigend, mit leuchtenden Mienen.

Das Hauptthema ist eine Naturstimme, die sich selbst lauscht. Die verschwimmenden Harmonien des Streichorchesters, die Ortlosigkeit des Horns, das wie von einem unbetretbaren Ufer herüberweht, das quintige Schweben des Themas, die süße Trübung der zweiten Themenspitze (die unterdominantisches Moll, ces, berührt) – dies alles ist Morgenzauber, Waldromantik. Später, am Beginn der Durchführung, wird der Tondichter dieses Symbol wiederholen, die Fernstimme noch fernhafter, das Geheimnisvolle geheimnisvoller entrücken. Jetzt gibt er sich dem Naturerlebnis hin, das ihn wie Wanderglück begleitet: Horn und Holzbläser ineinandersingend, Akkordrucke, die wunderbare Lichterspiele erzeugen, erwachende Stimmen, die in Brucknerscher Mischrhythmik (Viertel und Vierteltriolen) zur ersten Quartsextakkordseligkeit jubeln.

In dieses sinfonische Weben donnert ein markiges, metallisches Motiv der Metallbläser. Es kann ganz gut aus der Vorstellung sprengender Rosse entstanden sein; jedenfalls gehört es zu einem der Brucknerschen Kraftmotive, die das Mark der Sinfonie bilden, sein Mannestum, ja vielleicht seinen Heidenstumrest anzeigen. Es donnert mit seiner Zielharmonik nach F, aber der Künstler entführt uns ins Anderswohin eines Gegensatzes, sein Gemüt bedarf der Des-dur-Welt: im Seitensatz beginnt das Nahe zu klingen, der kleine Waldvogel »Zizibe« bekommt Klanggestalt in einer zwitschernden Sext, der Mensch tritt auf und klingt mit (in dem wohligen Bratschen- und Horngesang unter der Zizibesext). Später, am Schluß der Durchführung, stellt Bruckner die beiden Hauptsymbole unmittelbar nebeneinander: das choralgewordene Fernthema (nach Buchstabe K) und das »Menschenmotiv« ganz allein, ohne Vogelruf, in breiter Entfaltung der Streicherkantilene (Buchstabe L). Die reinigende Macht der Natur und den tiefatmenden, befreiten Menschen. Der Sinfoniker kann seine Symbolik nicht »sprechender« gestalten.

Schon das F-dur-Seitenthema der Dritten Sinfonie war so gebildet: die eingebettete, singende Bratschenstimme, vom Horn wiederholt, darüber das Rauschen von Naturstimmen in den Streichern – die gleiche instrumentale Gebärde dürfte, hier wie dort, das gleiche andeuten.

Der Andantesatz: der einsame Bruckner. Das Thema bleibt quintig, wie es das Hauptthema war, wie es das Scherzothema sein wird. Die Form ist einfach: zweiteilige Liedform mit Durchführungen. Kein Takt, der nicht aus dem Thema flösse. Manchmal sind die Stimmen mit der Sorgfalt eines Gärtners zu schönen Partiturbildern geordnet. Eine Durchführungsepisode träumt von Heimat und Jugend. Marschartig gehen Bässe, das Ces-dur-Thema des Horns lächelt uns warm zu, Violinstimmen singen mundartlich, sehnsuchtsvoll blüht es aus D-dur, aus F-dur, Mundart und Pathos vermischen sich, die Bässe bekommen thematische Erhabenheit – aber die Demut erinnert sich ihrer selbst, der hochanschwellende Satz sinkt zurück, die Hornstimme ermattet und verklingt über mystischen Paukenwirbel … Vielleicht hat hier die rätselhafte Melancholie Gestalt gefunden, die den tiefen Menschen so oft beim Anblick des Naturschönen bedrückt. Vielleicht ist der Trauerzug durch einen Wald gemeint, den Viele heraushören. Vielleicht das Heimweh nach der letzten Heimat. Wir denken an die zweite Art der Wackenroderschen Kirchenmusiken.

Das Scherzo ist den Hörnern, den Instrumenten der Jagd, entsprungen, das Zeitmaß – lockere Zweiviertel – der Hast keck stürzender Jagdbewegung. Doch liegt keine Illustration oder Momentaufnahme vor, vielmehr ein frohes Tonbild mit dem musikalischen Motiv des Jagens und Gejagtwerdens. Die alte Scherzoform wird mit der individuellen Heiterkeit des Künstlers erfüllt, der vielleicht das rhythmisch Rasche der Natur, vielleicht seine eigenen Freudenunruhen gestalten will. Unter bebenden Streichern überrufen einander halb achtelige, halb triolische Fanfaren, und diese Rufe aus dem Irgendwoher erregen Vorstellungen waldiger Weiten, wimmelnder Menschen. Posaunenstürze rasseln dazwischen, Gegenmotive der Streicher huschen, Triolen wiegen sich auf Tonika und Dominante, Motivteile hetzen fast zwei Oktaven hinauf, Triolen toben sich auf dem Halbschluß aus.

Es ist verweht. Bezeichnend für den Scherzohumor Bruckners ist nun das verwunderte ges der Pianissimobässe, dann a, zu Beginn der Durchführung, das den Zauber wieder hervorlocken möchte. Die ganze wilde Jagd braust auch noch einmal vorüber. Die Pauke hämmert die letzten Triolen, Hornrhythmen leiten in die Dreiviertel des Trios.

Ein Ländler in Ges-dur. Eine reizende Klarinetten- und Flötenmelodik, die den Quartsextakkord durchwiegt und in überraschender Natürlichkeit nach B biegt. Kleines Weiterführen im Mittelsatz durch die Streicher, naive Rhythmik und modernste Akkordrückung verbinden sich zu neuen sinfonischen Reizen. Schluß mit den zarten Wellungen des Ges-dur-Ländlers. Ein köstliches Stückchen, das man Edelweißmusik nennen möchte.

Österreich in der Sinfonie. Und nirgends ist Österreichs Wesen reiner aufbewahrt, als in seinen Stiften, Schlössern, Bildern und Gesängen.

Eine düstere Welt öffnet sich im Finale. B-moll-Stimmung lastet, Bässe ticken in Vierteln, eine Figur wühlt auf und ab, aus Horn und tiefer Klarinette fällt ein Gesang, ein Ganznotenmotiv. Ein gebeugtes Sturzmotiv, von eigener Müdigkeit in die Oktave hinabgezogen, auf der Untersekunde matt ruhend. Unheimliches lebt in dieser Erscheinung, sie wächst auf, verkürzt, erhebt sich, bis sie in furchtbar drohendem Absturz, im geballten Unsino des Orchesters das starre Antlitz des Hauptthemas zeigt. Es wird nun vollständig sichtbar mit seinem mühsamen Skalenmotiv, dem Quintriß, seiner schroffen triolischen Schlußrhythmik: da es abbricht, öffnen sich Abgründe. Man steht geängstigt, bedrückt vor dieser tragischen Gebärde. Tod? Schicksal, Verhängnis? Es ist eine der Michelangelostellen Bruckners.

Vor diesem ersten Höhenpunkt erklang in Hörnerbreiten das eben verklungene Scherzothema, und da nun eine zweite Überleitung in jagenden Sextolen beginnt, wendet sich die Sinfonie noch ein zweitesmal zurück: unter Freudentrillern hoher Geigen, Jubelvorhalten der Trompeten erscheint wie ein ferner Gipfel im Sonnenlicht das romantische Urthema des ersten Satzes. Der Satz verrinnt langsam im Paukenwirbel, die Kraft atmet aus. Solche Stellen, die in Doppelsteigerungen erreicht werden, gehören zur Ekstatik Bruckners: sie, nicht der ruhige Fortfluß sind seine technische Gebärde.

Ein neuer Abschnitt: die Gesangsgruppe. Ein c-moll-Thema der Streicher auf rhythmischen Bässen marschierend, voll ernster Haltung, melancholischer Gedanken, die sich triolisch beleben; und als Kontrast ein Bläserthema mit frischem rhythmischen Entschluß, lächelnd, sextensingend, schaukelnd, sich selbst vergnügt variierend, ausruhend auf den Heiterkeiten der eignen wohligen Dur-Melodik. Der Künstler liebt diese Motive, die vielleicht einen Glücksfall in seinem Leben bedeuteten und ihm das Blut in die Wangen trieben, als er sie zuerst notierte; beide scheinen sich zugleich in seine Phantasie gedrängt zu haben, aber er muß den Doppeleinfall ins Nacheinander ordnen, die schöpferische Üppigkeit schön gruppieren, und wurde vielleicht staunend, als die Hörer seines Reichtums von Verworrenheit sprachen.

Die Linien steigen nicht mehr, der Satz schreitet wie über Hochflächen. Unvermittelt bricht die Jähe einer Überleitung herein, Sextolenerregung der Streicher, skalenstapfende Bässe, neue Wildnisse, dann süßes Entklingen der singenden Gruppe –, der erste Finaleabschnitt ist beendet. Nun bereitet sich der Komponist zu einer Riesendurchführung vor, die selbst in mehrere zerfällt; eine ungeheure Architektur zeigt sich, ein weitgespanntes Profil: durch die schwere Überschaulichkeit rondohafter und Erster-Satz-Formen wird die Nüchternheit von der Themenplastik als Wegweiser geführt; aber die Erlebnisfähigkeit freut sich an einem die schöpferische Naturkraft wiederholenden Menschenwillen, der Berge auf Berge stülpt. Das Chaotische hat sein Ziel im Grenzenlosen. Gratlinien führen zu letzten Gipfeln, hinter denen neue Gipfel erscheinen, Zerklüftung, Sturm, Alpenseligkeit bilden eine Gipfelmusik: das Lied vom hohen Berg – unten entschwindet die Welt. Man darf an Adolf Pichlers Jungfrauhymne denken:

»Adler bringen den Gruß, wenn dich der Morgen umfließt;
Einsam schaust du hinab; es grollen finstre Gewitter
Dir zu Füßen, den Strom sendest du segnend ins Tal …«

Aber das Codaerlebnis mit seiner halb treibenden, halb ermattenden Kraft? Seinem Hörnergesang voll Resignation, den der Meister selbst »Schwanengesang der Romantik« genannt haben soll? Das Sturzthema verkehrt seine Linie und erhebt eine letzte Frage. Steigt der Schatten des Todes auf? Wehen Vernichtungsschauer?

Das Ganze ist Vorbereitung, instinktvolle letzte Senkung. Denn jetzt schwillt eine harmonische Woge auf, entführt den Satz ins Fremde (Fes-dur) –, im Sturz ergießt sich irgendwohin die angeschwollene Tonmasse – – Es-dur, die Haupttonart, erscheint wie eben erfunden, und mit ihr strahlt aus Fernen hereinwachsend in Choralbreite das Hauptthema des ersten Satzes. Der Künstler will die Natur überbieten, Niegebautes bauen, eine Landschaft über die Landschaft, eine Welt in die Himmel hinein erhöhen –, und diese Phantasie, die um ihre Wirklichkeit ringt und sie nur ahnen lassen kann, ist ergreifend und erschreckend wie die Michel Angelos. Selbst in die höchsten Verklärungen der Streicher fällt tragischer Klang, in die Jubelfiguren dringt Ces aus dem Unterdominantreich. Schön die ersten Takte der Sinfonie kannten diesen Ces-Klang: durchaus geschlossen bleibt sie bis zur letzten Note.

Zu wenig, das Werk wie Josef Schalk tat, »deutsche Sinfonie« zu nennen. Es ist Natursinfonie, alle Stimmen des Alls, segnende und bedrohende Gewalten fließen zusammen, geborgen und verloren, als Zwerg und Titane steht der Mensch in dieser Gottesausstrahlung. Manchmal ergreift es wie die Symbolik Böcklins, der die Dämonie des Meers in Schlange und Weib bannte; manchmal wie die Schauer apokalyptischer Visionen.

Einmal schreibt Adalbert Stifter an G. F. Richter wie er, »kaum im zehnten Lebensjahr durch die Schöpfung von Haydn in ein ahnungsreiches, wonnevolles Wunderland versetzt wurde und oft schon damals die schönen Linien und die Färbung unsrer Wälder betrachtete …« Und wie er dann vom Stift Kremsmünster täglich den Blick auf die blauen Alpen und ihre Prachtgestalten richtete, und »zum erstenmal den Satz hörte: das Schöne sei nichts anderes, als das Göttliche in dem Kleid des Reizes dargestellt, das Göttliche aber sei in dem Herrn des Himmels ohne Schranken, im Menschen beschränkt …« Ein Glauben, der ihm zur Wahrheit wurde, »oder Gott ist nicht Gott«. Diese Stiftersche Wahrheit ist verwandt mit der Bruckners; aber die kräftigere Natur des Musikers hatte die Reste eines alten Heiden in sich zu unterwerfen und zu zwingen, bevor er im Göttlichen aufging: dies mag die rätselhaften Schauer des Finales erklären.

Bewunderungswürdig ist die Gefaßtheit des Künstlers in jenen Jahren. Die Dritte Sinfonie war 1877 abgelehnt worden – »die Leut' wollen von mir nichts wissen!« – es entstand die Vierte. Zurückblickend sehen wir die innere biographische Linie; erstes Sichempören, Jähe und Aufruhr in Linz. Dann in Wien: Verbergen des Ich, Zurücknehmen der Kraft, Ermannung, Sichfassen, Herausformen des Ich, Glaubensverkündigung. Naturandacht in der Vierten Sinfonie, die ein großer Heimattraum ist, wie ihn die Vereinsamten der großen Städte träumen. –

*

Gleichzeitig mit der Vierten schuf Bruckner eine B-dur-Sinfonie, die spätere »Fünfte«. Sie entstand von 1875 bis 1880, am Finale allein hat er zwei Jahre gearbeitet. Dieses Werk setzt die innere Biographie fort. Die geschichtlichen Daten der Fünften Sinfonie sind gering: sie wurde zum erstenmal in der Provinz aufgeführt, am 8. April 1894 in Graz, und zwar von Franz Schalk. Weitere Aufführungen: von Löwe, Budapest, 18. Dezember 1895, dann in München, hierauf von Schalk in Prag. In Wien zum erstenmal 1. März 1898 von Löwe. Am 24. Februar 1901 von Gustav Mahler (mit starken Kürzungen). 1898/99 Berlin (Nikisch), Karlsruhe (Mottl) usw. Ein Besucher der Grazer Uraufführung tat den Ausspruch: »Hier werden die Motive durch das Orchester nur so durchgesiebt; auf der einen Seite kommen sie hinein und auf der anderen heraus …«

Die Fünfte ist Bruckners Monumentalsinfonie, gefährtenlos unter ihren Gefährten, geistoffenbarte, außenferne, ganz abgewandte Musik. Gerade was er im Wien jenes Jahrfünfts sah, drängte ihn in seine Innerlichkeit zurück. War die Vierte ein Gruß an die Heimat, so ist die Fünfte Versenkung in die Heimat der Seele. Er gewahrte um sich die Frivolitäten einer reichwerdenden Stadt, die Schiebungen der Gründerzeit, die Praterhintergründe eines Heute, das, vom Gestern trunken, sich am Morgen berauschte, und die gänzliche Unberührtheit jener Zeit von den ewigen Dingen. Grund genug für ihn, einen Dom aufzubauen, der ihn umhüllte, einen Altar, an dem er einsam kniete, ein Werk, das seine volle Kraft verzehrend, ihn mit neuen Energien bereicherte. Mehr als jede andere Sinfonie ist diese, und mehr als jeder andere Satz ist das Finale domhaft. Er muß mit äußerster Anstrengung diese hohe Welt errichten. Aus den stürmenden Kontrapunkten hört man den leidenschaftlichen Eifer des Künstlers, aus den Riesenmaaßen des Werkes den höchstgespannten Willen zu Gott.

Die Einleitung – Adagio – bildet einen weiten vorgelagerten Platz. Im ergebenen Schritt geht ein Skalenmotiv Pizzikato diatonisch auf und nieder. Wenn es (auf der Dominante) endet, reckt sich jäh im FF die Gestalt eines auseinandergerissenen Ges-dur-Akkords unter zuckenden Zweiunddreißigsteln durch zwei Oktaven auf. Ein beklemmendes, man möchte sagen drachenhaft aufspringendes Symbol. Ein glaubensfester Chorgesang tönt in ermutigendem A-dur aus den Bläsern. Eine kurze Überleitung drängt zum Kampfentschluß.

Das Hauptthema beginnt nicht mit Urschritten, vielmehr ist es von inneren Konflikten beunruhigt. Man erkennt die beladene Seele aus dem nach abwärts gekrümmten Bogen, dem Zurücksinken ins Molldunkel, aus der sich aufraffenden punktierten Rhythmik, den trotzenden Weiterführungen in Oktavsprüngen, den breiten ermatteten Klagen der tiefen Klarinetten und Bratschen, dem Aufschwung in Vollorchesterpracht und neuem sinkenden Verzagen: solche seelische Summen enthält ein Brucknersches Thema! Wenn man unter Beethovensche Musikgebärden summarisch die Worte »Freiheit« oder »Menschheit« schreiben darf, so dürfte man hier nur die alten Worte Kyrie oder Miserere nobis anbringen. Stärker als in der Dritten ringt der Gläubige dieser Sinfonie mit dem Versucher. Dort zog der Choral im Allegro nur als Bild vorüber, hier stand er in der Einleitung hochaufgemauert, ein Symbol der himmlischen Stadt, nachhallend ins ganze Werk.

Der Gesangsatz – ein scheues Pizzikatothema – hat eine zögernde Haltung, wie die Andächtigen, die auf Zehenspitzen dem Hochaltar nahen; in sein f-moll ist eine Einzelstimme der ersten Violinen eingebettet, flehend wie eine Lamentation zur österlichen Zeit. So kommen Adagioelemente in das erste Allegro, der Künstler gestaltet, sein Urtempo durchsetzend, die Form durch das Individualerlebnis. Und so führt er sie auch weiter. Die noch folgende erste Satzhälfte muß alle gläubige Beklemmung und allen religiösen Mut aufnehmen. Wenn der matte Trost des Gesangteils unter schweren trauervollen Synkopen abgesunken ist, gewinnen Zuversichtsmächte die Oberhand, die Schlußgruppe hat Schwingen, eine Des-dur-Melodik der Violinen und Holzbläser ballt sich akkordisch – willensfreudiges Des- und A-dur –, Iumen de lumine könnte darüber stehen –, die erste Höhe wird gewonnen, die Unisoni reißen fort, und zuletzt melden schöne thematische Hörner beseligende Zuversichten.

Auch der Baugedanke der Durchführung wird von dieser Individuallogik bestimmt. Alle Themen, auch die Adagiotempi, werden verarbeitet, aber nicht um sie zu »verarbeiten«, sondern um sich zu befreien. Den sich entspinnenden Glaubenskampf nennt ein kundiger Beurteiler, Walter Niemann, »ein Bild großartigster Seelenschilderung und dramatischer Anschaulichkeit …«

Nun enthüllt jener Einleitungschor seine Sendung, nun zeigt jenes Ges-dur-Thema seine wahre Natur: in wunderbarer Symbolik wird es »der Widersacher«, wenn man will der »Antichrist«: seine Rhythmik wendet sich wuterfüllt gegen das Glaubensthema. »Immer kritischer gestaltet sich die Lage. Nichts scheint den empörten Widersacher zurückdrängen zu können, weder Hauptthema, noch Chorgesang. In höchster Erregung stürmt das Heer des Gegners auf wilden Rhythmen daher – da plötzlich Generalpause. Der letzte Versuch wird unternommen. Anfangs vorsichtig und zaghaft stellt der Tondichter den feindlichen Mächten zum letztenmal seine Glaubensthemen gegenüber. Diesesmal bleibt er mit ihrer Hilfe Sieger über die feindliche Schar der Anfechtungen …«

Das Skalenthema der Einleitung monumentalisiert sich, heroisch wandeln Bässe und Streicher, im Trompetenchor wie von Stimmen aus der Höhe erscheint das Hauptthema, diesmal in ungebrochenem Licht, reines B-dur: es hat sich verklärt, der Glaubensmut wird zum erstenmal gewonnen.

Im Adagio stehen sechs Viertel gegen vier Viertel, ein tiefes Streicherpizzikato gegen die einsam singende Oboe, eine zackige Baßlinie gegen Quint- und Septenseufzer – zwei Welten, die nebeneinander atmen und scheu zusammenleben. Als murmelnde Mönche schleichen die Gedanken des Künstlers. Seine Weltflucht war nie größer als jetzt, sein Absonderungswille wird zur klösterlichen Zurückgezogenheit. So wandelt es weiter, prozessionshaft: Sechs Viertel gegen vier Viertel, Pizzikato und Gesang – keiner seiner früheren Sätze, kein Sinfonieadagio überhaupt kannte solche Müdigkeit der Seele, die kahle Schwermut, die sich nicht trösten will. Einmal wird sie weich und erinnerungsvoll: draußen liegt die Heimat – ein C-dur-Satz gerät ins Blühen und entsendet lyrische Wärme.

Streng im Adagiostil Bruckners geschehen die zwei Abwandlungen des Hauptgesanges, die zweite reich und reicher gesteigert mit choralartigen Gängen, die den Himmel suchen (wie später in der Siebenten Sinfonie). Aber die Resignation herrscht vor. Max Reger hat in seiner Böcklinsuite den geigenden Eremiten mit der einsamen Solovioline nachgemalt; Bruckner kannte das Bild nicht und malte nicht: er war selbst der tönend Einsame.

Oktavige Stellen sprechen mittelalterlich herb und streng, die Septenpizzikati am Schluß sind Zeichen des Sich-Schickens und Ergebens, das Oboenthema kehrt wieder, d-moll wird D-dur, es zwingt sich zu einem einzigen flüchtigen Lächeln. Viel Ungelöstes bleibt.

»Sind das die letzten Töne – meinen
die Mönche der Einsamkeit jetzt mich?
Aber es dunkelt das Herz,
ich höre litaneienhaft, rosenkranzlang
das Vaterunser der Stille und
die Stille weinen.«

Der Sechsviertelkontrapunkt des Adagios kommt jetzt in Bewegung, er läuft als Streicherunisono durch die drei Viertel des Scherzos, eine Bläsermelodie schwingt über ihn hin, der Satz langt auf E an, umspielt dieses E hartnäckig wie ergebnislos –, die rechte Heiterkeit, das Selig-Schöne will nicht kommen, die alte, kahle Stimmung überwiegt, der Satz bricht ab.

Der Künstler versucht nun anderes. Er holt aus dem Schatz der Ennser und Trauner Thematik einen singenden Satz, jede Stimme auf eine andere Art fröhlich, ein Meisterstück der Polyphonie, in fünf Stimmen eins der reizendsten Partiturbilder. Drei Tonarten (F, Des, E) werden im Flug durchmessen, Erdenlust bekennt sich laut, und doch verliert man keinen Augenblick das Gefühl vollkommener Einheit: auch unter diesen Szenen des heiligen Lachens geht unbeirrt der erste, stelzende Kontrapunkt weiter. Gerade das Abbrechen war Weiterführen, der »Riß« spannte und verknüpfte.

Verdrängte Gefühlswelten werden frei. Laut stampfende D-dur-Fröhlichkeit beschließt die dreiteilige Liedform. Und hier (stärker aber noch im Scherzo der Siebenten Sinfonie) hat man den Eindruck, als sei er dem Christentum für Augenblicke entschlüpft, als zeige sich der Urbewohner der Erde, als rege ungebrochene Kraft gigantisch die Glieder; aber das Ungebundene bindet der Kontrapunkt in der Tiefe.

Wir haben das Fis, die Terz aus dem Durdreiklang, noch im Ohr. Es klingt in das Trio als leise klagendes Ges, und von diesem fast weinerlichen Hornton geht in zwei Strahlen eine sanfte Zwei-Viertel-Takt-Melodik aus. Jedesmal, wenn jenes Ges ertönt, kommt sie wie beim Namen gerufen von neuem, ein Spiel großen, naiven Humors. Und der gleiche kindhafte Humor löst sich in einem reizenden Ineinanderplaudern von Holz und Streichern, einer anmutigen Ländlerei, die auf altvaterischen Schulkadenzen, wie auf Befehl, Halt macht. Die Unschuld des Künstlers, der Berge kreisen machen kann, unterhält sich mit sich selbst: ein neues Abbild seiner Lebensgebärde.

Das Finale beginnt mit einem weiten beethovenschen Rückblick auf alles Geschehene: das Vergangene wird gemustert, Kopfthema und Einleitung des ersten Satzes, die Mönchsprozession aus dem Adagio. Dazwischen aber rafft sich neuer Kampfwille zu einem harten, oktavigen Finalthema zusammen, das alsbald einen kontrapunktischen Satz aus sich heraustreibt. Ihm entgegen tritt nach einer tonartreichen Gesanggruppe und einem Streichersturm zum Bläserunisono die zweite wichtige Finalerscheinung: der große Bläserchoral in Ges, nach dem man das Werk die Choralsinfonie nennen darf.

Aus dieser Thematik wird nun ein Riesensatz gesponnen, der, in seiner Gesammtheit überblickt, wie ein im Orchester monumentalisierte Orgelimprovisation klingt. Man müßte alle Einzelheiten kontrapunktischer Arbeit aufzeigen, würde aber doch nur neben der Handlung einherreden. Es ist keine Improvisation Bruckners aufbewahrt –, aus diesem Finale könnte man sich ein Bild davon machen, wie eine unerschöpfliche Phantasie sich immer noch »unerschöpflicher« zeigt und unüberbietbare Steigerungen überbietet, würde aber das Bild zerstören, indem man es beschriebe. Allerdings: Die Brucknersche Begeisterungsnatur findet immer eine neue Thematik; aber sie selbst ist es, die, andere Äußerungsformen zurückdrängend, Gleichläufigkeiten ergibt.

Das Hauptthema des ersten Satzes tritt (bei Buchstabe O) wieder ein, sein Inhalt ist noch nicht genügend erschöpft, sein Endschicksal im Kampf noch nicht entschieden. Nun zeigt es seine äußerste Ekstatik. Das Orchester, der Saal, die Erde wird ihm zu eng, es strebt ins Überirdische hinauf. Der Künstler stellt ein Nebenorchester von elf Bläsern auf, die Himmelstore scheinen sich zu öffnen, seine Vision wird Klanggewalt: der Choral von der Herrlichkeit Gottes erschallt. Über das Getümmel der Welt strahlt ruhevoll die ewige Wahrheit. Mit gebieterischer Bewegung, als stürze er Luzifer, verbannt er das oktavige Widerthema in die Tiefen der Bässe. Unter dem Klang der Triumphinstrumente, Triangel und Becken dringt die Stimme des Chorals über die Enden der Welt, um, wie im Messenkredo die fides viva, die fides intrepida zu verkünden; die Wackenrodersche Geste der »stolzen Trompete« erreicht ihre höchsten Formen, wenn die Trompeten des Nebenorchesters das Hauptthema jubeln.

So hat der Künstler sich dargebracht. Und sein Werk, dem Ethos entsprungen, erzeugt auch Ethos: niemand kann sich den Mächten der sich überhymnenden Sinfonie entziehen, die uns mit dem Frohglauben des Künstlers selbst erfüllt.

»O Herr, Donner,
der über meine Himmel weht,
ich will zu dir restlos mich verflüchtigen – –«.

Walter Niemann meint zu dem Finale, ein Wort Karl Söhles anführend, es könne hier die kontrapunktische Technik die nicht immer gleich starke Begeisterung des Künstlers, ähnlich wie bei Brahms, ersetzt haben. Schon Friedrich von Hausegger, der in den »Gedanken eines Schauenden« frühzeitig ein sehr reifes Urteil über Bruckner entwickelte, sprach die gleiche Ansicht aus. Drei gewichtige Stimmen erheben den gleichen Einwand, und doch glauben wir – heute – die Brucknergebärde anders deuten zu müssen. Vielleicht kam jenes Bedenken aus der Wagnerschen Ausdruckswelt, die im Kontrapunkt mehr Technik als Erlebnis erblickte? »Ich bin kein Orgelpunktpuffer …«

Und man darf erweiternd sagen: auch kein Kontrapunktpuffer. Reines Kontrapunktieren um seiner selbst willen war einem Gottsucher, wie Bruckner, keine Befreiung.

Dagegen fehlt der Fünften Sinfonie bis auf das Scherzo eine andere Brucknersche Gebärde: das sich aufschließende, sich verströmende Österreichertum. Es gibt auch eine gewisse Brucknerkühle, die Luft großer Höhen, in die er zurückweicht wie der Prophet. Die lyrischen Elemente verflüchtigen sich, das Kolossale wird Musik.

*

Die Sechste Sinfonie, A-dur, wurde komponiert 1879-1881. Dank Göllerichs Angaben im Programmbuch einer Linzer Aufführung ergeben sich folgende Entstehungszeiten der einzelnen Sätze. 1. Satz vom 24. September 1879 bis 27. September 1880 (Wien). 2. Satz November 1880. 3. Satz vom 17. Dezember 1880 bis 17. Januar 1881 (datiert Universität Wien). 4. Satz vom 28. Juni bis 3. September 1881 in Sankt Florian. Die beiden Mittelsätze unter Wilhelm Jahn mit den Philharmonikern am 11. Februar 1883. Erste vollständige Aufführung (d. h. alle vier Sätze, aber gekürzt) unter Gustav Mahler im 7. Philharmonischen Konzert am 26. Februar 1899. Dann unter Göllerich am 13. Dezember 1901 mit dem Wiener Konzertverein (ganz ungekürzt). Unter Löwe am 19. März 1902. In Stuttgart unter Pohlig am 14. März 1901, dann unter Weingartner in Berlin 1902/03.

Das Werk steht in der Schätzung selbst Brucknernaher noch zurück, hauptsächlich des Finales wegen, das nicht wie sonst zu den letzten Gipfeln getürmter Kraft führt. Das Bestimmungsthema der Sinfonie hat die imperatorische Geste des Künstlers: sein rhythmischer Auftakt, sein Quintsturz, sein Griff nach den unterdominantischen Schatten, sein Schwung ins Helle, sein königliches Sichaufpflanzen und Gebieten bei der Wiederholung, seine Lust, zu leuchten, sein Frühlingsstrahlen und der über die gemeinen Dinge hinausbebende Begleitrhythmus hoher Streicher zeigt den freudigen Stolz der Herrennatur.

Das Gesangsthema, aus dem trockenen Boden eines sinkenden Skalenmotivs keimend, hat fast weiblich-zarte Unruhen, seine Kantilene beteuert, weitgespannte Liebesfähigkeit öffnet die Arme (in der Non der Oboe), sein süßer Mordent wirbt, ungestillte Sehnsucht bricht ab, sucht ein zweites Mal sich zu stillen, inniger, heftiger drängend, und doch verrät die zarte Unschuld eines Oboen- und Hörnergesanges (D-dur) die Reinheit und Keuschheit alles Verlangens. Selbst, wo der Gesang in Dur zu starker Dissonanzenleidenschaft gesteigert wird, zeigt er mehr die enthusiastische als erotische Seite des Brucknerschen Empfindens.

Wenn dann das Hauptthema in der Durchführung auf dem Triolengewoge von Glanz und Begeisterungsharmonien mit verkehrten Linien schwebt (G-dur, a-moll, C-dur), verkündigt es die freudige Grundhaltung der Sinfonie; ebenso die feierlich-ruhige Koda mit den einander überantwortenden Hörnern und Trompeten, die die thematische Behauptung aufs neue behaupten, das Betonte weiter betonen: eine unverkennbare Credofroheit. Begnadend bricht sie aus der Brust des Künstlers und verleiht dem Satz die Schlußglorien.

Das schöne kurze Adagio, F-dur, beginnt mit milder Trauer (Seufzer der Oboe), aber aus seiner zarten Melancholie wächst langsam eine Beseligung in dem schwellenden E-dur der Streicher und der durchsingenden Cellostimme. Immer stärker wächst es in Vorhaltstrunkenheit, bis das Gefühl des Allumfassenwollens durchbricht, eine der Stunden, wo die Güte des Künstlers Gesang wird, und er die Nächsten wie Fernsten an die Brust ziehen möchte.

Gleich darauf stille, sich bescheidende, irdische Glückseligkeit in dem stimmenverschlungenen Sechzehntel- und Achtelmotiv, das, langsam sich verbreitend und lösend, zu einem ergebenen marschartigen Gebilde, einem Satz von Prozessionsrhythmik führt: immer wieder wird die Gebärde des Demütigen sichtbar, der sich nur als Atom im Kosmos kennt, in Freude und Trauer dem Herrgott dankbar.

Mit den die Koda bildenden Glückseligkeitsmotiven, ihrem innigen Umschlungensein wird das Ethos des Satzes angeschlagen. Eine thematische As-dur-Skala der Violinen steigt vom höchsten Ton durch drei Oktaven herab – nur eine Skala, aber eine Welt von Liebe und Treue: in vollste Weite spannt sich das Gefühl und wiederholt des Künstlers Überschwang, alle Menschen heute bei sich zu sehen.

Dann kehrt er stillselig in seine Sechzehntelidyllik zurück, bis alles in eigener Befriedung ruhevoll verklingt. Unwillkürlich denkt man dabei an diejenige Art von Selbstgenügsamkeit, von der Schopenhauer einmal sagt: in unsrer elenden Welt gleicht der, welcher viel an sich selber hat, der hellen, warmen, lustigen Weihnachtsstube mitten im Schnee und Eis der Dezembernacht …

Das Scherzo ist in drei Stimmengruppen wie in drei Stockwerken gebaut. Klopfende Viertelblässe in der Tiefe, in der Höhe mischt sich Holzbläserthematik und eine flüsternde Zweiunddreißigstelfigur der Violinen, und die Mitte nimmt das Hauptthema ein: Zweite Violinen und Bratschen mit den Sextakkorden des triolischen Hauptthemas in a-moll. Diese Rhythmik gibt dem ganzen Satz die Formung: eine phantastische Szene, in die wieder idyllische Augenblicke spielen, wenn (nach Buchstaben C) das zweite Horn seinen triolenseligen Gesang, oder später, wenn ihn Oboen und Klarinetten (Buchstabe G) singen. Das Trio (in vier Achteln) setzt diese Stimmung auf seine Weise fort: in den naturfrohen drei Hörnern und in der abschließenden Kadenzierung der Streicher, die immer wie ein gutes Wort wiederholt wird und nicht ohne thematische Beziehung ist. Endlich in dem C-dur-Ausruhen der Streicher am Schluß des Trios.

Das Finale, eines der wenigst hervorragenden von Bruckner, hat doch Bedeutsamkeiten. Aus der Adagiowelt stammt seine Hauptthematik, und kurz nach dem Anfang setzt sich glaubensstark der Blechbläserchoral mit einem Urschrittthema durch. Die lyrische Gruppe (Buchstabe D) ist Heimaterinnerung, die auf die Zweite Sinfonie (Seitensatz) zurückweist. Aus der Schlußgruppe wird ein Energiethema gewonnen, das wie eine Vorstudie zum Finale der Siebenten Sinfonie anmutet, und zu dieser Thematik erhebt sich in feierlicher Rede die eherne Posaunenstimme mit dem Choral: es ist die Brucknersche Bindung, die seit der Ersten Sinfonie wiederkehrt und hier, wie in der Dritten Sinfonie, besonders schöne Formen gewonnen hat. Die Rückkehr des Freuden- und Glanzthemas des ersten Satzes beschließt breit und bestimmend das Werk.

Wir empfangen aus diesen sinfonischen Bildern ein Seelenbild des Künstlers jener Zeit, das sich lebhaft unterscheidet von dem der B-dur-Sinfonie. Keine Abgewandtheit, sondern Sichzuwenden wie der armeausbreitende Priester, Mannesstolz, Gottesfreudigkeit, morgendliches Strahlen der Seele, zartwerbende Liebe, unschuldiges Beteuern, Glaubensmut; im Adagio inneres Gleichgewicht, Einsiedlerglück, im Scherzo und Trio phantastisch und naturselig die alte Kraft, im Finale der Blick vom Diesseits zum Jenseits und schließlich die verklärende Lösung im Glauben. Diese Zeichen verbinden sie mit der Siebenten Sinfonie, die ebenfalls ohne Abgrund, ohne aufreißenden Konflikt die beglückenden Sicherheiten in Ecksätzen und Scherzo weiterführt.

Festliche Freudigkeit schwebt in der A-dur-Sinfonie. Ohne bestimmte äußere Einflüsse zu kennen,, sehen wir doch, daß der Künstler stark genug ist, sich unter feindseligem Druck zu erhöhen. Die Quelle aber der Gottfreudigkeit, die sich darauf in der Siebenten Sinfonie zur Gottestrunkenheit steigert, mag der lachende Katholizismus des Barock sein, die florianische Heiterkeit, die Hansjakob an allen Florianern fand.

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Die Siebente Sinfonie, E-dur, komponiert zwischen 1881 und 1883, ist diejenige, die Bruckners Namen als Sinfoniker zuerst ins Weite trug und, wie schon ausgeführt, die positive Wendung seines Schicksals bedingte. Ihre erste Aufführung fand statt am 30. Dezember 1884 im Stadttheater zu Leipzig unter Artur Nikisch. Die zweite am 10. März 1885 in München unter Hermann Levi, die eigentliche Festsetzung des Erfolges. In Wien ein paar Jahre später, am 21. März 1886 unter Hans Richter bei den Philharmonikern. In dem Konzertjahr 1885/86 viel gespielt: in Köln, Hamburg, Graz (Muck), Amsterdam, New York, dann 31. Januar 1887 Berlin (Klindworth), dann 1894 (Muck) usw. Wiederholungen in Wien: 24. Februar 1889 (Musikaufführung des Wagnervereins unter Hans Richter), 8. November 1896 (Philharm. Konzert), 13. März 1901 (Konzertverein unter Löwe), 16. März 1902 (Philharm. Konzert unter J. Hellmesberger jun.).

Die Siebente war die erste Sinfonie, mit der Bruckner bei den Wiener Philharmonikern vollständig erschien. Nach der Aufführung fand im Freundeskreis (Löwe, Schalk, Hans Paumgartner, Adalbert von Goldschmidt, Eckstein) eine Art »Feier« statt. Bruckner kehrte davon ziemlich spät abends nach Hause zurück; als er seine Wohnung betrat, fand er auf dem Tisch eine Depesche von Johann Strauß, der ihm seine tiefste Bewunderung, aussprach. Ganz ergriffen von dieser einzigen Huldigung des Wiener Walzerkönigs zeigte Bruckner die Depesche herum.

Das eröffnende Pracht- und Glanzthema, aus Brucknerscher Begeisterungsgewalt entstanden, bestimmte die Richtung der ganzen Sinfonie. In königlicher Haltung schwingt es im Horn und Cello empor, macht die Brucknersche Ausbiegung ins Unterdominantische, steilt sich dann bei der Wiederholung in der Schlankheit singender Violinen auf, den Raum bis an die Orchestergrenzen melodisch erfüllend; Nebenstimmen singen ihm zu; das Reiche wird bereichert, doch die Gesamtstimme bleibt Gottesfreude, Sich-Eins-Wissen mit dem Höchsten. Der offene Himmel steht zu Anfang der Gloriasinfonie, die Zungen der Verzückung reden, kein Ton des Konfliktes wird laut. Der Aufschwungskünstler spricht seine Aufschwünge aus, nichts vermochte zu hemmen, den Glanz der Gesichte zu trüben.

Im Seitenthema, das unter Bläserachteln, zwischen Dur und Moll dahinkräuselt, sich mordenthaft schlängelt, bald diese, bald jene Überraschungstonart streifend, ist mehr rhythmischer Gegensatz als Konflikt. Aber dieses unscheinbare, seltsam fortwindende, kapriziös gestimmte Thema zeigt sich bald als ungeahnte Glanz- und Energiequelle, ebenfalls bereit, am Freudenwerk teilzunehmen.

Der wunderbar erfüllte Meister liebt seine Themen – sind sie nicht die Kinder des Familienlosen? – er sieht das zweite gegen den Glanz des ersten zurückstehen, es bedrückt ihn vielleicht, er sucht es zu entwickeln, noch höher, noch glanzvoller, seine Steigerungsnatur, seine Ekstatik, die in den Briefen so oft »Hoch!« ruft, erlaubt kein bürgerliches Musikmachen, kein Weiterschleppen im »Machmichnicht-heiß-, Machmichnicht-kalt-Ton«: er schiebt sein Thema auf den Akkord der Begeisterung (Quartsext), wo es glückselig ruht, verkehrt seine Linien, macht die kindsköpfigen Launen zu Erhabenheiten, sammelt leisen Donner in den Baßtiefen eines Orgelpunktes, preßt einen Bläserturm bis zur Tredezim hinauf, verdichtet den Rhythmus zum Hufschlagdröhnen, und nun hat er einen rhythmischen Donner in Händen, mit dem er den Saal, die Erde erschüttert – bis er ihn stimmenweise löst und mit Humor in eine fast vergnügt schwankende, leise torkelnde Schlußgruppe münden läßt.

Sein sinfonischer Enthusiasmus brauchte diesen Freudendonner, er muß seiner Natur Genüge tun, koste es auch eine Durchführung schon im Vorhof der Sinfonie.

In schönem Fluß zieht die Schlußgruppe dahin, ein paar verstärkende Konturtöne des Unisonos werden singend, bald klingt es nach Heimat, und Dur wie Moll werden von dem vergnügten Schwanken des Basses thematisch gehalten.

In der Durchführung gibt es ein Beschaulichwerden der Themen, heftige c-moll-Erregungen des Freudenthemas mit enggeführten Leidenschaftsstimmen, ein Hochschwellen des Gesangthemas bis zum flutenden Hymnus, prachtvolle Reprisengriffe, sieghaftes polyphones Dahinschreiten, dann eine Koda, die zu einem breiten Meer übersingender Allegrostimmen wird, und zuletzt die Verklärung des schon verklärten Themas, das Aufgehen der Himmel mit jubelnden Streichern, jubelnden Bläserchören.

Überall durchfühlbar die Sicherheit des technisch Gereiften, die Flüssigkeit des Satzes, die Festfreude. Ja, der pfingstliche Glanz, der auf diesem Satz ruht, noch stärker als in der Sechsten Sinfonie, hat das Ganze zum Lieblingswerk gemacht. Nirgend aber eine starke Gegensatzsymbolik, nirgend der Donner und Rauch entfesselter ethischer Kämpfe.

Das Scherzo, a-moll, an dritter Stelle stehend, bindet auch nicht (wie das der Fünften Sinfonie) Diesseits und Jenseits. Über einem drollig-schwerfälligen Widermotiv springt hellzackig, oktavig und quintig die Signaltrompete mit dem Thema auf. Der prachtvollen Plastik des Motivs folgt ein septisch stürzender, fortführender Übermutsrhythmus, und die Lust am schönen Einfall baut und bildet eine Bauernunterhaltung, die Oberösterreich zum Welttanzplatz erweitert. Emporreißen widerstrebender Vierklänge, thematische Entladungen, Unisonoskalen, die das posaunig-schmetternde Thema überbrausen, walzerige Leichtigkeit, und hahnebüchene Vierschrötigkeit, manchmal das heilige Lachen des Künstlers in Trillerketten, und doch das Ganze ein seiner formalen, dreiteiligen, modulatorischen Pflichten sehr bewußter Satz.

Bruckner steht in solchen Humorsätzen über der Welt, seine schwere Fröhlichkeit wird ein alleskönnender Kraftenthusiasmus. Manche glaubten' in diesem Scherzo eine Gigantomachie zu sehen, Baumausreißer, Blöckeschleuderer, Böcklinsche Fabelgestalten, zottige Waldriesen, die mit Stämmen und Quadern wie mit Flaumfedern spielen. Gewiß handelt es sich um die Anmutsform einer gewalttätigen Natur, des durchbrechenden heidnischen Temperaments; doch der Waldriese, der Blöckeschleuderer, ist niemand andrer als Bruckner selbst in phantastischer Vervielfältigung. Die christliche Gebärde fällt, und zurück bleibt der bauernurhafte Heidentrotz.

Nach diesen Tumulten fließen wie in Feierabendruhe die weiten Triomelodien, mit Stimmen von schönem Bug, geglätteter Führung und friedlicher Gesinnung. Klares Geigensingen, klares Cellosingen in F-dur. Aber es ist keine Philisterruhe, die sich am Waldrand der überstandenen Strapazen freut. Die Harmonie enthusiastisch gestimmt, übersteigt einen kleinlichen Halbschluß im normalen C, ihre Gewaltneigungen gehen im Quintenzirkel um zwei Stationen weiter, nach D. Es ist eine heroische Ruhe, die sich ausbreitet, eine Ruhe von Niveau. Hier und da gibt es Gemächlichkeiten nach Art Griegscher Akkordidyllik, melodische Behaglichkeiten schönen Rastens, durchblitzende Trompetenstakkati und Schlußarabesken der Flöte; aber im Grund des Stückes lagert eine jederzeit bereite Gewalt – ein Scherzorhythmus in der Pauke, und wieder beginnt das Kraftwesen sein heidnisches Spiel.

Auch das Finale bindet nicht Diesseits und Jenseits. Sein Thema, ein beschwingter Nachhall des sinfonischen Hauptgedankens, ist ein Flug- und Drängethema, eine neue Form der Brucknerschen Enthusiastik. Ihm gegenüber tritt der kirchenhafte Choral, die »Hochrufe« werden von ernster Gebeugtheit abgelöst, die auf Pizzikatobässen leise-feierlich schreitet. Ohne weiteres könnte man der Choralmelodie die Worte: Credo, Credo unterlegen. Mit ungefüger Endtrillerwucht pflanzen sich Riesenunisonos in den sinfonischen Boden, Abkömmlinge der Heidenwucht aus dem Scherzo. Übergewaltig der Willensausdruck in heroischen Vorhalten, raumsprengend das Kolorit der preisenden Posaunen, Tuben und Hörner, der Stolz der Wackenroderschen Gottestrompete. Die Elemente der Brucknerseele finden im epischen Nacheinander ihre Gestalt. Nirgend aber werden sie Zusammen- oder Gegenklang. Keines überstürmt das Andere. Die Siegerverklärung gilt dem Glanz- und Glorienmotiv des ersten Satzes: noch tiefer öffnen sich die Himmel, bewegter wird Verzückung des Verzückten, und die potenzierten Jubelchöre des ersten Satzes sind dagegen nur ein Einfaches.

Die Sinfonie vermeidet damit mechanisches Sichselbstnachbilden, das glanzvoll erzählende Werk hat eigene Gesetzmäßigkeit, aber kennt keine starke Kampflust: ein Intermezzo, das dem Tedeum gleich nur seliges Gelöstsein in Gott jubelt, ein Vorspiel kommender Tragik.

Das Adagio, komponiert zwischen dem 22. Januar und dem 21. April 1883, ist der zweite Satz geworden und trägt die wichtigste Rolle: von ihm geht das ethische Schwergewicht aus.

Dieselbe Seele, die im ersten Satz ekstatisch prangte, sich in Steigerungen bis zum Zerreißen spannte, ist nun zusammengesunken, kaum bewegbar, wie erstarrt in einem Schmerz. Zeigte sie dort ihre Gottesfreudenkraft, so hier ihre maßlose Leidefähigkeit. Ein Gram, den alle Möglichkeiten speisen, hat den Künstler im Besitz, eine vielleicht erst objektlose, dann ahnende Trauer, die alles von sich weist, nur sich selbst als der einzigen Wirklichkeit lebt, und, die Geschichte einer Passion schildernd, sie erst in allen Schauern erlebt: – das bedeutet für uns dieses Adagio, dessen cis-moll-Thema in den dumpfen Stimmen der Tuben lastend hangt, Instrumente aus dem Nibelungendüster, hier zum erstenmal, aus seelischen Gründen, aus Maler-, nicht Kopistenabsicht, verwendet.

Seltsam verwoben mit dem Tod eines großen Mannes gibt das Adagio der ganzen hellfreudigen Sinfonie eine tragische Hinterwelt. Man spürt die Gegenwart unerbittlicher Gewalten und sieht das Bemühen des Künstlers, teils das Unerträgliche zu tragen, teils aus den fernen Regionen Zuversichten zu holen, als gäbe es eine selige Lösung, müsse eine geben, bis er den Bissen des Schmerzes wieder ausgeliefert oder still, mit feuchten Augen, kinderhaft wehrlos erliegt, sich ins Namenlose des Grames ergebend.

Diese Variationen eines Leidenkönnens lesen wir ab aus der cis-moll-Trauer des Einganges, dem markigen, choralhaften E-dur-Gang der Streicher, dem Alleinsingen der Violinen auf der G-Saite, den sich selbst tröstenden Zartheiten des septisch fortsingenden Quartetts, den zusammenknirschenden und aufjammernden Orchesterschreien geballter Septimenakkorde, nach denen der Schmerz an sich selbst ermattend zusammensinkt, und milde Klarinettengänge in die Tubentiefe zurückmünden.

Aber die Seele, die in diesem Unmaß trauert, voll männlicher Haltung, ohne Sentimentalität, besitzt außer der Gramfähigkeit die maßlose Liebefähigkeit: die, die den Künstler ebenso rätselhaft überfällt wie jene, als sei sie nur deren Verkehrung, und er müsse nun zu dieser Stunde, da er jede Hand von sich wies, jede Menschenbrust an seiner Brust empfangen. Diese Liebesfähigkeit löste sich aus in einem Fis-dur-Gesangsteil, der zu den unvergänglichen Tröstungen der sinfonischen Musik gehört. Wer immer ihm noch nahte, dem nährte er die Seele mit einer Beglückung –, die den Glauben an eine entsündigende Region sammelte. Nur wer liebend ist, erfindet Glück in der Form von Melodie.

Dabei hat diese Liebesgebärde Bruckners eine ebenso edle wie technisch hochstehende Form. In drei Geschossen baut der Polyphoniker sein Thema auf, das die Bachsche Kunst vielstimmiger Natürlichkeit in ruhigem Fließen wiederholt. Die Mittelstimmen wiegen dahin, die Bässe stützen, und die Oberstimme mit dem seelenvollen Quartenaufblick, dem Septenglück, dem Auflächeln und stillen Schwärmen, läßt ihren Heimatston, der Würde des Orts entsprechend, mehr ahnen als ausströmen.

Ruhevoll vollendet das Minnelied seine dreiteilige Form. Hugo Wolf, der die Sinfonie gewiß seit 1886 gekannt hat, vermochte sich ihrer melodischen Beglückung nicht zu entziehen: in seine Gebärde umgewandelt, homophon, aber noch erkennbar klingt Brucknerscher Septengesang in seinem ›Gebet‹ und seinem ›Genesenen an die Hoffnung‹.

Der Künstler steht nun vor den technischen Notwendigkeiten der Durchführung. Er verarbeitet das heroische Trauer- und das Gesangsthema in ruhigem Ansichhalten und fortwährendem Steigern. Der markige Dur-Teil des Trauerthemas wird bedeutsam, er hebt sich choralartig verbreitert durch harmonische Prächte heraus. August Halm hat die Logik der einzelnen Fortschreitungen in seinem Brucknerbuch wie ein Anatom erklärt. Aber die Gesamtlogik steht höher, sie kennt einen Hochpunkt, den das Ganze geistig erreichen muß, um das Unerträgliche zu ertragen, sie sucht die Regionen der Erlösung.

Das Trauerthema schreitet, zum letztenmal, in voller Gestalt, Streichersextolen geben umspielend Bewegungsdrang, aus den choralartigen Andeutungen ist eine aufsteigende Hymne geworden, die immer höher wächst, immer unwiderstehlicher einem Ziel zudrängt, über das Irdische hinaus: – sie berührt H-dur, dann eine Zwischenharmonie, und in plötzlichem Sinnwechsel öffnet sich blendend, als seien ewig verschlossene Tore aufgesprungen, die strahlende C-dur-Welt. Alle Glorien des Klangs sind lebendig, ein Choraljauchzen, ein Kraftjubel durchstoßender Trompeten unter Triangelsilber und Beckenschall, als freue sich nun endlich Kraft der Kraft, Aufschwung des Aufschwungs.

Und mit biblischer Wucht verharrt der Künstler, sich entladend, auf dieser Zymbeln- und Posaunenstelle, das Wiederholte in ekstatisch-breiter Sicherheit wiederholend. Es ist eine der großartigsten Verkündigungen der Musik, hervorgegangen aus dem Siegesmarsch der fünften Beethovenschen Sinfonie; aber wir ahnen einen anderen ethischen Sinn: ein Aufsteigen aus Grab und Nacht zu Glanz an Gottes Seite und zu ewigem Leben. Et resurrexit! Der christliche Gedanke der Todesüberwindung, des Künstlers reinste Hoffnung, formte die Gewalten dieses C-dur-Durchbruchs.

Bis hierher war Bruckner mit der Geschichte seines Schmerzes gekommen – da traf ihn ein Erlebnis, das auf eine seltsame Art den rätselhaften Trauerüberfall erklärte: aus Venedig lief eine Depesche ein, die den Tod Richard Wagners meldete. »Da hab ich geweint, o, wie geweint – –« So erzählte er den beiden Helms (Vater und Sohn), die ihn im Januar 1894 in seiner Wohnung, Heßgasse, aufsuchten, als er gerade von Berlin zurückkam, das Ohr noch voll vom Triumph des Tedeums und der Siebenten Sinfonie. »Ja, meine Herren, das Adagio hab ich wirklich auf den Tod des Großen, Einzigen geschrieben. Teils in Vorahnung, teils als Trauermusik nach der eingetretenen Katastrophe …« Dann ging er ans Klavier, spielte die Auferstehungsstelle mit dem Beckenschlag, das nachfolgende Diminuendo Des-dur, und die nun mit X in der Partitur bezeichnete Bläserstelle, die eigentliche Trauermusik, die er unter dem Eindruck der Todesnachricht niederschrieb.

Das heroische Trauerthema tritt dort leise wieder ein, aber über die Tuben seufzt eine Hornstimme hin, die man nicht anders wie musikgewordenes Jammern und Schluchzen empfinden kann (Buchstabe Y) – »o, wie hab ich geweint …!« –, eine weltliche Parallele jener Mitleidensstelle in der f-moll-Messe: Passus, passus … Dann verklärt sich der Schmerz selbst in edlem, hoffnungssicherem Cis-dur.

Wenn man ermißt, was Wagner in Bruckners Dasein bedeutete, weiß, welche Rätsel der Seele in einem Künstler Wirklichkeit werden, und er, anders als die anderen, den tiefsten Depressionen scheinbar grundlos überantwortet ist, dann wird man ihm auch glauben, daß zarte Sorge vorahnend sein Gemüt erfüllte, daß er den Tod selbst als hereinspielende mystische Erfüllung empfand, das Adagio also auf den Heimgang eines Großen schrieb, vorfühlend und mittrauernd.

Die wunderbar verallgemeinernde Fähigkeit der Musik hat dieses Adagio aber vom Tod Richard Wagners abgelöst, und es allen zugewendet, die in Größe schieden. Die Trauermusik erklang mit Recht in den Kirchen beim Tod Anton Bruckners selbst, beim Tod Hugo Wolfs; und über dies noch hinaus bleibt sie ein Memento mori und ein Trost. Brauchte es in den anderen Teilen der Sinfonie noch der ethischen Bindung von Diesseits und Jenseits? Hatte der Künstler in den Fanfaren des Jubel-C-dur nicht in alle Ecken der Welt den unerschütterbaren Glauben verkündet: non confundar in aeternum?

Die Siebente und die Sechste Sinfonie gehören innerlich zusammen als zweimaliger Versuch, Gottesfreude in voller Reinheit zu bekennen. Als drittes gehört in diese Gruppe das Tedeum. Dem Glänzen und Ausstrahlen der A-dur und E-dur folgt eine dunkle Welt, die tragische Sinfonie in c-moll, und dieser folgt der große Abschied, die letzte Ode, die Neunte Sinfonie, in ihren drei Sätzen selbst ein Finale zu acht Vorwerken. So zeigt fast jedes Lebenswerk Verschiedenheit im Gleichartigen und bedeutet eine besondere Station im Gang über diese Erde.

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Die Achte Sinfonie, c-moll, entstand zwischen 1885 und 1886 und wurde im Winter 1889/1890 überarbeitet. Erste Aufführung: Wien, 18. Dezember 1892 (Philharmon. Konzert), dann 1893 in Olmütz (Kapellmeister Labler), 1895 Dresden (Nicodé), 1901 Mannheim (Kaehler), 1899 München (Hausegger), 1903 Stuttgart (Pohlig), in Wien wiederholt 3. März 1902 (Löwe).

1887 schrieb Bruckner das Hauptthema einmal für Helm auf, der sich über das aus unterdominantischen Tiefen, dem F-Gebiet, hervortauchende Thema einer c-moll-Sinfonie wunderte. Eines der absonderlichsten Themen Bruckners, erscheint es schattenhaft, in pausig durchbrochener Form, beginnt mit einem dissonanten Stoß, wirft sich bis zur Non auf und rollt in unheimlicher Rhythmik zurück. Nichts stellt sich seinen Anläufen entgegen, nur der matte Seufzer der Oboen und Klarinetten antwortet; es erscheint in voller Gestalt, tonlich erfüllt, mit unerbittlichen Gewalten, in Bässen, Kontrabaßtuba, Hörnern – schmerzend schneidet die thematische Trompete durch das Tremolo – ein Wehschrei des ganzen Orchesters – in Brucknerscher Rhythmik (Viertel und Vierteltriolen) sinkt der Satz ab. Ein Symbol dämonischer Zerstörungsmächte hat sich angekündigt. Beklemmung vor dem Verhängten, hiobhafte Schauer vor Gott und vergebliches Auflehnen gegen den Vernichter –, das mag die Geste dieser seltsamen Thematik sein, die, geistig der Ersten Sinfonie verwandt, eine höhere stilistische Form gefunden hat. »Du hast mich verlassen, mein Werk zerstört, die Kräfte gehemmt, es zu vollenden, wie es Deiner würdig ist, und mein Würgen und Stammeln reicht nicht, Dich zu versöhnen!« Der tragische Zug der Sinfonie, in der sich Bruckner noch am meisten mit Beethoven berührt, ist festgestellt. Hatte er im Adagio der Siebenten Sinfonie, im Tedeum den Auferstehungsglauben ausgerufen, in den Messen seine Credoseligkeiten bekannt – hier vernimmt er die Stimme der posaunenden Engel: wehe denen, die auf Erden wohnen …!

In dem rhythmisch verknüpften Gesangsthema, seinem breiten Schwung in die Kadenz des Halbschlusses wird die Zuversicht des Künstlers Gesang. Er fühlt die Schönheit der Erde, die Erbarmnis Gottes und sieht in allem Düster die Sterne blinken. Der Glaube ist des Kampfes wert: der Gerechten Pfad glänzet wie ein Licht, das da fortgehet und leuchtet bis auf den vollen Tag … Er will nicht verworfen sein in Ewigkeit. Schon brechen aus der Schlußgruppe Trompetenfanfaren in triumphalem Es-dur hervor – noch ist es zu früh: sofort erscheint unter dem Tremolo der höchsten Streicher der Dämon der Tiefen mit seiner zuckenden unerbittlichen Sekunde, und, Ruck für Ruck sich vorschiebend, behauptet er in breiter Lagerung (Oboen, Tuben) die Oberhand.

Nun folgt einer der großartigsten Sätze Bruckners, was Tiefsinn des Baues und Gewalt der Tonsymbole anbelangt: die Durchführung. In allen Fratzen und Formen erscheint das dämonische oder Widersachermotiv, in teuflischer Verzerrung aus Holz, Hörnern und Tuben zeigt es sein Gesicht; in der Umkehrung beginnt die Gesangsgruppe, die reine, strebende Macht ihre Rhythmik zu entwickeln. Da klopft aus der Tiefe die teuflische Sekunde an dies Gebilde, die Dämonen melden sich, erst rhythmisch unterbrochen, dann pausenlos, immer drängender, bis es sich in voller Gestalt und in fundamentaler Gegenbewegung gegen das herabstemmende, zu halben Triolen ausgedehnte zweite Motiv stemmt, das Riesenkräfte gewonnen hat. Ein titanischer Kampf entbrennt – atemringende Hörner keuchen in Kampfpausen rhythmisch dazwischen – die Leiber der Themen werden aneinandergepreßt, die Harmonien zerdrückt – ein letzter Versuch des Aufbäumens, das Widersacherthema wird auf sechs Takte verbreitert – da ist es zu Ende: mit gebrochener Linie sinkt es stöhnend zur Tiefe, über seinen Zuckungen behauptet sich erschöpft das zweite Thema, der Zuversichtsgedanke.

Die Reprise der Sinfonie wiederholt nicht das zur Wiederholung vorgeschriebene Hauptthema. Das Verhängnismotiv taucht nur noch als rhythmisches Gespenst in den starren Holzbläsern auf, erschreckende Trompeten verkünden den Dämon, in den tiefen Violinen, in der Viola verklingt er, eine beklemmende Stille breitet sich um das Violasolo: alle anderen Instrumente lauschen reglos, bis die letzte rhythmische Spur verflog. So sah es in der Seele des Tondichters aus: bis zur Erschöpfung rang er um seine Selbstbehauptung.

Als Bruckner noch an der Sinfonie arbeitete, zeigte er Eckstein den eben fertig gewordenen Abgesang dieses merkwürdigen Satzes: »Samiel, der erste Satz wird schön abschließen …!« Dann spielte er die Stelle auf seinem, alten Bösendorfer voll Ergriffenheit – über sein Antlitz war ein eigentümliches Erschauern gebreitet und während des Spiels sagte er mit unterdrückter gepreßter Stimme: »Das ist die Totenuhr … die schlägt unerbittlich, ohne Nachlassen, bis alles aus ist …!« Auch in der Folge erfaßte ihn, so oft er die Sinfonie vorspielte und zur »Totenuhr« kam, ein eigenartiges Grauen, wie es wohl die erleben, die bei den letzten Seufzern eines Sterbenden zugegen sind.

Das Scherzo vom deutschen Michel ist mehr als ein prachtvoller Gegensatz, den Musikergeist folgen läßt: auf Ermattung – Kraftschöpfen. Hartnäckig und unnachgiebig stößt das sich steifende Thema gegen die herabsausenden Streicher, und das alte Fachwort vom basso ostinato bekommt hier (nicht im technischen), aber im ethischen Sinn neue Bedeutung: der Baß der Widersetzlichkeit und fröhlichen Auflehnung, der das Genie auszeichnet und die Welt neu baut. Aus diesem widderhaften Gewaltbaß schöpft der Künstler selbst Energien – auf die Totenuhr folgt die Lebensuhr – er zwingt die Harmonien gegen ihren Willen zusammen, die Unterdominante (as-moll) und den Oberdominantton (b) und steckt mitten hinein den deutschen Michel: Beethovensche Gewaltherrschaft. In der Durchführung bekommt der Michel (in orgelhaften Gängen der Holzbläser) die himmlischen Züge eines Erzengelantlitzes. Immer deutlicher entwickelt sich der Kampf des Göttlichen gegen das Teuflische, wovon wir oben sprachen, und macht das Scherzo zu einer wichtigen Station in der Sinfonie.

Im Trio, im langsamen Zweivierteltakt aber, träumt der Michel, nach einem allgemein verbreiteten naiven Brucknerwort, ins Land hinaus. Der Künstler erfüllt die vorgestellte Figur mit der eigenen Heimattreue – ist er denn nicht der Michel mit den zwei Seelen, der streitbaren und der knabenhaft-verträumten? Eine vorausgenommene Adagiomelodik, betrachtend und in sich beruhigt, durchströmt das Stück, tiefe Hörnerseligkeiten in E-dur-Gängen, eine werbende, bukolische Sept der Violinen, Harfenglitzern darüber – »hätte Bruckner nichts geschrieben als dieses Trio, wie müßten ihn allein deswegen schon gute Menschen lieben«, sagt Willibald Kaehler, der aus der unverstellbaren Geste der Musik die tiefe Güte des Brucknerschen Herzens hörte.

Bruckner scheint den Deutschen Michel besonders geliebt zu haben, ja beim Verlassen seiner Wohnung kehrte er einmal um, um das Manuskript des Scherzo mit Notenblättern zuzudecken, seinen Michel wie ein Kind zu schützen.

Das große Adagio in Des-dur zeigt die Inbrunst des Hochbrucknertums. Sein verklärtes Wesen wird durch ein neues Instrument, die Harfe, bestimmt. Lange hatte Bruckner mit sich gerungen, ob er sie, die ihm nicht sinfoniewürdig erschien, verwenden solle, hatte sie nur als Putz für Liszts beschreibende Dichtungen gelten lassen, und kam dem besuchenden Eckstein, eines Tags, mitten in der Arbeit, schon an der Tür entgegen: »Samiel, ih hab do' (doch) a Harf'n g'schrieben!« Lange beschäftigte ihn sein Harfenkonflikt als Abweichen vom Stilprinzip, und es machte den Eindruck, als ob er sich deshalb bei allen seinen Freunden entschuldigen wolle, um allerdings über seine Hypochondrie einige Wochen später zu lächeln.

Es lag innere Notwendigkeit vor. Denn dieses Adagio, das sich mit verschwimmenden Rhythmen, und weithinsingenden Violinen meerhaft ausbreitet, ist von einem neuen, dem seraphischen Element bestimmt. Der Steigerungsnatur des Künstlers war es Gebot, über das siebente Adagio, eine höhere Ebene der Ekstatik zu erreichen, zumal nach dem ersten Verzweiflungssatz, wo er das Klopfen des Todes hörte. So sind denn hier wesentlich die großen hymnischen Aufschwünge gleich zu Beginn, die zweimal das Thema abschließen, und sich harfenumspielt in die Wolken verlieren. Dann schweigt die Harfe im ganzen Stück. Die Erfindungsgewalt ist stärker und reicher geworden: in den fünfzig ersten Takten sammelt sich eine Vielfalt flehender, geknickter, markiger, stolzer und verzückter Motive und ein durchschneidendes Schmerz-Symbol der Violinen. Im Seitensatz steht ein Motiv sinkender Sexten und Oktaven, das sich zu einer langen Erzählung von Einsamkeit und Misereregedanken ausweitet. Das Schwergewicht ruht in der zweiten der beiden Durchführungen, einer der gestuften Steigerungen, die sich unterbrechen und neu ansetzen müssen, um sich zu verwirklichen. Es ist das Sichbereitmachen des Erfüllten für den höchsten Augenblick, wo er selig in Gott, Gott selig in ihm ruhen wird. Im vierfachen Fortissimo strahlt auf dem Gipfelpunkt der Steigerung Es-dur in der Verzückungsform (Quartsextakkord), die Tore des Himmels sind gesprengt, und nun erklingt wieder der seraphische Hymnus, umspielt von jenem Preisinstrument, der Harfe. Eine Art sinfonischer Wiederholung des Messensanctus mit den Engelstimmen und Hosannarufen, ist dieses Riesenadagio entrückter und machtvoller, in seiner Güte gütiger als das der Siebenten; breiter seine Wucht, weiter seine Gliederung, aber trotz der stilistischen Überlegenheit nicht so sinnenhaft bezwingend wie jenes.

In den letzten Jahren seines Lebens war der Künstler naturgemäß dem Todes- und Vernichtungsgedanken stärker ausgeliefert; daher im Finale eine gesteigerte Überwindungsgewalt, übermächtiger, ja, maßloser Verklärungsdrang.

Er hatte im Scherzo die Kraft am Widerstandsgedanken, im Adagio durch die »geistliche Hochzeit« mit Gott gestählt. Beharrlichkeit und Vertrauen sind neu gewonnen. Nun folgt Endkampf und Entscheidung: die letzte Schlacht. Er beginnt sie, seine finale Absicht betonend, gleich mit einem kriegerischen Glaubenschoral, massiger und wuchtiger als die Sturzthemen des Dritten und Vierten Finales. Seine Harmonien schwingen von D nach b-moll, nach Ges, nach Des, wo glaubensstolze Hallelujatrompeten Fanfaren schmettern. Mit sieghaftem Bewußtsein tritt der Choral seine Aufgabe an: er klingt wie ein Anruf um den göttlichen Beistand, und ist dessen sicher.

Bruckner hat nach diesem kein Finale mehr geschrieben. Ahnungsvoll wurde alle Energie versammelt, alle Kunst getürmt, um hier, nach dem tragischen ersten Satz, die ethische Erhabenheit zu erreichen, aber auch, um das Finale aller Finale zu gestalten. Es ist seinem Grundwesen nach ein kriegerisches Getümmel, worin der Choralgedanke sich gegen Widerthemen durchsetzt, aber auch allen anderen positiven Mächten der Sinfonie Raum bricht. Wie groß die Ethosentwicklung des Meisters geworden ist, dessen Kraft durch die »Prüfungen« wuchs, sieht man im Rückblick auf das ganz unproblematische Finale der Zweiten Sinfonie, sieht man an den Schlußsätzen der d-moll-, Es-dur-, A-dur- und E-dur-Sinfonie, die zwar die Apotheose des Urthemas herbeiführen, aber überboten werden von der vierfachen Apotheose des Achten Finales, das sämtliche Themen der Sinfonie zu einem Schluß von unerhörter Türmung vereinigt, darunter auch das dämonische Vernichtungsthema in Durgestalt. Selbst das nach Raumerweiterung greifende Fünfte Finale steht an inneren Mächten, an Hallelujakraft dagegen zurück. Dies Zusammenwachsen und Zusammenstrahlen von Themen, dieses »Symphonein« der ganzen Sinfonie hält der »Totenuhr« des ersten Allegros erst das Gleichgewicht. »Und der Engel griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und der Satan, und band ihn tausend Jahre, und warf ihn in den Abgrund und verschloß ihn und versiegelte oben drauf, daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden tausend Jahre …«

Jetzt findet der Künstler die Höhen der Entrückung, die Ruhe in Gott, und konnte diesen Tag der Siege nur einmal erreichen: am Ende eines Lebens und einer Meisterschaft. Bruckner hat kein Finale mehr geschrieben …

*

Die Neunte Sinfonie, begonnen Ende April 1891, wurde am 31. Oktober 1894, zwei Jahre vor dem Tod des Meisters mit dem Adagio abgeschlossen. Versagte die Kraft, sie zu vollenden – so scheint, abermals größer als sonst, die Kraft der Formung in den drei vollständigen Sätzen, als ob der Meister Spätblüher zuletzt die kostbarsten Früchte trüge. Der Anblick des ersten Themas allein zeigt ein Gruppenthema, gruppiger als alle anderen, eine Einfallsfülle, die wahrhaft florianisch ist, d. h. überbreit und überweit wie das bauliche Kolossalerlebnis seiner Jugend.

Der Künstler steht am Ausgang. Der achtmal gekämpfte Kampf ist noch einmal zu kämpfen, als ob alles Vorherige Unzulänglichkeit, alles Gesagte Ungesagtes wäre. Es ist kein Ende im Künstler.

Es gibt einige Verse in Rainer Maria Rilkes Stundenbuch, die solchem Ewigsicherneuern und Niezuendekommen gelten:

»Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang …«

In dieser Sinfonie ist der Künstler nur noch ein großer Gesang. Niemals hat er ein Werk aus solchen Urtiefen der Ehrfurcht begonnen, als habe er sie jetzt erst entdeckt. Aus mystischem Abgrund zögern aus den Hörnern unsichere Motive von Grundton zu Terz, zu Quint, tastend, entmutigt, zu Boden sinkend. Gebeugten Hauptes beginnt der Sänger sein Kyrie … Der alte Wackenrodersche Zug spielt über das Antlitz der Sinfonie.

Aber dies war noch nicht das Thema. Eine Vorwelt empfängt uns, wir müssen durch vier Vorhöfe, bis sich seine heilige Größe zeigt. Die Sprache wird vielleicht einmal Siegel finden für die seltsamen Gebärden dieser Vormusik. Für die erste mystische Verzückung der Ges-dur aufreißenden Hörner, deren Triumph entkräftet vermurmelt, für die vorhaltig durch die Harmonien gleitenden Violinstimmen, die im Steigen zu fallen scheinen, die aufleuchtenden Oktavensprünge, die krausen, drängenden Linien, die emporpressenden Akkorde – – mit dem Engel ringend gelangt der Künstler zum Anblick Gottes. Zweimal in Oktaventiefe abstürzend und wieder aufwallend entrollt dieses Unisonohauptthema seinen furchtbaren Anblick, als erscheine Gott in Ungewittern. Im Druck auf fremde Tonarten, die sich nach d-moll zurückfügen müssen, zeigt es den Arm des Gebieters, die Allmacht.

Der ganze Misteriosoton der Vormusik ist verwandt der Tiefenschau der alten Mystiker: das Gottsehen mit geschlossenen Augen, Gottwerdenwollen aus Gnaden. Von anderer Seite her sieht ein guter Beobachter (Karl Grunsky) in dieser Entwicklung Brucknersche Züge, die wir wieder die Lebensgebärde nennen können: »schüchtern in der Welt, bescheiden unter Gleichgesinnten, fragend und sehnsuchtsvoll nach allem Höheren, Kind im Mann, ein Kind, das sich oft nicht traut, seine Herzlichkeit nur zitternd hingibt und nur langsam das Bewußtsein seiner eignen Größe erreicht«.

Homo sum. – – Mit zweimaligem demütigen Augenniederschlagen beginnt der Gesangsatz, A-dur. Seine Wärme strömt erst zaghaft. Dann heimliches Werben. Siehe, ich bin ein Mensch wie alle, sündhaft und gebrechlich, von Leidenschaften durchströmt wie dieser mein Gesang, voll Sehnsucht wie die Septimen der Geigen, im Irren liebend, im Lieben irrend … In solchem Licht erblickt sich der Künstler vor dem Gottesgedanken, der noch in keiner seiner Sinfonien so erschreckenden Anblick gewonnen hat. Das Thema schattet selbst über die anderen Teile hin. Sonst war der Seitensatz die Heimat der Heimat – hier klingt nur, sehr verschleiert, im Dur-Moll-Wechsel der schöne österreichische Landschaftston durch. Der Meister ist dem Diesseits schon halb entrückt. Alles Geschehen liegt im Glanz des Himmelslichtes.

Selbst die Schlußgruppe, die eigens vorbereitet wird, hat einen Zug von überirdischer Gelassenheit: die üblichen Unisoni sind fast singend – kein entbranntes Fortreißen –, und zuletzt entkeimt ihr ein eigener Gesangsatz, schwach erglühend wie fernes Abendrot (Ges-dur): alle Liebefähigkeit des Brucknerschen Herzens verströmt sich. In Erregung sinkt der Teil der Durchführung zu.

Als ob Bruckner erst am Ende seines Lebens zur Ahnung der Gottesgröße gekommen wäre und sie zum erstenmal symbolisieren könnte – so hochgewaltig spannt sich der Durchführungswille.

Gott, der Herr, erscheint fast wie ein Gegner, wie ein Ankläger. Der Kampf aus der Achten Sinfonie, klein dagegen, spielt noch einmal, aber mit vertauschten Rollen: dort grollte der Mensch, und seine Leiden klagten Gott an; in der letzten Sinfonie fordert Gott von seinem Kinde Rechenschaft. Vergebens kämpft es sich an ihn heran, in furchtbaren Gesichten (f-moll-Sturz des Themas) zeigte er seine Unerbittlichkeit – an diesem Überthema zerschellt jede Bemühung. Umsonst der wütende Ansprung der Trompeten mit dem ersten Verzückungsmotiv, umsonst die zerreißende Rhythmik, das Armeausstrecken: unversöhnt thront der ewige Richter in seiner Gewalt, dem »grimmen Löwen« des Sachsenspiegels gleich. Der Satz schließt auf schallenden leeren Quinten – ergebnislos.

Unentschieden blieb auch der Kampf des ersten Satzes der Dritten Sinfonie. Aber welche Gottesgewalten treten hier als »Gegner« auf! Erst am Ende eines Lebens weiß der Mensch, was gut ist »und was der Herr von dir fordert … nämlich sein Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott …«

Scherzo und Trio sind Intermezzi huschender finaler Heiterkeit. Keine Urschrittthemen schreiten, kein Oberösterreich stampft – dies alles liegt so weit – die Schwere ist befreit, und im erlösten Rhythmus geht es gerade hinein, über Leben und Dinge, ins himmlische Märchen. Selbst das alte Poltern im Brucknerrhythmus hat seine Bauernschwere eingebüßt und gleicht mehr dem Umfahren lustiger Teufel im Volksmärchen. Bunte Elemente mischen sich: ein neu erfundener Akkord, der auseinanderhüpft in Flöten und schläfrigem Fagott, Chopinsche Passageneile, thematische Paukensoli, Pikkololichter, Violinspikkati, Berliozsche Gelenkigkeit und dazwischen die Wehmut einer sordinierten Duolenmelodie, ein letztes, wundes Lächeln. Das klingt fast unbrucknerisch, doch niemand hätte diese formsichere, entlastete Musik schreiben können wie Bruckner.

Das Adagio ist der Epilog eines Schaffens. Der Abgesang einer Vollendung, wie ihn Mozart, Wagner, Ibsen geschrieben haben. Hat Bruckner im Scherzo und Trio als lächelnd Befreiter Rückschau gehalten, so hier als Beladener des Lebens, der sein Kreuz getragen und alles, wie es kam, als göttliche Begnadigung segnet. Es ist die einsamste Musik, die gesungen wurde. Keines seiner Adagio beginnt mit einem so schmerzirren, vereinsamten Geigengesang, einer bitteren, bitteren Klage, die einen wahren Kreis von Jammer in zwei Takten beschreibt: eine Non aufwärts, dann ins Unsagbare hinab über das chromatische Intervall ais. Alle geschleppten Bürden der Vergangenheit sind in den weiter wankenden Vorhaltsmelodien der nächsten zwei Takte vereint. Da tritt D-dur ein, der Künstler findet Fassung, er steigt in Verklärungshöhen auf, und mit einer katholischen Amenformel findet er in Demut den Weg zum Gottesfrieden. In diesen ersten sechs Takten ist, wie in einer Inhaltsangabe, das ganze Adagio enthalten, mehr noch: sie sind die abgekürzte Lebenskonfession des Mannes und sagen ihn völlig aus. Die nach E-dur aufsteigende Formel berührt in uns ähnliche Empfindungen wie das aus der Dresdener Hofkirche stammende Sextenmotiv aus dem Parsifal, wurde hier aber thematisch entwickelt.

Der folgende Zwischensatz entwickelt auch das erste Bürdemotiv in allen Möglichkeiten, als langnachhallenden, als bohrenden, als bedrohenden Schmerz – es kommt zu wahren Fanfaren des Leides –, bis unter ganz unirdisch herabklingendem hohen Violintremolo eine Elegie der Hörner hervortritt, die Stufe um Stufe entsinkt. »Abschied vom Leben« nannte Bruckner diese Stelle (Buchstabe B der Partitur), als er sie, 1894 eben von Berlin zurückkehrend, den beiden Helms vorspielte.

So war mein Dasein … Von diesem Abschiedsgesang geht ein Wehmutsschauer über die ganze letzte Musik. Die Melancholien der Erlebnisse fließen zusammen. Auch über den Erinnerungen, zu denen nun das Seitenthema führt. Dieser As-dur-Satz mit den Quartenaufblicken der Violinen und dem Bratschenmurmeln mag wohl die Heimat sein; und der Ges-dur-Satz mit seiner süßen Sehnsucht nach verlorenen Dingen, dem immer höher dringenden Suchen der Violinen, kann wohl der Jugend gelten. – Der alte Rosegger gestand einmal – so viel er auch geschrieben habe, sich, den eigentlichen Rosegger, habe er nicht gesagt: vielleicht könne es nur ein Musiker. Nahm er den innersten, ungeschriebenen Rosegger ins Grab, der innerste Bruckner fand hier seine Musik.

In den beiden Verarbeitungen des Bürdegedankens wächst sein Schmerzinhalt ins Ungemessene. Bilder der Rückschau tauchen vor dem geistigen Auge auf. So wird bei Buchstabe S das Seitenthema verkehrt und vergrößert, aber dieselbe Melodie sang schön vor dreißig Jahren der Chor zum Miserere nobis in der D-Messe (S. 17 des Klavierauszuges); und dasselbe Miserere sangen Flöten, Oboen und Klarinetten im ersten Satz der Dritten Sinfonie (Part. S. 34). Immer die betende Gebärde, in allen Stationen des Lebens: ein geschlossener Daseinskreis wurde durchmessen.

Ganz zuletzt erheben die Tuben ihre dunkeln erzenen Stimmen, und ein Thema, anklingend an das Adagio der Achten Sinfonie, dann eine Hornerinnerung aus der Siebenten, klingen auf, die Werke durch ein inneres Band umschlingend.

Die Grundenttäuschung des Lebens, das Ewigvergebliche war Musik geworden. Nun verklingt alles in die selige E-dur-Klarheit des Endes: ein Licht verklärt den Beter wie jenes, das Dantes Antlitz verklärte, als er am Schluß des Paradiso die Rose des Himmels erblickte …

Was konnte noch folgen? Ist unvollendet, was menschlich ein so vollkommenes Ende bildet? Zu einem Fertigwerden im musikalischen Sinn reichte die greise Kraft nicht mehr. So blieb am Ende Bruchstück auch diese sinfonische Vollendung:

»Wir bauen an dir mit zitternden Händen,
und wir türmen Atom auf Atom,
Aber, wer kann dich vollenden,
du Dom.« (Rainer Maria Rilke.)

Übereinstimmend berichtet die Brucknerüberlieferung vieler Zeugen, der Meister habe an Stelle eines letzten Satzes, nicht als »das Finale«, sein Tedeum bestimmt. Bei der Uraufführung der Neunten Sinfonie (am 11. Februar 1903 in Wien) machte Ferdinand Löwe denn auch dieses Tedeum; aber er schied es von der Sinfonie durch eine fast halbstündige Pause. Mit Recht. Er mochte gleich Nikisch fühlen, daß der greise Verklärungsstil des letzten Adagios und das viel ältere mannesstarke Tedeum nicht zur Einheit zusammenklingen.

Und doch hatte der Brucknersche Wunsch schöne Sinnigkeit: nur ein Stück gab es noch als Abschluß – nicht der Neunten Gottessinfonie – sondern aller Werke zusammen, ihre gesammelte Botschaft und ethische Essenz: die stimmenvereinende Glaubenshymne Tedeum laudamus!


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