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Der Kampf um die Sinfonie

Wir müssen nun dieses sinfonische Schaffen im Zusammenhang betrachten, diese Haupt-Lebensäußerung des Künstlers. Sie steht unter dem gleichen rhythmischen Gesetz wie sein Leben überhaupt: feierliche Gelassenheit, Vorrücken in Abschnitten, hinter jeder Strecke ein Punkt. Das ganze eine riesenhafte Opferhandlung, ein großes Offertorium, das die besten, reifsten Gedanken in der besten, reifsten Technik entfaltet.

In den Jahren 1871-1872 schuf er in Wien seine zweite Sinfonie in c-moll. Er war 47 Jahre alt, der Lebenshöhe nahe. Das Jahr darauf folgte die d-moll-Sinfonie (Nr. 3), in der Mitte der Siebziger Jahre wird die Sinfonie in Es (später »Romantische« genannt) entworfen und in der Reinschrift Juni 1880 vollendet. Der Bau der Fünften Sinfonie (B-dur) nimmt über vier Jahre in Anspruch (Ende 1875 bis 1880). Die Sechste Sinfonie (A-dur) schreibt Bruckner von 1879 bis 1881, die Siebente (E-dur) 1881-1883, die Achte (c-moll) beendigt er 1890, die Neunte 1894: er war 70 Jahre alt.

Seine Hauptwerke fallen demnach in die letzten zwanzig Jahre seines Lebens, man darf ihn mit Recht einen Spätblüher nennen. Beethoven schrieb seine erste Sinfonie mit 30, Mahler seine erste mit 28 Jahren. Bruckner erinnert hierin an Künstler wie Liliencron oder C. F. Meyer oder den »alten Fontane«, der an seine großen Romane erst mit 50 Jahren ging. Auch die Romane der Weltliteratur, Donquixote, Robinson, Gulliver, Gil Blas sind von älteren Männern nach leidvollem Leben geschrieben. Spätfrucht scheint Zeichen guter Rasse zu sein.

Dabei hat Bruckner noch manches seiner Werke umgearbeitet, wie er denn alles langsam und bedächtig hervorbringt, nicht in kurzen hinfiebernden Rauschzuständen, wie etwa Hugo Wolf. Zu den Sinfonien tritt weiter das zu Ende der Siebzigerjahre vollendete Streichquintett in F, dann von größeren Kirchenwerken (außer der f-moll-Messe von 1868, der e-moll-Messe von 1869) das Tedeum (1883/84) und der 150. Psalm (1892).

Und diese Werke, die sich nicht an die Gesellschaft, sondern an die ideale Gemeinschaft der Gläubigen richteten, wurden aufgeführt zu einer Zeit, wo die Fürstin Metternich Sommernachtsträume im Prater arrangierte, in einer Stadt, die sich an Hans Makarts Festaufzug berauschte, in einer Gesellschaft, deren schönste Frauen sich drängten, um ihre Nacktheit auf einem Akademie-Tableau Hans Makarts verewigen zu lassen.

Welches Verhältnis konnte diese Gesellschaft zu Bruckner finden? Welches eine dekorative Zeit?

Sie aber herrschte und entschied. Wer das Stammpublikum der Philharmoniker damals erlebt hat, hat auch sie erlebt, eine typische Großstadt-Bourgeoisie. Leute, die sich in der Woche an mehr oder minder glorreichen Bank- und Börsengeschäften berauscht hatten, erschienen Sonntag mittag strotzend im Saal mit den goldenen Karyatiden, um knapp vor dem Essen auf Grund eigenen Entschlusses Richter über einen Künstler zu sein. Der Hochmut lag mit Beurteilermiene in den Sitzen und verlieh mit ungehemmter Geberde dem Grundethos einer »freisinnigen« Behaglichkeit Ausdruck, die durch nichts gefährdet werden durfte. Und wenn wir Jugend hinten im Stehsaal auf närrische Art rasten, tobten, klatschten, schrien, selbst wenn wir gar nichts verstanden, so deshalb, weil wir den alten Mann aus Mitleid und Justamentsgefühl gegen jenen aufreizenden Anblick in Schutz nehmen und den voraussichtlich schlechten Kritiken zuvorkommen wollten: »begeisterte Aufnahme von einem Teil des Publikums« sollten sie feststellen müssen. Welche Glückseligkeitsgefühle durchwogten das Stehparterre bei der lachenden Trillerkette im Scherzo der Siebenten Sinfonie! Wie suchte Auge Auge, um sich zu verständigen!

Zwischen Jugend und Stammpublikum gab es noch eine Mittelschicht von Neutralen, die sich gutgläubig nach dem Wetter der Kritik richteten und die man hüben und drüben zu gewinnen suchte. Die führende Presse aber wurde in die Provinzen hinaus wirkend und machte dort die Meinung, die viel zäher wurzelte als in Wien: was Hanslick einmal über Bruckner geäußert, war entschiedene Sache für Jahrzehnte. So kam es etwa zu der absonderlichen Tatsache, daß der Verfasser dem Musikpublikum einer intellektuellen Alpenstadt jahrelang vergeblich die Stimme des ihr blutsverwandten Meisters zu verdeutlichen suchte – ein Ortsfremder den Einheimischen – bis 1906 plötzlich eine Wendung eintrat; zehn Jahre nach dem Tod – mit diesem Kalendertag ward Bruckner »klassisch«, oder wenigstens immun.

Die formale Überlieferung lebte in Wien so stark, daß die sonst sehr bewegliche Stadt von der neuen Romantik, und allem, was Flügel spannte, später berührt wurde als andre Zentren, als sei sie wirklich schon halbbalkanisch. Man weiß, wie spät Tannhäuser – in einer Vorstadtbude –, wie spät Lohengrin – 1853 durch Bruchstücke in den Konzerten von Johann Strauß, 1859 erst im Kärntnertor-Theater – bekannt worden ist. Ja, dieser bequeme, selbstgenügsame Geist setzt sich durch die ganze liberale Zeit fort: mit einem einzigen Orchester »frettete« sich die Millionenstadt, bis 1901 ein zweites (das Wiener Konzert-Orchester mit Ferdinand Löwe) gegründet wird.

Neben Hanslick wirkte noch als Stimme des Publikums, von kleinern Geistern abgesehen, in den Siebziger Jahren der gelehrte Ambros, der seine Einfälle wie eine unendliche Melodie ausspann und den immer gelangweilten Hanslick mit Schrecken erfüllte. Später trat der nachmalige Brahms-Biograph Max Kalbeck dazu, ein Mann von Stil und Lyrik, dessen norddeutscher Protestantismus aber, in Bruckner einen »Jesuiten« witternd, zu keinem Erlebnis kam. Merkwürdig ist, daß der bedeutendste Kritiker Wiens, Ludwig Speidel, derselbe, der das Wort von der musikalisch-dramatischen Affenschande Bayreuths prägte, durch künstlerische Witterung und das Stifterische seiner Natur zu Bruckner geführt wurde und sich freimütig zu ihm bekannte; leider verzehrte ihn sein Hauptamt, das Burgtheater-Referat. Als Dr. Theodor Helm an die Deutsche Zeitung kam, machte er dieses Blatt mutig und überzeugt zum Bruckner-Blatt (1884). Die Deutsche Zeitung war nun allerdings keine Neue freie Presse und Helm kein Hanslick: er fand für seine Begeisterungen meistens das trockenste Wort – aber er kämpfte als Soldat und brav. Seine Erinnerungen (»Fünfzig Jahre Wiener Musikleben«, im »Merker« veröffentlicht) bilden eine Hauptquelle für die Beurteilung jener Zeit des Stilkampfs und wurden auch hier ausgiebig benützt.

So ungefähr waren die Kräfte verteilt. Von der Stärke der Lungen aber gibt die Erinnerung des Verfassers Zeugnis, die ein kleines Bruckner-Schimpflexikon aus damals geprägten Worten bilden könnte: »impotenter Römling … ketzerfleischduftendes Tedeum … traumverwirrter Katzenjammerstil … ein Betrunkener«. Einmal erschien ein sehr geschickt gemachtes Gedicht – jede Verszeile aus einem andern Dichter – um Bruckners Verworrenheit zu verulken. Ja, lange nach Bruckners Tod »prägte« noch ein bekannter kritischer Spaßmacher ein geflügeltes Wort über die Romantische Sinfonie: »Oberösterreichische Suite von Richard Wagner …«

Mit demonstrativem Entzücken nahmen dagegen die Stammsitze, vor Bruckners Sinfonie die Flucht ergreifend, die Suiten und Serenaden entgegen, die die Kunst jener dekorativ gestimmten Jahre darstellten und die heute samt den Jahren und den Menschen verschwunden sind, vergessen wie jenes Makartsche Akademie-Tableau »Einzug Karls des Fünften in Antwerpen«, das mit seinen schönen Frauenleibern entstellt und verdunkelt später nach Wien zurückkam, unkenntlich, kein Bild mehr, – das Sinnbild eines Verfalls …

 

Im Jahre 1873 entschloß sich Anton Bruckner, mit einer neuen Sinfonie vor die Öffentlichkeit zu treten. Er war als Sinfoniker in Wien noch ganz unbekannt, die in Linz fünf Jahre vorher halb verunglückte Erste Sinfonie wagte er nicht zu wiederholen – ihr aufständischer Geist konnte gefährlich werden –, die Zweite Sinfonie schien nun viel zahmer und voraussichtlich erfolgreicher. Es war die Zeit der Weltausstellungen, auch in Wien ging gerade eine zu Ende, das Operntheater feierte sie durch ein internationales Ballett, Rubinstein durch Variationen über den Yankee doodle, und Bruckner benützte den Anlaß, um im großen Musikvereinssaal »zur Feier des Schlusses der Wiener Weltausstellung« eine Musikaufführung zu veranstalten (23. Oktober 1873). Eine Pressestimme fragte zwar, in welchem Zusammenhang sie mit diesem Ereignis stehe – aber hatte es mit einem effektvollen Börsenkrach unerwartet begonnen, warum sollte es nicht mit Musik aufhören?

Als Bruckner bei der Probe an das Pult trat, sagte er, nach der Erinnerung Artur Nikischs, zu den Musikern: »Alsdann, meine Herren, wir können probieren, so lang' wir wollen; ich hab' Ein', der's zahlt …« Gemeint war der Fürst Liechtenstein, ein Verehrer Bruckners, der die Mittel zu diesem Sonderkonzert zur Verfügung gestellt hatte, da die Philharmoniker »in keiner Weise für Bruckner zu haben« gewesen waren.

Den ersten Teil des Abends bildete ein Orgelkonzert, wobei Bruckner eine C-dur-Toccata von Bach und hierauf eine freie Phantasie spielte, von der Theodor Helm bedauert, daß sie nicht von einem musikalischen Geschwindschreiber festgehalten wurde: die Welt wäre um eins der herrlichsten Orgelstücke reicher. Dann folgte die Sinfonie. »Sie wurde«, berichtet Helm, »unter des Komponisten eigener Leitung sehr schön gespielt und Satz für Satz mit stürmischem Beifall aufgenommen; allgemein verstanden wurde das in seinen Ecksätzen noch immer die herkömmlichen Maße stark überschreitende Werk nur von wenigen, zu denen leider – ganz offen will ich's heraussagen – der Schreiber dieser Erinnerungen damals noch nicht gehörte«. Helm führte zu seiner Entlastung an, daß von Bruckner nichts gedruckt vorlag und er keinen Ton davon kannte. So nannte er das voranklingende Werk in seinem abfälligen Bericht, der häufigen Unterbrechungen wegen, die Pausen-Sinfonie. Auffallend freundlich urteilte Hanslick in seiner Besprechung: »Obwohl der Total-Eindruck durch eine unersättliche Rhetorik und allzu breite, mitunter haltlos zerfallende musivische Form beeinträchtigt wird, war doch die Wirkung auf das Publikum eine günstige und die Aufnahme der Sinfonie eine geradezu enthusiastische. Wir begnügen uns für heute mit der Meldung dieses glänzenden Erfolges, welcher dem bescheidenen, energisch strebenden Komponisten von Herzen zu gönnen ist …« (Neue Freie Presse vom 28. Oktober 1873.)

 

Den größten Bewunderer aber fand Bruckner an Herbeck. Nach einer Probe der Sinfonie soll er dem Komponisten gesagt haben: »Noch habe ich Ihnen keine Komplimente gemacht; aber ich sage Ihnen, wenn Brahms imstande wäre, eine solche Sinfonie zu schreiben, dann würde der Saal demoliert vor Applaus …!« Dabei stand Herbeck als praktischer Musiker keineswegs blind vor der Brucknerwelt. Er glaubte in dieser grandiosen, alpenhaft aufsteigenden Musik auch Wildnisse und Katastrophen zu erkennen, in dem abschnittweisen, dem persönlichen Rhythmus des Künstlers folgenden Vorrücken – Provinz: Mängel, die allerdings zu ehrlich waren, um sich durch Passagen- und Verbindungswerk zu verhüllen. Vielleicht hat er manche Partitur in der ungebändigten Urgestalt gesehen, kurz er bemängelte »die often Wiederholungen der Themata, die eigentümliche Sucht, Generalpausen dort anzubringen, wo eine erklärbare Notwendigkeit dazu nicht vorlag, endlich die stellenweise zu dicke Instrumentation, und verschwieg es Bruckner auch nicht. Die von Herbeck gehörig gekürzten und von den übrigen Fehlern möglichst befreiten Messen Bruckners machten denn auch in der Hofkapelle stets den besten Eindruck.« (Ludwig Herbeck in der Biographie seines Vaters, S. 233).

Wir können Herbecks zeitlich und persönlich bedingte Urteile heute nach keiner Richtung hin ganz unterschreiben. Er hielt Brahms für verworren, fand zur c-moll-Sinfonie, die er 1876 unter Brahms' eigner Leitung hörte, gar kein Verhältnis, in den Nibelungen vermißte er das »Haupterfordernis« jeder Oper – die Chöre; jedenfalls aber hatte er, was damals nur ganz Seltene hatten: das Bruckner-Erlebnis. Tief ergriffen von den Schönheiten der Vierten Sinfonie, die er kurz vor seinem Tod mit Bruckner spielte, äußerte er: »das könnte Schubert geschrieben haben; wer so etwas schaffen kann, vor dem muß man Respekt haben …«

Herbeck nahm die c-moll-Sinfonie auch in das Programm der Gesellschafts-Konzerte auf. Sie wurde dort am 20. Februar 1876 wiederholt, hatte aber bei weitem nicht mehr den Erfolg wie früher. Herbecks Stern war überdies nach seinem Sturz sichtlich im Sinken: Liszts »Heilige Elisabeth«, die er 1869 aufführte und jetzt wiederholte, fand eine klägliche Aufnahme – die Kritik nannte sie völlig verfehlt und unmöglich – und nicht viel besser erging es jetzt Bruckner. Dazu kam, daß dem Weltausstellungs-Konzert ein von Haus aus gut gestimmtes Publikum beiwohnte, während den ständigen Hörern der Gesellschaftskonzerte der komponierende Professor vom Konservatorium mindestens gleichgültig erschien, mochten sie auch um einen Zentimeter weniger verbohrt sein als die Stammabonnenten der Philharmoniker. Außerdem war es wohl ein Fehlgriff, daß Bruckner selbst dirigierte – Herbeck hatte ihm den Taktstock überlassen, um seine Freunde und Schüler recht zahlreich ins Konzert zu ziehen – endlich spielte nur das zusammengestellte Orchester der Gesellschaft nicht das ständige, vorzügliche Philharmonische – und so kämpften Werk und Künstler vergeblich gegen die Eiswand feindseligen Schweigens, ja selbst Theodor Helm begann bei dieser Wiedergabe an Bruckners schöpferischer Berufung ernstlich zu zweifeln und hielt mit seiner Meinung nicht zurück. Es war eine Niederlage.

Wer sich aber dadurch nicht im geringsten einschüchtern ließ, war Herbeck: sofort setzte er Bruckners – Dritte Sinfonie auf das Gesamtprogramm der Gesellschaftskonzerte des nächsten Jahres. Leider sollte er die Aufführung nicht mehr erleben – der schwerste Schlag, der Bruckner treffen konnte. So kam es, daß Bruckner auch seine »Dritte« (am 16. Dezember 1877) im Gesellschaftskonzert dirigieren mußte, und zwar unter dem verstörenden Eindruck von Herbecks Tod. Der einzige Freund, der gläubige Helfer war dahin, und zu dem Gefühl des Verlassenseins gesellte sich vielleicht ein durch körperliche Gewandtheit nicht gerade belebtes Dirigentengeschick. Die Hörer sahen der Aufführung gespannt entgegen – es handelte sich doch um die Wagner-Sinfonie – aber gerade sie bereitete eine Enttäuschung schwerster Art. Das Orchester, flüchtig studiert, spielte matt dahin, und das Publikum ergriff nach jedem Satz in Scharen die Flucht: während des Finales waren nicht mehr zehn Personen im Saal, ja sogar auf den Stehplätzen hielten nur einige wenige aus. Ein von den Schülern Bruckners bereitgehaltener Lorbeerkranz mußte auf Geheiß des Generalsekretärs Zellner sofort hinausgeschafft werden …

Es war ein unvergeßlich ergreifender Augenblick, als Bruckner am Schluß des Konzerts, ganz allein inmitten des Podiums stehend – denn auch die Orchestermusiker hatten so schnell wie möglich das Weite gesucht – seine Noten zusammenpackte, unter den Arm nahm und, den großen Schlapphut auf dem Kopf, einen schmerzerfüllten Blick in den völlig leeren Saal warf. Welche Kraft der Hilflose aufbieten mußte, um angesichts dieses Gottesgerichts nicht zu verzweifeln, nicht irre zu werden am Herrgott, sich zusammenzuhalten nach dieser niederschmetternden Stunde, wo die eignen Skrupel auf grauenhafte Art bestätigt schienen, kann man nicht ermessen … Josef Schalk, dem wir hier folgen, war Augenzeuge; August Göllerich erzählt darüber weiter: »Im Seitengang des Musikvereins-Saales traten einige Schüler auf den Meister zu und wollten, ihn tröstend, mit einigen Worten die Aufnahme des Werks erklären. Aber Bruckner kostete alle Bitterkeit aus und rief ein um das andere Mal: ›Laßt's mi' aus, die Leut' wollen nix von mir wissen …!‹ – Da mischte sich ein Mann in die dramatische Szene und begann auf Bruckner einzureden. Die aufgeführte Sinfonie habe schon bei den Proben den bedeutendsten Eindruck auf ihn gemacht, er sei bereit sie – zu verlegen … Es war der Wiener Musikverleger Theodor Rättig. Bruckner starrte ihn wie ein Gespenst an. Verlegen? Er konnte an den ernstlichen Willen des seltsamen Verehrers gar nicht glauben. Verlegen? ›I muß aber d' Partitur haben!‹ rief er endlich, und der Mann, der den ewigen Ruhm erworben, Bruckners erster Verleger zu sein, sagte zu.«

So trat die Dritte Sinfonie in die Welt. Die Vierte, erst später die »Romantische Sinfonie« genannt, kam nur noch bei einer »Gelegenheit« zu Gehör: am 20. März 1881 in einem von Hans Richter zum besten des Deutschen Schulvereins geleiteten Orchester-Konzert, also nicht bei den Philharmonikern, nicht im Gesellschaftskonzert. Bruckner stand dabei auch nicht im Vordergrund. Held jener Wiener Tage war Hans von Bülow, der zu gleicher Zeit wie Liszt anwesend, mit seinen großen Klavier-Abenden Wien und die Wiener eroberte. An jener Aufführung beteiligte er sich in dreifacher Eigenschaft: als Pianist – er spielte Beethovens G-dur-Konzert –, als Komponist und als Dirigent, indem er seine sinfonische Dichtung »Des Sängers Fluch« leitete. Dann kam die Brucknersche Sinfonie. »Doch war der Eindruck dieser beiden, der Liszt-Wagnerschen Richtung angehörigen Kompositionen keineswegs so rein und unbedingt wie der von Bülows Klavierspiel«, meint Hanslick (Neue Freie Presse, 27. Februar 1881). Immerhin stellt er den »ungewöhnlichen Erfolg« der Brucknerschen Sinfonie fest, und schließt, allerdings ohne ein sachliches Wort zu wagen: »Wir können heute nur beifügen, daß dieser Erfolg eines uns nicht ganz verständlichen Werks uns um der achtungswerten und sympathischen Persönlichkeit des Komponisten willen aufrichtig gefreut hat …« Es scheint, daß also noch persönliche Neigung vorhanden war und den Ausschlag gab.

Nach Helm erregte die Es-dur-Sinfonie einen wahren Jubel, während Bülow mit seinem »innerlich kühlen« Werk abfiel. Daß dieser Mißerfolg seine menschlichen Seiten getroffen und den Verletzten zum unversöhnlichen Gegner Bruckners gemacht habe, möchten wir nicht gerade annehmen: der Gegensatz lag wohl im künstlerischen Weltbild und erhielt frische Nahrung durch Bülows Kampf um Brahms. Bruckner, der Bülow schon kannte und sich von ihm immer »geheanzt« fühlte – man braucht sich bloß den kleinen sarkastischen Spitzbart und den schwerbäuerlichen Menschenblock nebeneinander vorzustellen – schätzte Bülow trotzdem ganz außerordentlich als Dirigenten. Er besuchte regelmäßig dessen Konzerte mit der Kapelle der Meininger, schon um sich ein gründliches Urteil über Brahms zu bilden. Bülow aber, der diabolus rotae im Brucknerschen Seligsprechungsprozeß, ließ seine Galligkeiten mit Behagen springen. Als Helm ihm sein Buch über Beethovens Streichquartette sandte, antwortete Bülow: »Werden Sie es meiner berüchtigten Freimütigkeit vergeben, daß ich Ihnen bekenne, meinem Buchbinder den Auftrag gegeben zu haben, den Einband mit Seite 307 zu schließen?« (28. November 1885) Auf Seite 308 begann nämlich das Streichquartett nach Beethoven, und darunter befand sich auch das neue Quintett von Anton Bruckner … Außerdem ist die letzte Seite dieses Briefs mit folgendem Text bedruckt: »Es empfiehlt sich bestens den P. T. Herrn Musikverlegern, Kritikern, Publikümmern

Caligula Seidenschwanz,

entdeckungsreifer neuer Symphoniker auf besondern Wunsch auch Kakophoniker«, wozu Bülow die eigenhändige Anmerkung macht: »Schüler und präsumptiver Nachfolger von Anton Bruckner.«

Als er später in Pest Beethovenkonzerte gab, kam plötzlich, mitten in der Nacht, an Albert Gutmann, den Verleger Bruckners, ein Telegramm: »Auf allgemeinen Wunsch wurde Anton Bruckner auf den erledigten Thron Bulgariens berufen!« Der Empfänger hatte den Kopf noch nicht zu Ende geschüttelt, als eine zweite Drahtnachricht einfuhr: »Bruckner, der Einzige, hat soeben seinen Einzug in Sofia gehalten und auch bereits sein Ministerium ernannt.« Bülow kannte bereits die Minister und bezeichnete als solche den Kritiker Schönaich, Schalk und Hugo Wolf, und als Kriegsminister – vermutlich seines kriegerischen Namens wegen – Theodor Helm. Bruckner, der das krallige Witzteufelchen wohl allzu tragisch genommen hat, klagte gelegentlich (an Helm, 2. Juni 1887), Bülow arbeite an seinem Ruin.

Die Fünfte Sinfonie in B-dur, die Bruckner um ihrer kontrapunktischen Mächte besonders hoch schätzte, hat er niemals gehört. Zu seinen Lebzeiten wurde sie in Wien nicht aufgeführt, und das Konzert, das Franz Schalk am 9. April 1894 in Graz gab – er war dort Kapellmeister am Stadttheater – konnte Bruckner seiner Kränklichkeit halber nicht mehr besuchen. Das nächste Werk, das Wien für würdig hielt, gehört zu werden, war die Sechste Sinfonie in A-dur – nicht die ganze, sondern ein Teil davon: die beiden Mittelsätze, Adagio und Scherzo. Hiermit kam Bruckner zum erstenmal auf ein philharmonisches Programm und zwar am 11. Februar 1883. Aber neben der Ehre stand das Verhängnis.

Dirigent der Philharmoniker war seit 1875 der junge, von Wagner empfohlene Hofopern-Kapellmeister Hans Richter gewesen, der allerdings mit der Faust-Ouvertüre vergeblich auf die Stammsitz-Beharrlichkeit zu wirken suchte. Nun begann gegen ihn, der sich acht Jahre bewährt hatte, eine der liebevollen Wiener Preßhetzen –, das Pult der Philharmoniker wurde ihm verleidet, er legte seine Stelle nieder und sie übernahm – vorübergehend – Wilhelm Jahn. Nun, Wilhelm Jahn, in dessen behaglicher Oberlehrer-Erscheinung ein außerordentlicher Plastiker des Theaters steckte – seine Hauptstärke war feiner Massenet –, wußte als Konzertdirigent höheren Ansprüchen nicht zu dienen: er hatte die Augen ängstlich in der Partitur – immerhin ließ er sich herbei und führte die Brucknerschen Bruchstücke auf – wie, darüber meldet kein Heldenbuch; doch heißt es, daß sie »von einer starken Mehrheit geradezu bejubelt wurden«. So kam Bruckner unter die Philharmoniker.

Aber welches Sündenregister hielten ihm die Wissenden vor! »Die Rätsel, die uns Bruckner aufgibt, sind dunkel wie ein Abschnitt aus Jakob Böhmes Mysterium magnum!«, rief eine Stimme. Das war Max Kalbeck in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 13. Februar 1883. Er vergleicht Bruckners Schaffen mit den Dämmerzuständen beim Einschlafen und Aufwachen und mit den seltsamen Vorgängen während eines leiblichen und geistigen Rausches … »Wie Jakob Böhme beliebige Mineralien mit menschlichen Empfindungen und göttlichen Persönlichkeiten identifiziert, so erhalten bei Bruckner beliebige Akkordfolgen und Tonreihen eine Bedeutung, die ihnen von Natur nicht innewohnt … Seiner Phantasie fehlt Logik … Sein Adagio klingt wie ein Traum, den irgendein Meister, meinetwegen der Meister selbst, von dem Schlußduett im Siegfried und den Meistersingern gehabt hat … Zu dem Scherzo in a-moll ein näheres Verhältnis zu gewinnen, ist uns nicht gelungen: die Tongespenster, welche darin umherstreichen, machen es gar zu toll: als hätten Wolfsschlucht und Walpurgisnacht sich ein Rendezvous gegeben, so stampft und tobt, brüllt und wiehert alles wild durcheinander. Die Zukunft, welche ein solches zerrissenes, aus 100 Klüften widerhallendes Tonstück zu genießen vermag, wünschen wir uns fern …«

Diese immerhin noch sachliche, von einem Mann mit lyrischen Seiten herrührende Kritik ist wichtig, weil sie Schule gemacht hat. Ihre Gedanken werden später von anderen, auch von Hanslick, bald stärker, bald schwächer, bald roher, bald feiner instrumentiert, nachgesprochen, ja ihre einzelnen Ausdrücke kehren wieder: Traum, Rausch, Mystik, Mangel an Logik, sogar das, was Kalbeck als Werte zugibt: »einzelne Lichtblitze, aus dem Chaos emporflammend, die Kunde geben vom geheimnisvollen Walten eines ursprünglichen Geistes.«

Endlich hat sie Kalbeck selbst wiederholt, damals als (am 5. Januar 1896) einige Monate vor Bruckners Tod die Romantische Sinfonie zum erstenmal im Philharmonischen Konzert erschien: »… sie heißt jetzt die ›romantische‹. Was damit besonders gesagt sein soll, wird uns immer ein Rätsel bleiben … romantisch wären diese ewigen Verlegenheitstremolos, Rettungstonleitern, Angstpausen, Notsequenzen, Verzweiflungsfanfaren, das ganze Tschingdarassa, Schnedderendeng und Bumbum?«

Selbst Theodor Helm konnte im Musikalischen Wochenblatt (19. April 1883) schwere Bedenken nicht unterdrücken. Er hörte unerklärliche Stockungen, Verlegenheitspausen und im Ganzen mehr Rheingold und Walkürenritt als Bruckner, wobei er jedoch den unkünstlerischen Einfall rügte, von einem neuen Komponisten in irreführender Weise nur zwei Sätze aus einem sinfonischen Ganzen zu geben.

Einen dauernden Eindruck vermochten die Bruchstücke der Sechsten in Wien nicht zu machen – zwei Tage darauf traf die Kunde vom Tod Richard Wagners ein … ein Ereignis, das, Freund und Feind erschütternd, alle Teilnahme verschlang. Die nächste Aufführung des (vollständigen) Werks fand erst 18 Jahre später, am 13. Dezember 1901 statt, wo es August Goellerich mit dem Wiener Konzertvereins-Orchester zum besten der Deutsch-Österreichischen Schriftstellergenossenschaft leitete. Die beiden Ecksätze hat Bruckner vom Orchester niemals vernommen.

Am 8. Januar 1885 führte Josef Hellmesberger mit seinen Genossen zum erstenmal Bruckners Streichquintett in F-dur auf, das 1879 entstanden war. Hellmesberger besaß zu viel Musiksinn, um den Komponisten Bruckner zu verkennen, ja die d-moll-Messe nannte er »ein wahres Meisterstück«. Dennoch wollte er beim Quintett nicht recht »anbeißen« und schob die Aufführung immer wieder hinaus, weil er das Scherzo für unausführbar hielt. In der Tat überwiegt in diesem Stück der Sinfoniker den Kammermusiker, der die fünf Instrumente wie ein Orchester behandelt. So schrieb Bruckner anstatt des Scherzo ein Intermezzo, das aber dann liegen blieb und erst spät (im Februar 1904 durch die Quartette Fitzner und Rosé) aufgeführt wurde. Inzwischen kam es zur ersten Vorführung des Quintetts im Bösendorfersaal.

Hanslick hörte aus dem Quintett nur den Wagnerschen Schrecken heraus. Und das genügte ihm zu einer Verurteilung, die, frei über den Tatsachen schwebend, den bösen Willen des Komponisten als solchen verwarf: »Fast gleichzeitig mit dem bei Hellmesberger enthusiastisch applaudierten, bei Gutmann verlegten F-Dur-Quintett von Bruckner ist ein neues Buch von Ludwig Nohl: ›Die geschichtliche Entwickelung der Kammermusik‹ erschienen, das sehr merkwürdig ist. Wir können Herrn Nohl helfen: er sehe sich Bruckners Quintett an. Da findet er den reinen Wagnerstil auf fünf Streichinstrumente abgezogen, die unendliche Melodie, die Emanzipation von allen natürlichen Modulationsgesetzen, das Pathos Wotans, den irrlichterlierenden Humor Mimes und die in unersättlichen Steigerungen sich verzehrende Ekstase Isoldens. Was Herrn Nohl so schmerzlich gefehlt, es ist gefunden, und eine zweite Auflage seiner ›Entwickelung der Kammermusik‹ kann das Schlußkapitel in jener Verklärung erglänzen lassen, ohne welche ja doch Entwickelung und Kammermusik ›Wahn‹ bleiben würden …« (26. Februar 1885).

Aber nicht einmal der Mann, dem Hanslick sein Buch vom Musikalisch-Schönen gewidmet hatte, Gustav Dömpke, vermochte ihm auf diesem Weg zu folgen. Wir werden von Dömpke noch hören, der in das Quintett wenigstens als Musiker hineinhorchte, den ersten Satz ablehnte, aber dann fortfuhr: »Hellmesberger tat wohl, auf diesen krankhaften Eröffnungssatz schon hier das Adagio, nicht wie im Original, erst das Scherzo folgen zu lassen. Eine Erholung tat jedenfalls not. Allein dieses Adagio, Ges-dur, ist weit mehr als eine kleine Arznei, ein vorübergehendes Linderungsmittel für Fieberkranke, es ist die Genesung selbst; ja es scheint uns eine Arbeit, welche über alle ähnlichen Instrumentalkompositionen der Gegenwart an Erfindung und tiefsinniger Kombination hinausreicht (abgesehen, wie billig, von dem einen größten Meister, der ganz außer Vergleich steht). Nur eine kurze übelklingende Stelle gibt es darin (Tact 91 bis 95, S. 39 d. P.), welche den harmonischen Härten der übrigen Sätze nichts nachgibt. Die paar Tacte klingen, als ob der Autor des Adagios sie im Traume oder als ob er sie gar nicht geschrieben hätte. Freilich klingt andererseits dieses ganze Adagio, als hätte es ein anderer als der Autor der Allegri geschrieben. Eine solche Reife und Gewähltheit, ein solches Maaß herrscht hier in den kühnsten und seltsamsten Verschlingungen. Wenn man erst das erste langatmige, herrlich gegliederte Thema hört, wie es sich 12 Tacte lang in ruhiger Majestät ausbreitet, wie es sich großartig steigert und wieder in die Tiefe zurücksinkt, da traut man kaum seinen Ohren mehr – Wahrlich in diesem Adagio steckt etwas von dem göttlichen Funken …« (Wiener Allgemeine Zeitung, 17. Januar 1885).

Die übrigen Sätze kommen dem Beurteiler »widerwärtig im Ganzen« vor: »wo sie am unerträglichsten sind, verraten sie, wie der erste Satz, fast überall den Einfluß der schlimmsten Seite Wagners. Das erste Thema des Finales erinnert übrigens ganz direct an die Prügelszene in den Meistersingern …«

Den ersten wirklichen Bruckner-Erfolg in Wien brachte nicht eine Sinfonie, sondern im Jahr darauf das große Te Deum (Gesellschaftskonzert vom 10. Januar 1886) – namentlich war es Speidel, der erlebnisfähige Speidel, der ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ, das Wesentliche herausfühlend, und, mutig genug, es auch auszusprechen. Niemand hatte damals das innere Schicksal Bruckners so aus den Zeichen der Musik zu lesen verstanden wie der, der folgende Sätze schrieb: »Es ist ein enthusiastisches Werk und sollte eigentlich in einem Moment, wo die öffentliche Meinung freudig erregt ist, etwa nach einem großen Staatsakte oder einem siegreich beendigtem Feldzug, zu Gehör gebracht werden. Von Beethoven, dieser tiefsten und sprudelndsten Quelle des modernen Enthusiasmus geht Bruckner offen aus, und unterwegs gesellen sich zu ihm Franz Liszt, Richard Wagner, Hektor Berlioz; aber sie gesellen sich zu ihm als zu einem Manne, der selbst etwas Ordentliches ist. Von der katholischen Kirche, deren demütiger Diener der begabte alte Knabe durch lange Jahre gewesen, hat er den Mut gehabt, mit seiner Begeisterung herzhaft herauszugehen. Mit Stimmen und Geigen, mit Pauken und Trompeten lobt er seinen Gott, ganz unbesorgt um die Möglichkeit, daß er dem großen Gegenstande gegenüber der Sache etwa zu viel tun könnte. Wie im Sturm, wie in einem Wirbelwind trägt er seinen Herrn empor. Dann aber, nach solchem Sturm und Drang, dem kein Mittel zu stark ist, öffnen sich die Tiefen des Himmels, die Tiefe des Gemüts. Es ist ein entzückendes Schauen und Hören der Geheimnisse des Glaubens, ihrer Höhen und Abgründe. Da rückt die menschliche Stimme in den Vordergrund als das beseelte Organ, das allein solche Mysterien zu tragen imstande ist, während es scheinen will, als höre man im Orchester die Kreatur, die sich nach Erlösung sehnt. Die Stelle des kirchlichen Textes: Non horruisti virginis uterum ist nie so inbrünstig und schwärmerisch in Musik gesetzt worden und aus der folgenden Stelle von dem Sieg über den Tod und von der Eröffnung des Himmelreiches sprechen uns tröstende und beseligende Stimmen an. Das Publikum konnte sich der Wirkung dieser Komposition nicht entziehen und rief den Komponisten unermüdlich.« (Wiener Fremdenblatt, 19. Januar 1886).

So Speidel. Es war doch ein Mensch, der da empfing, eine Stimme, die grüßte, während Kalbeck sich nicht vorzustellen vermochte, daß jemand überzeugt gottgläubig sei, als gehöre es zur Lebensart, »liberal« zu sein: »Bruckner gemahnt uns an die schlaue Demut und augenverdrehende Frömmigkeit Overbecks und seiner Nazarener. Wir wissen bei letzteren nicht, wo der fromme Mißbrauch aufhört und der auf Effect ausgehende Spekulant anfängt …« Auch er hört wie Speidel Beethoven und Wagner, unterscheidet sich aber in den Vorzeichen lebhaft: »In dem der Fuge vorausgehenden Chorsatze ist eine vielleicht ebenfalls beabsichtigte starke Reminiszenz an das Schlußduett aus Siegfried. Möglicherweise bittet der Komponist mit seinem Non confundar in aeternum den lieben Gott, er möge die Trilogie nicht zu Schanden werden lassen, sondern die Bayreuther Festspiele und ihr Haus erhalten in Ewigkeit.« Immerhin verhinderten Kalbeck diese heiteren Nebengedanken nicht, den Wert des die Durchschnittsmusiken überragenden, erfolgreichen neuen Werkes festzustellen. (Alte Presse, 17. Januar 1886).

Die Siebente Sinfonie erlebte ihre Uraufführung nicht in Wien. Es ist ein ergreifendes Schriftstück von Anton Bruckners Hand vorhanden, der Entwurf eines Gesuchs an das Komitee der Philharmoniker, worin er um Absetzung des Werkes bittet: »Es wolle meine ergebene Bitte gestattet sein, das hochlöbl. Comité wolle für dieses Jahr von dem mich sehr ehrenden und erfreuenden Projekte der Aufführung meiner E-dur-Sinfonie Umgang nehmen (wegen Feindseligkeit maßgebender Wienerkritik, die meinen Erfolgen in Deutschland gewiß nicht förderlich sein kann).« Der Verfasser hat dies Gesuch im 3. Band seiner Biographie Hugo Wolfs 1904 zum erstenmal im Faksimile veröffentlicht, und es ist eine der seltsamsten musikgeschichtlichen Urkunden, bezeugt sie doch, daß ein wenig aufgeführter Künstler lieber gar nicht aufgeführt werden und seinen Ruf in der Fremde vor heimischer Verunglimpfung bewahrt wissen will. Bruckner war Kämpfer, aber kein Kampfhahn. Nicht ausgerüstet mit Wagners Stahl oder Storms goldnen Rücksichtslosigkeiten, halb schlagkräftiger deutscher Michel, halb Selbstbezweifler, Erderschütterer und Demutsnatur, kam er bisweilen zu der Frage: ob seine Gegner in ihrer hartnäckigen Übereinstimmung nicht am Ende Recht hätten. Er glaubte sich zu schützen, indem er sich gleichsam tot stellte, als nicht vorhanden ausgab.

So ging er mit der Siebenten Sinfonie ins Ausland: sein Schüler Artur Nikisch führte sie am 30. Dezember 1884 im Stadttheater zu Leipzig auf. Josef Schalk hatte Nikisch den Klavierauszug des Werks gegeben, und da sich das Gewandhaus ablehnend gegen Bruckner verhielt, gewährte Direktor Staegemann das Theater zu einem Sonderkonzert. Bruckner kam zu der Aufführung, aber trotz des Eindrucks, den die Sinfonie machte, gelang es ihm nicht, in Leipzig für sie einen Verleger zu finden. Kurz darauf aber folgte – am 10. März 1885 – die zweite, berühmt gewordene Aufführung durch Hermann Levi in München, die das Geschick des Werkes wie seines Schöpfers entscheidend bestimmte. Levi, der Parsifal-Dirigent, hatte Bruckner brieflich seine fast uneingeschränkte Bewunderung ausgedrückt – nur der letzte Satz versagte sich ihm. Einen Ton von so aufrichtiger Herzlichkeit hatte Bruckner noch nicht vernommen; er reiste, entzückt von diesem Mann, nach München, nahm sein Werk mit ihm am Klavier durch, und nun bekannte der Dirigent, der mit der Partitur gerungen hatte, das Ganze sei großartiger, als er geahnt … »Jetzt sehe ich erst, wie wenig ich verstand – das Finale ist der weitaus großartigste Satz!« Levi, außer Schalk und Nikisch, der erste Dirigent, der Bruckners Welt im Innern empfangen konnte, zeigte bei der Aufführung auch Hingabe aus dem Innersten, und das riß zündend durch die Reihen der Hörer. Es gab einen Riesenerfolg, und bei der folgenden Vereinigung im Künstlerlokal der Allotria erhob Levi sein Glas »auf den größten Sinfoniker nach dem Tode Beethovens« – ein Wort, das Bruckner später mit Genugtuung in Wien wiederholte: Dort größter Sinfoniker – hier bestenfalls ein Jakob Böhme der Musik. Er fühlte sich vom Ausland bestätigt. Die Sinfonie machte die Runde durch deutsche Konzertsäle, ja der Wiener Aufführung ging sogar eine in Graz unter Karl Mucks Leitung voran, nach der Bruckner, an die Orgel tretend, eine seiner herrlichsten Improvisationen aus bewegter Seele spielte.

Wie richtig er vorausgesehen hatte, zeigte das Wiener Schicksal der Siebenten Sinfonie: es kam, am 22. März 1886, doch zu der Aufführung, und das Werk wurde schrecklich zugerichtet. Mit Stecken und Heugabeln fielen sie darüber her.

Hanslick schlug (am 30. März 1886 in der Neuen Freien Presse) offen den Ton musikalischen Hassens an: »Als Piece de resistance figurierte Bruckners neue Sinfonie in E-dur. Das Publikum zeigte freilich nicht viel resistance; es flüchtete zum Teil schon nach dem zweiten Satz dieser sinfonischen Riesenschlange, flüchtete in hellen Haufen nach dem dritten, so daß nur ein kleiner Teil der Hörerschaft im Genusse des Finales verblieb. Diese mutige Bruckner-Legion applaudierte und jubelte aber mit der Wucht von Tausenden. Gewiß ist es noch niemals vorgekommen, daß ein Komponist nach jedem einzelnen Satze vier- bis fünfmal stürmisch herausgerufen wurde. Bruckner ist der neueste Abgott der Wagnerianer. Man kann gerade nicht sagen, daß er Mode geworden ist, denn das Publikum will diese Mode nirgends mitmachen; aber Bruckner ist Armeebefehl geworden und »der zweite Beethoven« ein Glaubensartikel der Richard-Wagner-Gemeinde. Ich bekenne unumwunden, daß ich über Bruckners Sinfonie kaum ganz gerecht urteilen könnte, so unnatürlich, aufgeblasen, krankhaft und verderblich erscheint sie mir. Wie jedes größere Werk Bruckners enthält die E-dur-Sinfonie geniale Einfälle, interessante, ja schöne Stellen – hier sechs, dort acht Takte – zwischen diesen Blitzen dehnt sich aber unabsehbares Dunkel, bleierne Langeweile und fieberhafte Überreizung. Einer der geachtetsten Musiker Deutschlands bezeichnet (in einem Brief an mich) Bruckners Sinfonie als den wüsten Traum eines durch zwanzig Tristan-Proben überreizten Orchester-Musikers. Das scheint mir bündig und treffend. Soviel nach dem ersten aufregenden Eindrucke und um Farbe zu bekennen …«

Darauf beeilt sich Hanslicks Vaterlandsgefühl noch festzustellen, daß die Erfolge Bruckners in Deutschland Fabel seien – alles übertrieben, durchaus kein Jubel, kühle Resignation, keinerlei »Triumph«. Was kann denn Gutes aus Bethlehem kommen!

Das ist aber noch gar nichts. In dieser Welt der Mühsal und der Unzulänglichkeit mußte obbesagter Gustav Dömpke aus Königsberg nach Wien kommen, um dem Hiob aus Ansfelden das Leben schwer zu machen. Dömpke trieb eine Zeitlang in der Wiener Allgemeinen Zeitung, die gegen die Neue Freie Presse gegründet war, sein Wesen, wiederholte dort aber im allgemeinen nur Hanslicks geschniegelten Haß in ziemlich unfrisierter Form: »Wirklich schaudern wir vor dem Modergeruch, der aus den Mißklängen dieses verwesungssüchtigen Kontrapunkts in unsere Nasen dringt … Seine Phantasie ist – man weiß durch welche Erzieher und Heilkünstler – so unheilbar erkrankt und zerrüttet, daß etwas wie die Forderung einer Gesetzmäßigkeit in Akkordfolge und Periodenbau überhaupt für sie nicht existiert. Wenn hie und da dennoch eine Seite seiner Partitur mit unsern Begriffen von musikalischer Logik übereinstimmt, dürfen wir ihm schwerlich die Verantwortung dafür zuschreiben … In der Tat muß, was uns vorübergehend groß und rein an Bruckner erscheint, auf Zufall oder Täuschung beruhen, wenn es nicht ein für allemal aufgegeben werden soll, nach einer Erklärung für die Abnormitäten eines Sechzigers zu suchen, deren sich ein Zwanziger nicht schnell und ernsthaft genug entledigen könnte. Bruckner komponiert wie ein Betrunkener!«

Hiermit hatte Dömpke, der seine vorschnelle Begeisterung für das Adagio des Quintetts zu bereuen schien, seinen Gipfel erreicht. Die Blindheit sah kein Strahlen, Parteisucht stellte fest, daß Unsinn glänzend instrumentiert worden sei, die Gichtbrüchler der Ästhetik versicherten krückenschwingend, daß Wagner die Sinfonie auf dem Gewissen habe. Aber Albert Gutmann, der Verleger dieser Sinfonie, hatte Humor. Er sammelte die Kritiken aus deutschen Musikstädten, die – vor dem Wiener Gemetzel – die Qualitäten und Erfolge des Werks feststellten und ließ daraus neun Kernsprüche in der Neuen freien Presse als Inserat abdrucken. Da standen nun tabellarisch die Urteile: sieben günstig, ja enthusiastisch, zwei vernichtend. Und der verdutzte Wiener las dicht nebeneinander aus Bernhard Vogels Feder die Stelle: »Das Werk fordert die größte Bewunderung heraus« und Dömpkes Prachtprägung: »Bruckner komponiert wie ein Betrunkener …!« Es wirkte wie ein Beckenschlag. Ungeheures Aufsehen war die Folge, und die Philharmoniker klebten den Zeitungsausschnitt mit Gutmanns Inserat in ihre Partitur der E-dur-Sinfonie, worin der Scherz zum dauernden zeitgeschichtlichen Zeugnis wurde …

Auch das Anstandsgefühl hatte seine Vertreter. Zu diesen Dünngesäten gehörte Wilhelm Frey, Musikkritiker des Neuen Wiener Tagblatts, der die Angelegenheit mehr von der menschlichen als von der musikalischen Seite betrachtete: »Unser Komponist ist draußen sozusagen über Nacht zu einer Berühmtheit gelangt, die er in Wien nicht zu erreichen vermochte. Der Fall soll schon öfter vorgekommen sein und wird sich wieder ereignen: bitter bleibt er nur für den, der ihn an sich erfahren muß … Gutmann rechnet es sich zur Ehre an, das Werk, das nach dem ersten Hören nicht erfaßt werden kann, zu verlegen, und es heißt mit sehr ungleichen Maßen messen, wenn von gewisser Seite des philharmonischen Auditoriums gerade für ein solches Werk nicht jene Geduld mitgebracht wird, die verwandten Novitäten so opferwillig dargeboten wird … Die Reminiszenzenjäger ergriffen vor zwanzig Jahren vor Wagners Fragmenten genau so die Flucht wie heute vor der Sinfonie, die sie damit vergleichen …« (Neues Wiener Tagblatt, 30. März 1886.)

Die ungleichen Maße aber, von denen Frey spricht, spielen auf die e-moll-Sinfonie von Johannes Brahms an, die kurz vorher, Januar 1886, im philharmonischen Konzert ihre Uraufführung erlebte, und, in Tiefen und Höhen ebensowenig erfühlt wie die Brucknersche, dennoch mit ganz anderen Tönen einbegleitet wurde. Diesmal beeilt sich Hanslick nicht, die Legende von deutschen Triumphen zu zerstören. Im Gegenteil: »Mit größter Spannung harrte man der neuen Sinfonie von Brahms. Sie hat seit ihrer ersten Aufführung in Meiningen (25. Oktober 1885) bereits eine kleine Triumphreise hinter sich, und wer die entzückten Berichte aus Frankfurt, Köln, Elberfeld gelesen (oder wer sie auch nicht gelesen hat), mußte von Brahms neuestem Werke Großes und Eigenartiges erwarten. Welche Sinfonie aus den letzten dreißig bis vierzig Jahren vermöchte sich den Brahmsschen auch nur annäherungsweise zu vergleichen …?«

Ja, Bauer, das ist etwas anderes. Hätte man sich nicht »zweier solcher Kerle« freuen können? Und damit zu diesem Cantus firmus die anmutige Figuration nicht fehle, ließ sich Dömpke, der Mann aus der Kantstadt, vernehmen: »Das Motiv, mit welchem die neue Sinfonie von Brahms anhebt, ist gar noch kürzer (als das der Beethovenschen c-moll-Sinfonie). Es besteht nur aus zwei Noten. Man sollte sie heimlich, allenfalls mit dem auftaktigen Rhythmus Franz Liszt, Anton Bruckner oder ähnlichen Original-Genies in die Hände spielen, um zu erleben, was sie daraus machen würden …«

Es ist schwer zu ermessen, wie die betonte Bevorzugung des großen Zeitgenossen und Mitsinfonikers auf Bruckner wirkte. Er pflegte zu Dr. Helm zu sagen: » Er ist der Brahms – allen Respekt! Ich bin der Bruckner – aber meine Sachen sind mir lieber!« Jedenfalls wurde er in bitterem Weltwissen bereichert, da er die Ungerechtigkeit der Pharisäer im Licht eines künstlerischen Argwohns sah: daß sie vielleicht auch Brahms im Grunde nicht mochten, wohl aber gegen ihn krönten. Und wenn er vor der Lehrstunde einsam am Schultisch saß, den schweren Kopf in die Hand gestützt und im lautwerdenden Selbstgespräch aufseufzend: »Ich hab' keine Form …!« – mochte er seinem »Freund« Hanslick für schöne Augenblicke des Seelentrosts besonders dankbar sein …

Wie es im Gemüt des Mannes aussah, der wie der Riese Christophor in prachtvoller Ungelenkigkeit, das blaue Sacktuch schwingend, auf dem Podium seine florianischen Verbeugungen vor den Enthusiasten und Hans Richter ausführte, das klingt ebenso ungelenk und echt aus dem Brief, den er damals an Theodor Helm richtete. Helm, einer von denen, die sich für verpflichtet hielten, eine Partitur vor der Aufführung in die Hand zu nehmen, hatte sich längst aus einem Saulus zu einem Paulus entwickelt, und war Bruckners Schutz: »Hochwolgeborner Herr Doctor! Groß in Ihrem Berufe war stets Ihr Edelmuth! Staunenswert, ja bewunderungswürdig ist aber der Heldenmuth, verbunden mit Genialität, die glänzendste Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit, womit Hochderselbe in so traurigen Zeiten für meine Sache eintreten! Für die mir so liebreich gespendeten Diamanten sei Ihnen ewiger Dank! Diese kostbaren Edelsteine! – nie sollen sie von mir weichen und mir Zeit meines Lebens süßen Trost gewähren! Wann kann ich dem größten Gönner meiner Kunst vis-à-vis meinen Dankesgefühlen Ausdruck geben? Stets ungestümer in meinem Innern wird dieses Verlangen, je mehr der Auszeichnungen Ihrerseits mir zu Theile geworden sind …«

Jedenfalls bedeutete die Wiener Aufführung der Siebenten Sinfonie einen Wendepunkt. Bruckner hört auf, der komponierende Organist zu sein, er beginnt zu bedeuten, und ist er in Wien auch keine »Macht«, so sind ihm doch Mächte zugewachsen. Am 21. Dezember 1890 erschien die Dritte Sinfonie in einer Umarbeitung bei den Philharmonikern. Diesmal liefen die Hörer nicht insgesamt davon wie siebzehn Jahre früher. Es machte sogar den Eindruck eines Erfolgs. »Es wurde gestampft, getobt, geschrien: nach jedem Satz mußte der Komponist wiederholt dankend hervortreten« – bekennt ungern genug Eduard Hanslick. Doch steht er vor dieser Welt ohne jedes, geschweige ein religiöses Erlebnis: »brutale Stellen, oft ohne erkennbaren Zusammenhang, verwirrendes Dunkel, müde Abspannung, fieberhafte Überreizung, Länge, welche dem geduldigsten Gemüt zur Qual wird. Mangel an logischem Denken … wie helle Blitze leuchten hier vier, dort acht Takte … das Parkett lichtete sich schon nach dem ersten Satze sehr bedenklich … Bruckner ist Armeebefehl geworden für eine gewisse Partei …« Also lauter Wiederholungen, Rosalien aus früheren Kritiken, ein Ärger, dem nichts mehr einfällt, und dessen Trost in der Zustimmung des flüchtenden Parketts lag.

Das Jahr darauf gab es im Philharmonischen Konzert wieder eine Neuheit von Bruckner, allerdings eine, die über zwanzig Jahre alt war, die Erste Sinfonie in c-moll, die Linzer Sinfonie, instrumental etwas umgearbeitet, am 13. Dezember 1891. Er widmete das Werk der Wiener Universität zum Dank dafür, daß sie ihn kurz vorher zum Ehrendoktor ernannte. Die Brucknerapostel Löwe und Schalk hatten viel Arbeit, saßen unermüdlich »zwei- und vierhändig« am Klavier, bereiteten das Verständnis vor, das schwer zugängliche Werk wurde in dem wachsenden Kreis der Brucknerfreunde zuletzt volkstümlich und fand im Konzert nach jedem Satz einen Beifall, der die Neutralen mitriß. Die Tonart c-moll gab zu grotesken Verwechslungen Anlaß: man hielt die Erste für die Zweite und wies nach, daß Bruckner seinerzeit ganz andere Tempi genommen habe als jetzt Hans Richter …

Zwei Jahre später gab es eine Aufführung, die beinahe wie eine Bruckner-Feierlichkeit aussah und schon durch die Ausnahmestellung, die man ihr einräumte – eine Sinfonie allein stand auf der philharmonischen Vortragsordnung – das Konzert zu einem Ereignis machte. Es war die Achte, dem Kaiser Franz Josef gewidmete Sinfonie (18. Dezember 1892). Nun wird Bruckner schon bedrohlich, fast schon eine Macht? Wie hilft sich Hanslicksche Geschmeidigkeit heraus?

»Jeder der vier Sätze, am häufigsten der erste und dritte, reizt durch irgendeinen interessanten Zug, ein geniales Aufleuchten …« Doch das ist Selbstwiederholung, geniales Aufleuchten war schon da. »Es ist nicht unmöglich, daß diesem traumverwirrten Katzenjammerstil die Zukunft gehört – eine Zukunft, die wir darum nicht beneiden …« Doch das hatte, fast wörtlich, schon Max Kalbeck vor zehn Jahren gesagt. Überhaupt – man hatte Bruckner zu verhindern gesucht – und ihn vielleicht befördert! »Tobender Jubel, Wehen mit den Sacktüchern, unzählige Hervorrufe, Lorbeerkränze! –« Dieser Hans Richter hat uns übrigens den schönen Sonntag verdorben: »ob er seinen Abonnenten einen Gefallen erwiesen habe, ein ganzes Philharmonisches Konzert ausschließlich der Brucknerschen Symphonie zu widmen, ist zu bezweifeln –« und wir haben den Mann zwei Jahre vorher noch gegen den Vorwurf, brucknerlau zu sein, verteidigt! »Neben den hinauflamentirenden Rosalien oder Schusterflecken (wie in Tristan) sind es die hinablamentirenden (nach dem Rezept der Tannhäuser-Ouvertüre) …« Doch das ist selbst sozusagen Rosalie.

Aber das Programmbuch! Hier ist der Angriffspunkt, – die Achillesferse. »Der Verfasser des Programms ist nicht genannt, doch erraten wir leicht den Schalk, der seinem Herrn am wenigsten verhaßt ist. Durch ihn erfahren wir denn, daß das verdrießlich aufbrummende Hauptthema des ersten Satzes die Gestalt des aisschyläischen Prometheus sei! Unmittelbar neben dem aisschyläischen Prometheus steht der ›Deutsche Michel‹. Im Adagio bekommen wir nichts Geringeres zu schauen als den alliebenden Vater der Menschheit in seiner ganzen unermeßlichen Gnadenfülle! Da das Adagio genau 28 Minuten dauert, also ungefähr so lange wie eine ganze Beethoven-Sinfonie, so wird uns für diesen seltenen Anblick gehörig Zeit gelassen. Das Finale endlich, das uns mit seinen barocken Themen, seinem konfusen Aufbau und unmenschlichen Getöse nur als ein Muster von Geschmacklosigkeit erschien, ist laut Programm: ›der Heroismus im Dienst des Göttlichen‹!«

Ein Glück für Hanslick, daß dieses unglückliche Programm von Josef Schalk vorlag, womit hätte er sonst die Achte Sinfonie angreifen können? Jeder seiner gar nicht üblen Späße fand genußreichen Widerhall auf den Parkettsitzen. So war der Zweck auf einem mühelosen Umweg erreicht. Und Josef Schalk, der seinem Meister einen Herzensdienst zu leisten vermeinte, war ihm zum Verhängnis geworden. In der wohlmeinenden Absicht, dem Parkett nicht mit rein musikalischen Erläuterungen zu kommen, sondern ihm einen unterlegten Ideengehalt durch mythologische Bilder näherzubringen, lieferte Schalk einer lauernden Gegnerschaft das, was man in der Wiener Mundart »ein gefundenes Fressen« nennt.

 

Dies ungefähr in Umrissen der Kampf der Brucknerschen Sinfonie zu Lebzeiten des Meisters. Es ist ein Kampf der Provinz mit der Weltstadt, eines aus ehrwürdigen, verloren gegangenen Kulturen hervorgewachsenen, eines mit festem katholischen Ethos in der Welt stehenden Künstlers gegen die bekenntnislose Seele des Liberalismus. Was Bruckner als Erziehungsfehler vorgeworfen, als Grund seiner »unheilbaren geistigen Zerrüttung« empfunden wurde (Dömpke), bildet seine Pracht und Stärke: seine Eigenart ist Blüte Sankt Florians. Die herrschende Stammsitzgesellschaft ahnte nicht Himmel und Gottesherrlichkeit: im Kavaliershimmel und der Praterherrlichkeit lebend, wohin sie ihr Nichtstun spazieren führte, hielt sie eine Welt ohne Opernredoute, Nachtmahl im Sachergarten, Gschnasfest im Künstlerhaus für keine Welt …

Nie fiel es der zu Gericht sitzenden Logik ein, daß sie die Unlogik sein könne und ihre Überlegenheit die Unfähigkeit, ein neues Ethos der Musik zu erleben. Was weiß man von Künstlern? Jeder kommt aus dem Anderswo,

denn Künstlergrößen lösen sich nicht ab
wie Schildwach Schildwach auf des Kaisers Grab.«

Und nie fiel es ihnen ein, daß sie vielleicht die heimlich Kritisierten waren, denn ein neues Kunstwerk übt Kritik an der Zeit, weil es unter deren Ideenvorrat, wie Paul Bekker ausführte, die Auswahl trifft. Bruckner gab dem religiösen Problem Stimme, das Publikum hoffte angenehmen Rhythmen entgegen, die seinen Aufenthalt im Diesseits erfreuten wie eine Artischoke oder eine Spazierfahrt. So mochte er sich unter ihnen fühlen wie jener Märtyrer Sankt Florian unter den Heiden.

Als Hermann Levi im Dezember 1890 die Romantische Sinfonie in München aufführte, schrieb der den Wiener Dingen entrückte Paul Heyse einen Dankbrief mit allem Überschwang eines Dichterherzens … aus Wien tönte keines Poeten Stimme Bruckner zu. Jemand nannte ihn dort einmal nicht einen – sondern anderthalb Narren. Aber schließlich triumphierte der Narr über die Klugen, der Selig-Einfältige über die großen Kanzel-Trompeter, Blitzeschmiede, Papierverschreiber und Ohrensäusler. Der Musiker ward »Prophet« im Sinn des Jesus Sirach und führte in seiner barocken, neuen Gläubigkeits-Sinfonie nächste Geschlechter auf die Wege zu Gott.

*

Unsere Darstellung wäre einseitig, wenn wir nicht auch die hilfreichen Kräfte Wiens betrachteten. Von Anfang an warf man Bruckner Parteibildung vor. »Er ist Armeebefehl einer gewissen Partei.« Nun ist Partei immer das, was man dem andern übelnimmt, und die »gewissen« Brucknerleute waren ganz anständige, unbescholtene, auch nicht unmusikalische Leute, nur jung und empört. Von jenem ersten Weltausstellungskonzert an tauchen neben Bruckner die »Enthusiasten« auf, Schüler, Nichtschüler, Mitläufer, Gerechte und Ungerechte: die reine Persönlichkeit des Greises zieht die Jugend an.

Naturgemäß, daß er, der durch den Wagnerklang zum Neu-Erleben der Welt gekommen war, sich bald in den Wiener Wagnerkreis schloß. Der Akademische Wagnerverein war jung und tatenheiß. Im November 1872 gingen die Aufrufe zur Gründung hinaus, unterzeichnet von Herbeck, Dessoff, Hellmesberger, Goldmark, Schönaich, Standhartner, Lewinsky, allem, was gut und teuer ist; zehn Jahre nach den drei Eröffnungsschlachten, die Wagner selbst in Wien geschlagen, bildete sich die »Partei«, die die Bergpartei überhaupt und Bruckners Streitgenossin gegen die alten Formalen ward. Auch sie stand verehrend vor der Mozart- und Beethovenwelt, deren Formsprache sogar in Strauß und Lanner fortlebte, aber verehrte sie anders: als Grundkultur der neuen Ausdruckswelt. Die Partei tut für Bruckner oft mehr, als er verhindern kann, zerrt ihn, stellt ihn aus, beweihräuchert ihn, begeht seinetwegen hunderterlei Unsinn; aber sie begeht, sie tut etwas.

Überdies wurden dort zwei junge Künstler wirkend, von denen der eine sein Schüler Ferdinand Löwe war, der andere dessen Freund Josef Schalk. 1865 in Wien geboren, trat Löwe zuerst als neunjähriger pianistischer Wunderknabe auf. Zehn Jahre später, 1884, konnte man in seinem ersten selbständigen Konzert schon aus der Klaue den Löwen erkennen: er spielt u. a. eine eigene Klavierbearbeitung des Adagios aus Bruckners Linzer Sinfonie und erregte damit Aufsehen. »Die genau an die Partitur anschließende und doch eminent klaviermäßige Übertragung wie deren Wiedergabe am Flügel selbst verrieten einen für diese Art von Interpretation vor allem Berufenen« (Helm, Erinnerungen). Auf dieser Linie schritt Löwe fort. Er wurde Klavierprofessor am Konservatorium, dann Orchesterdirigent: Pest, München, Wien sind die Orte seines Wirkens, bis er im 1901 gegründeten Konzertverein eine dauernde Stätte fand. Wohin er kam, trug er ein Stück Bruckner mit. Sein wohlausgewogenes Wesen, sein außerordentlicher musikalischer Hausverstand, das Parteilose seiner Teilnahme machten ihn zum musikalischen Vertrauensmann Wiens – er ist heute Direktor der Musikakademie – seine breite Geste, seine ruhevolle Kraft zum Dirigenten Bruckners, dem er zugeboren war.

Josef Schalk, geb. 1857, der ältere von beiden, gehörte zu den Stillen im Lande. Immer etwas kränkelnd – er ist vorzeitig 1900 zu Gossensaß verstorben – hütete er Neigung und Überzeugung wie heilige Opferflammen. 1887 wird er als Nachfolger Schütts (der 1885 eine Klavieraufführung des Tedeums herausbrachte) an die Spitze des Wagnervereins berufen und widmete sich hier der Pflege des »Nachwuchses«: Anton Bruckner, dann Hugo Wolf. Dieses Sich-widmen ging oft bis zur Erschöpfung. Er trat als Klavierauszügler Bruckners auf, allein oder mit Löwe zusammen, und mit dem Kosenamen »Generalissimus« bezeichnete Bruckner, was er von Schalk hielt. Mit seinem Bruder Franz verfaßte er u. a. den ersten Klavierauszug der Siebenten Sinfonie, damals noch ein Wagnis, sowohl für den Verleger wie für die jungen Künstler, die aus dem Kreis der Wohlgesinnten rückten. Im Oktober 1884 erschien Schalks erster Bruckner-Artikel in den Bayreuther Blättern, die Liebe hatte ihn zum Schriftsteller gemacht. Es scheint, daß jene Aufgangszeiten Männer von Treue und Selbstverleugnung hervorbrachten, als wolle die Natur dem Großen, wo er hilflos ist, Kräfte gesellen. Zu ihnen gehören die drei um Bruckner: Löwe, Josef und Franz Schalk.

Neben den verhältnismäßig geringen offiziellen Bruckner-Aufführungen im Philharmonischen Konzert laufen fortwährend Klavier- und Orchesterabende der »Partei«, die eben dadurch an Boden gewann. Überall schlug sie sich, überall gab es Scharmützel, kleine Überfälle, große Schlachten, bald bei Bösendorfer, bald im Musikvereinssaal oder im Prater. Einmal gewinnt der Wagnerverein Hans Richter und läßt durch ihn die Romantische Sinfonie aufführen (29. Jan. 1888), dann überwindet Schalk seine Öffentlichkeitsscheu und macht die gleiche Sinfonie in der Theater- und Musik-Ausstellung (15. Juni 1892), und zuletzt gibt es noch Gastausflüge nach München, Graz, Prag und Pest. »Wagnerverein« wird ziemlich gleichbedeutend mit »Brucknerverein«. Der Umschwung bereitet sich vor.

Vielfach wurde behauptet, daß Bruckner unter die Botmäßigkeit seiner Apostel geraten und sozusagen Schüler seiner Schüler geworden sei. Namentlich wäre es Josef Schalk gewesen, der, seinen Willen dem oft Zweifelnden aufdrängend, den pp-Abschluß des ersten Satzes der Achten Sinfonie durchgesetzt habe und dgl. m. Es wurde geglaubt, weil es absurd war. Von dieser Legende bleibt nur Folgendes: die Schreibarbeit überwuchs Bruckner, der, bei seiner bedächtig schweren Art, nicht »flott« komponierend, mit Mühe die Umständlichkeiten einer modernen Orchester-Partitur ins reine brachte. Er brauchte Helfer für das Mechanische, ähnlich den mittelalterlichen Meistern, in deren Werkstätte Gesellen und Lehrlinge die niederen »Montierungsarbeiten« vollführten. Und da seine »Gesellen« nicht Automaten, sondern jüngere Intellektuelle waren, so äußerten sie Meinungen, fühlten sich zu praktischen Vorschlägen veranlaßt, und der Meister, in ihnen vielleicht seine persongewordenen Skrupel erblickend, gab in Nebendingen nach, wenn man ihn überzeugen konnte.

Jedenfalls handelten Schalk und Löwe als lautere, selbstlose Menschen, aus einer gewissen Apostelverantwortung heraus. Daß in solchem Verhältnis Mißverständnisse, ärgerliche oder gespannte Augenblicke vorkamen, ist selbstverständlich, gibt aber Karl Hruby kein Recht zu derbem Angriff auf die »beiden Oberbonzen«.

Gerade Josef Schalks unglückliche dichterische Auslegung der Achten Sinfonie, die Bruckner wohl mit erstaunter Überlegenheit und geheimem Seufzer gelesen haben mag, beweist, wie fern bei aller Nähe der Verkünder dem Verkündeten war. Und mit ihm die Brucknerjugend jener Zeit. Sie begeisterte sich für das Groß-Dimensionierte, die Ausdrucks-Pracht, für das Absolut-Österreichische des Werks und setzte hiermit, den Mißhandelten einschließend, die Herbeck'sche Linie fort: von der tönenden Gebärde, dem musikalischen Ethos dürfte die »Partei« kaum mehr gewußt haben als die Gegenpartei.

Jeder Glaubenskampf für einen Künstler ist aber einer für die Glaubenskämpfer selbst. Auch im Fall Bruckner waren, ohne es zu wollen, die Förderer zugleich die Geförderten. Die neue Welt trieb aus sich neue Verbreiter, der Brucknerstil schuf neue Dirigenten mit sehr dankbaren Aufgaben: ohne das Erlebnis Bruckners wäre das Leben Schalks und Löwes nicht zu der gleichen Kulturbedeutung gekommen; und hierin liegt die Begnadung derer um Bruckner: das Kind bereicherte die Wissenden.

Zur »Partei« gehörte auch Hugo Wolf. Mit der Feder, am Klavier, sagen wir ruhig: mit seinem ganzen Menschen wurde er brucknerisch tätig. Außer Wagner hat er keinen so geliebt. Mit Bruckner 1884 in Klosterneuburg bekannt geworden, greift er, als Kritiker des Salonblattes, dessen Sache sogleich mit Wolfschem Brio auf: »Bruckner, dieser Titane im Kampf mit den Göttern, ist angewiesen, vom Klaviere aus dem Publikum sich verständlich zu machen …« Das wirkt sehr aufreizend, zumal da so mancher Untitane sich der philharmonischen Gunst erfreut. Wolf kann zwar selbst als Parteihörer nicht überall mit: »Von der Ersten Sinfonie verstand ich gar nichts bis auf das Scherzo und Einiges aus dem ersten Satz, es soll aber kolossal sein …« Bruckner war zu neu, auch für die Brucknerianer. Erst 1886 bei der Siebenten Sinfonie wird Wolf sehend. Und der kleine »Besessene« prägt auch ein dauerndes Wort über den großen Freund: »Wie bei Grabbe das Schwelgerische in der Phantasie, der geniale Gedankenflug an Shakespeare erinnert, so meinen wir oft in den grandiosen Themen und deren tiefsinniger Verarbeitung, wie wir sie in allen Brucknerschen Symphonieen finden, die Sprache Beethovens zu vernehmen …«

Wolf, der einen Neujahrstag in seinem Heim nicht weihevoller einweihen kann, als durch die Klänge des Adagio aus der Siebenten Sinfonie, wird von Bruckner bis zur Bewunderung geschätzt. Die Deklamation in Wolfs Lied findet Bruckner geradezu genial. Er beneidet ihn, daß er »den ganzen Tag nix als wie komponiren« kann, während er selbst noch als Greis darauf angewiesen ist, Privatstunden um drei Gulden zu geben. Mitunter ist Bruckner in seinem Kindergemüt ordentlich eifersüchtig: »Ja, wie der Schalk den Wolf entdeckt hat, da war ich gar nix mehr …« äußerte er zu Prof. Schmid aus Tübingen. In diesem Zusammenhang ist auch noch Wolfs Freund Friedrich Eckstein zu nennen, der, ein eigenes Bruckner-Komité gründend, Aufführung und Verlag mehrerer Werke (Tedeum, Romantische Sinfonie) durchsetzte.

Der Wagnervereinskreis betrachtete Hans Richter innerlich als den seinen: der Famulus des Meisters leitete auch seine bedeutenden Orchester-Aufführungen. Jedenfalls hatte Bruckner Ursache, dem Statthalter Bayreuths dankbar zu sein, der von Natur aus durch seinen majestätischen Rhythmus für ihn geschaffen schien. Und doch kämpfte die Dankbarkeit mit dem Selbstbewußtsein, der Respekt mit einer nicht laut geäußerten Unbefriedigung des Künstlers, als sei er doch vernachlässigt und gerade in den Durchführungen von Richter nicht geschätzt. Er gab nur zu, durch Richters Tadel aufmerksam geworden, gewisse Instrumental-Verdoppelungen von ihm gelernt zu haben. In dem breiträumigen, barbarossahaften Richter lebten zwei Seelen: die unbedingte, die wagnerische, und die andere, die sich mit den Relativitäten des Lebens doch abfand. Der Gewaltige, der gelegentlich mit dem kleinen Hanslick Arm in Arm über die Ringstraße spazierte, setzte nicht sein ganzes Gewicht für Bruckner ein. Er hat ihn oft aufgeführt, auch in England, wohin er dann in Verbitterung ging. Aber er hat nicht für ihn gelitten und gestritten. In späterem Rechtfertigungsversuch erklärte er, daß »keine Konzertgesellschaft der Welt so oft und so viele Werke Bruckners zur Aufführung brachte, als die Philharmoniker während der Zeit meiner Wirksamkeit in Wien, 1875-1899«. (Die Musik, Jahrg. 1906.) Aber dies hatte schon als sein Anwalt Hanslick zu Unrecht behauptet (Neue Freie Presse, 24. 12. 1890). Richter, dem in der Erinnerung »viel Bruckner« vorschwebte, verwechselte Musikaufführungen des Wagnervereins und andere Gelegenheiten mit dem Philharmonischen Konzert. Wie immer. Auch die eingeschränkte Brucknertätigkeit Richters soll nicht mißkannt und die von ihm selbst erzählte Episode nicht verschwiegen werden, daß die Brucknersche Dankbarkeit nach einem Konzert mit – 48 dampfenden Krapfen auf Richter wartete, um sie nachher gemeinsam mit ihm zu verspeisen …

Man kann sagen: die Wende in Bruckners Heldenkampf trat durch seine ersten Erfolge in Deutschland und dann durch den Wagnerverein ein. Sein Tod öffnete dem Nachruhm alle Möglichkeiten, erst die Zukunft wird ihn besitzen.


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