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In der Kaiserstadt

Noch während Bruckner von Linz zu Sechter fuhr, hatte sich die Stadt Wien in den Jahren 1858 bis 1864 gewandelt und ins Weite gedehnt: die Wälle, die sie umschnürten, die Basteien, die sie beengten, wurden abgetragen und mit fast unheimlicher Hast die mittelalterlichen Mauern niedergeworfen. Manche Stadtschönheit fiel, junge Straßenherrlichkeiten entstanden, kaiserlicher Ehrgeiz betrieb die pilzhafte Entstehung einer neuen Weltstadtpracht. Auf dem gewonnenen Gelände wuchsen in Stilbuntheit das Künstlerhaus, der Musikpalast des Konservatoriums (statt des alten Gebäudes »Unter den Tuchlauben«), 1869 das neue Opernhaus: die ganze Gegend, in der sich Bruckners Amtstätigkeit bewegen sollte, war ein prunkendes Viertel, und vom Mittelalter blieb unter anderem nur jene grauverwitterte Stiege in einer Ecke der Hofburg, über die man zur k. k. Hofkapelle hinaufstieg. Wer nach Wien kam, sollte ein Paris, aber in »gemütlicher« Steigerung, wiederfinden und mit einstimmen in das Preislied, das die Stadt sich selber sang. Beim Zobel kostete jede Portion feiner Speisen 12 Kreuzer und beim Schwender brausten Narrenabend und Vergnügungskongreß …

Nun ja. Bezeichnend für den Geist des sich neu bauenden Wien, das über eine halbe Million zählte, sind zwei Vorfälle. Beim Bau der Altlerchenfelder Kirche wurde der hoffnungsvolle Schweizer Künstler Müller, der ihren Plan entwarf, durch einen Monate währenden unablässigen Kampf mit seinen Gegnern in den Tod getrieben. Das neue Opernhaus, ein in seiner Art unübertroffenes höfisches Theater, wurde noch vor der Vollendung derart verunglimpft, daß sich der eine Erbauer, van der Nüll, das Leben nahm, der andere ihm bald nachstarb.

»Es war eine der schönen Wiener Hetzen, wie sie sich wenigstens alle fünf Jahre gegen irgend einen richtet, der Ungewohntes, Großes und Neues bringt, ohne vorher schüchtern anzufragen, ob er auch darf, und ob diejenigen, die über das zu wachen haben, was bei den Jours als Kunst gelten kann, nicht etwa dadurch gestört und vielleicht gar zum Umlernen oder doch zur Auseinandersetzung gezwungen werden« (Richard Specht: »Das Wiener Operntheater«, 1919).

Man begreift nun eher das fast ahnungsvolle Zögern Bruckners und ersieht, was dem Naturkind, das Ungewolltes wollte, an Wiener Gefahren drohte. Die neue Gesellschaft, die sich mit der neuen Stadt bildete, gab der herkömmlichen Heiterkeit einen bösartigen Zusatz. Vielleicht darf man die witzige Rachgier und fröhliche Niedertracht der einander Verfolgenden auf geistige und körperliche Rassenunterschiede zurückführen. Jedenfalls zerfiel die Wiener Menschheit bei künstlerischen Neu-Erscheinungen in Parteien, Cliquen, Stammtische, die einander mit der Unverträglichkeit von Spinnen anfielen. Im alten Wien der Stadtwälle war Peter Cornelius entzückt: »es gefällt mir sehr gut in Wien, Luft, Dialect, Essen, Glacis – und die herrlichen Venezianer in den Sammlungen – alles ist so schön und zusagend!« (An Liszt, 19. Mai 1859.) Drei Jahre später möchte er auf und davon: »Im Uebrigen habe ich Wien satt, satt bis zum Ueberdruß … sage mir Einer das Mittel, mit den Dustmanns, Hanslicks, Epsteins, Dachs' u. s. w. zu verkehren …« (An Tausig, 21. März 1862.)

Und dieser Zeiten Geist spiegelt sich in der Presse. Sicher im Wiener Glanz ruhend, fühlt sie sich üppig und herrscht durch das Feuilleton. 1864 kam Eduard Hanslick an die von Etienne und Friedländer geleitete Neue Freie Presse, das einflußreichste Tagesblatt Wiens, und wurde damit Wortführer im Musikleben Österreichs. Verwandt jenem epikuräischen Philodemos aus Gadara, der in der Musik nur ausdruckslose Kombination sah, doch ohne sie wie jener mit der Kochkunst zu vergleichen, gab er vierzig Jahre lang dem Publikum Stimme: eine vox populi, nicht immer gerade die vox dei.

Der kleine Mann mit den mächtigen Augenbrauen bildete den Glanz des älteren Musikjournalismus, und als solcher trat er in die Musikgeschichte. Er schrieb nie abstrakt, nie langweilig und, wie Bösgesinnte sagten, auch nie zu sachlich. Aus einer Epoche formaler Hochkunst gekommen, hielt er die formale Überlieferung fest, und in Übereinstimmung mit einer Stadt, die im Lied ein kunstbeherrschendes Element empfand, nahm er sich der durch Liszt, Berlioz und Wagner Erschreckten an, denen er selbst zugehörte. Sein Wort erlöste uneingestandene Empfindungen und, mit dem Triumph des Stilisten überwundene Leser als Anhänger sammelnd, galt er mehr als jeder Kritiker, jeder Künstler. Aus blumiger Lippe hauchte hie und da ein Giftchen, manchmal ein Gift, meistens ein Spaß, der am gleichen Tag durch alle Salons stöberte, aber jeder verstand ihn. Heute darf man annehmen, daß mancher Scherz aus der Trauer um ein versinkendes goldenes Zeitalter der melodischen Grazie floß. Als er nach Bayreuth zu den Festspielen geschickt wird und eine vier Tage dauernde Oper untersuchen soll, ist er verstört. Er findet in den Nibelungen nicht eine der hübschen Melodien, der Duette, Chöre Aubers. Er ist schnell ermüdet, von allem gelangweilt, es fehlt ihm das Allegro-Erlebnis der sogenannten unendlichen Melodie. Er schaudert, als er einmal das Meistersingervorspiel vierhändig versucht – »im Spektakel der Nürnberger Wolfsschlucht hört jeder Gedanke an Musik auf« – das Tristanvorspiel zieht ihm die Gedärme aus dem Leib. Er wehrt sich, nennt Brünnhilde eine göttliche Geheimrätin, Lohengrin einen gefiederten Einspänner: es hilft nichts, Wagner wird immer berühmter. Verbohrt in die Welt seiner Abstraktion, voll närrischen Glaubens an seinen ersten Eindruck wird ihm Wagner zur idée fixe. Wagners Augen blicken ihn »eisig« an, wo er Wagner zu riechen meint, wird er physiologisch beunruhigt und flieht ihn wie einen dunklen Schrecken. Er stellt einen Gegen-Messias auf, einen Muster-Künstler, der alt und neu, formal und modern zugleich sein kann. Nun, dieser Johannes Brahms zeigt sich manchmal schrecklich widerborstig – immerhin läßt er sich als Diana von Ephesus brauchen.

Lächerlich, an Hanslicks Ehrlichkeit zu zweifeln: selten hat ein Kritiker den Geist seiner widerstrebenden Natur klarer und offener bekannt. Man kann viele seiner Einwände sogar bejahen, nur muß man eine andere ethisch-kulturelle Grundstellung zum Kunstwerk haben. In seinen Büchern findet man Sinn für feine Geselligkeit, für Reisen, für die Stimme der Patti; nie findet man einen Blick in die Wolken, in die Sterne, ins Jenseits, nie das Verlangen, in einen tiefen Menschen hinabzublicken und seine über die Gesellschaft hinausgehende Sendung zu erfühlen. Daß er, ein Ästhetiker des Genießens, Kunst hauptsächlich als gesellschaftliches Ereignis aufsuchte, nicht auf Seite der Schöpferischen stand, mit alten Formeln erlebnislos an einer neuen Produktion herumtastete, nicht produktiv, sondern rein reproduktiv, echohaft war – das haben wir heute gegen ihn.

Als Anton Bruckner eben in Wien wirkend wurde, 1869, erschien Hanslicks Buch »Aus dem Konzertsaal«, worin folgende Abwehr der Tannhäuser-Ouvertüre wiedergegeben war: »Sie ist als Composition unerquicklich … der einleitende Pilgerchor ist unbedeutend, seine (erste) Figurirung mit herabhüpfenden Violinfiguren geschmacklos … Das zweite Allegro-Motiv (Tannhäusers Lobgesang auf Frau Venus) ist trivial, gesungen oder gespielt. Der Theil, wo die Ouvertüre sterblich oder besser: künstlerisch schon tot ist, wenngleich sie da den höchsten äußeren Glanz prätendirt, ist ihr langer, durch Monotonie und Lärm ermüdender Schlußsatz, eine stylistische Trivialität, welche den Virtuoseneffekt der ›Umspielungen‹ auf das Orchester überträgt. Die Ouvertüre wird musivisch zusammengesetzt, anstatt organisch entwickelt. Das Ungeschick in der Bewältigung symphonischer Form teilt Wagner mit seinem Erzfeind Meyerbeer …«

Bruckner wird wohl gemerkt haben, wessen er sich selbst zu versehen, was seine »Richtung« von einem Mann zu erwarten hatte, der so mit seinem Meister umsprang. Und er beeilt sich, von Herbeck beraten, dem großen Kritiker jedesmal zum Namens- und Geburtstag zu gratulieren, woraus Hanslick später folgerte, er sei mit Bruckner seit 30 Jahren befreundet. Aber, die Welt seines »Freundes«, seine melodische Gebärde, sein tönendes Ethos aufzusuchen, hat er nie über sich gebracht. Der Tatsachenmensch der modernen Weltstadt, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit seiner tiefen Abneigung gegen das Bauerntum, stand dem Kind des Mittelalters mit seiner schwer-alten Kultur, seinem unerschütterlichen Gottesglauben gegenüber – genau wie Oswald Spengler diese Typen in seinem »Untergang des Abendlandes« gezeichnet hat.

Im besten Fall kann man Hanslicks Erscheinung als die Widerstandskraft betrachten, die bei jeder Bildung neuer Lebensformen auftritt. Daß diese Naturkraft auch boshaft sein konnte, gehört zu den Wiener Besonderheiten.

 

Diese Stimmung ungefähr umgab den Ankömmling in Wien. Er hatte als Freund den zunächst noch mächtigen Herbeck. Vorläufig gab er auch keinen Anlaß, »störte« künstlerisch in keiner Weise, galt vorzüglich als Organist und Theoretiker, übernahm sein Lehramt und trat bis 1873 als Sinfoniker nicht hervor.

Was ihm in diesen und den folgenden Jahren als Gegenkraft zu Hilfe kam, war die Vorstellung von Richard Wagner und dessen Anerkennung. Oft sprach Bruckner davon, um sich – unbewußt – Mut zu machen. 1865 bei der Uraufführung von Tristan und Isolde sah Bruckner den Meister zum erstenmal. Er dürfte ihm wieder begegnet sein bei dem Wiener Wagnerkonzert vom Mai 1872, und, um seinem Herzen Genüge zu tun, reiste er nach Bayreuth und legte Wagner die Partituren seiner bis dahin vorhandenen Sinfonien vor. Wagner sollte diejenige auswählen, die ihm einer Widmung am würdigsten schien, und Wagner wählte nach sorgfältigster Durchsicht die d-moll Nr. 3. Auf eine nachträgliche zweifelnde Anfrage Bruckners, welche Sinfonie gemeint sei, die zweite oder die dritte, ließ Wagner ihm einen Zettel zurück mit den Worten: »Diejenige, bei der die Trompete das Thema hat.« In einem Brief an Kitzler (vom 1. Juni 1875) erzählt Bruckner, Wagner habe die d-moll-Sinfonie als sehr bedeutendes Werk erklärt, die Annahme der Widmung dürfte also vorher erfolgt sein. Jedenfalls wurde es in Wien rasch bekannt, und die Sinfonie hieß später allgemein die Wagnersinfonie. Bruckner hat auch die Parsifal-Tage von 1882 miterlebt und pflegte im Zusammenhang damit zu versichern – so auch in der Ansprache an den Frohsinn in Linz (1886) – Wagner habe ihm die Aufführung seiner Sinfonien in Bayreuth versprochen. Vielleicht handelte es sich um einen Augenblickseinfall, vielleicht, wie Siegfried Wagner meint, um einen »wohlwollenden Scherz« seines Vaters – Bruckner blieb des festen Glaubens, nur der Tod habe den Meister verhindert, diese Absicht auszuführen. Die Zeit, die Bruckner in Bayreuth zubrachte, gehörte wahrscheinlich zu den glücklichsten seines Lebens: »sein Auge leuchtete jedesmal seltsam auf, sobald er auf sie zu sprechen kam« (Karl Hruby). Viele Anekdoten umkränzen jene Tage, einer der köstlichen Schattenrisse Otto Boehlers zeigt Bruckner in voller Devotion vor dem Meister, und das Bildchen hat Wirklichkeitsluft. Einmal – auf die Frage Wagners, ob Bruckner ihn denn wirklich so tief verehre, antwortete Bruckner mit einem Kniefall. Seine Unterwürfigkeit bediente sich florianischer Formen, und doch scheint er ein Übermaß gefühlt zu haben, denn er erklärte später: Wagner sei der einzige Mensch gewesen, vor dem er kniete, und damit habe er das Göttliche ehren wollen, das eben in diesem Menschen Erdengestalt gewonnen.

Hanslick als böser Geist, Wagner als Schutzpatron – zwischen ihnen stand Anton Bruckner in Wien.


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