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Achtzehntes Kapitel

Die Leipziger Ostermesse war schon seit vielen Jahren der Versammlungsort aller in weitem Kreise ringsum wohnenden reichen und vornehmen Leute. König August der Starke, jeder Ergötzlichkeit zugetan, hatte selten versäumt, dort mit glänzendem Gefolge zu erscheinen, Feste zu geben und sich geben zu lassen. Auch sein Sohn August III. hielt den Brauch fest und erschien, von Brühl und einem großen Hofstaat begleitet, jedes Frühjahr in Leipzig.

Der Krieg hatte im vorigen Mai diesen Ausflug der großen Welt verhindert, um so lebhafter sollte es in diesem Jahre auf der Ostermesse zugehen.

Hier konnten die Reichen sich mit köstlichen Stoffen und Geräten versorgen, konnten sehen und gesehen werden. Bei den mangelhaften Verkehrsverhältnissen war dies galante Rendezvous ein notwendiges Auskunftsmittel. Mancher Vergleich eines schwebenden Streits, mancher Gutskauf, manche Heiratspartie kam hier während einiger Wochen rauschender Geselligkeit zustande. Man traf sich in den Hallen und Gewölben der Großhändler sowohl, wie in den prächtigen Boseschen, Apelschen und Richterschen Gärten und auf den Festen, welche sich die Herren einander gaben.

Man besaß entweder in Leipzig seine Gastfreunde, bei denen man wohnte – so hatte August der Starke bei dem reichen Kaufmann Andreas Apel am Markte gewohnt und seines Wirtes Feten und Traktamente huldreichst entgegen genommen – oder zog in eigene, dort offen gehaltene Quartiere.

Gottsched und Gellert lebten in Leipzig; der Buchhandel begann sich zu entfalten; die Leipziger politische Zeitung erschien wöchentlich in vier Nummern, und viele unabhängige, reiche und vornehme Familien erwählten Leipzig zu ihrem Wohnsitz. Ein Leipziger Gelehrter, Carpzow, pflegte seinen Freunden ins Stammbuch zu schreiben: »Extra Lipsiam vivere, non est vita, si est vita, non est ita.« (Außerhalb Leipzigs zu leben ist kein Leben, und wenn es ein Leben ist, ist es nicht ein solches.)

Auch die Herzoge von Weißenfels besaßen ein Haus in Leipzig; es war zuletzt von der verwitweten Herzogin Elisabeth, deren Page Brühl gewesen, bewohnt. Nachdem die Herzogin 1730 gestorben, diente es als Absteigequartier bei einem zeitweiligen Aufenthalt der Weißenfelser Herrschaften.

Es stand außer Frage, daß der Herzog und die Herzogin von Weißenfels in diesem Jahre mit ihrem Hofstaat zur Ostermesse nach Leipzig gehen würden, und schon vier Wochen vorher freute man sich darauf und traf die nötigen Vorkehrungen. In nächster Zeit sollte der Reisemarschall, Graf Luja, voraus nach Leipzig fahren, das lange nicht benutzte Haus in wohnlichen Stand setzen lassen und dann zurückkommen, um den Aufbruch des Hofes mit bekannter Umsicht zu leiten.

Clemence Bernard ging nach dem Zusammentreffen im Park auf Storkes zwingende Bitte abends wieder ins Schieferhäuschen; es war heller Mondschein, und sie konnte heute ihre Laterne zurücklassen, auch war die Scheu, die sie anfangs beherrscht, mit dem Geliebten im Dunkeln zusammenzutreffen, längst gewichen.

Als der erste Sturm der Zärtlichkeit, mit der sie sich nach der kurzen Unterbrechung ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte wieder in die Arme fielen, vorübergebraust war, begann Storke eifrig, oder wie das Mädchen meinte, eifersüchtig zu forschen, weshalb seine angebetete Clemence während einiger Zeit ausgeblieben sei.

Sie konnte nicht umhin, ihm das kleine Begebnis am Brunnen zu erzählen, die namenlose Angst, welche sie ausgestanden, zu schildern und ihm dabei zugleich zu bekennen, sie glaube, es sei ihr unmöglich, etwas gegen das Wohl des ihr anvertrauten Kindes zu unternehmen.

»So liebst Du mich nicht«, rief er bitter, indem er sie von sich stieß, »so hast Du mich nie geliebt und bist nicht imstande, für unsere Vereinigung ein Opfer zu bringen! Läg es an mir, ich würde alles für Deinen Besitz dahingeben. Ja, mein Leben würde ich mit Freuden für Dich in die Schanze schlagen, und Du hinderst den Zufall, der uns begünstigt, Du ziehst das fremde Kind mir vor, mir, der ich Dein Ein und Alles sein will! O Clemence, wie kannst Du mir das antun? Mit Haß sollte ich Dir lohnen, Dich verachten wegen Deiner Schwäche. Du treibst mich dazu, Dir eine letzte Wahl zu stellen. Binnen dieser Woche muß etwas geschehen oder – es ist aus zwischen uns!«

»O mein Geliebter!« jammerte das Mädchen und warf sich ihm zu Füßen, »gibt es denn keine andere Möglichkeit, zu unserem Ziele zu gelangen, keinen Ausweg? Verschone mich mit diesem! Sei barmherzig! Was kann ich sonst für Dich tun?«

»Komm, Clemence, höre mich an«, sagte er und hob sie empor. »Ich besitze ein Mittel; es wirkt nicht rasch. Kein Verdacht fällt auf Dich. Es wird nicht leiden. Du hast hundert Gelegenheiten, es ihm zu reichen, wer weiß, was Du Deinem Lieblinge an schlimmerem ersparst? Grenzenlose Seligkeit aber bereitest du uns beiden. Male Dir doch die Wonne steter Vereinigung aus. Denke doch an Deinen Gewinn, Deine veränderte Lebensstellung. Bringe ich denn kein Opfer, indem ich eine namenlose Fremde zur Baronin Storke erhebe? Ist alles dies keiner Tat von Deiner Seite wert?«

Nach und nach gelang es ihm, indem er von wildem Haß zu glühender Liebe überging, sie sich wieder gefügig zu machen, sie nahm von ihm ein Schächtelchen entgegen und versprach, den Inhalt nach seinem Willen zu verwenden. Dann schritten sie Arm in Arm, vom Schieferhäuschen aus, durch den mondscheinerhellten Park dem Schlosse zu.

Graf Martin Luja hatte seine letzten Verhaltensbefehle vom Herzoge für die morgen anzutretende Reise nach Leipzig empfangen und schlenderte jetzt, vom Schlosse kommend, durch den Park seinem Hause zu. Er überlegte eben die empfangenen Aufträge und bog achtlos um eine Ecke, als er sich plötzlich einem daherkommenden Paare gegenüber befand. So rasch dasselbe auch vorbeischritt, er hatte sie doch erkannt, es waren Baron Storke und die Schöne mit den schwarzen Locken, Mademoiselle Bernard, die Bonne, gewesen.

Sein Herz jubelte auf, Lasten fielen von seiner Seele, er hatte Rosa von Bünau mit seinem Verdacht Unrecht getan! Diese Gestalt war's, die damals im Schieferhäuschen in Storkes Armen gelegen. Er begriff nicht, wie es möglich gewesen, daß er auf eine kleine Aehnlichkeit hin das holde, liebe Mädchen zu verurteilen vermocht. Die Verschiedenheit der beiden kam ihm jetzt zu Bewußtsein. Die Bonne war größer, magerer und von nicht so weißer Hautfarbe wie Rosa, es verdroß ihn, sie nur zu vergleichen. Und Storke? Konnte man dem nicht zutrauen, daß er bei jeder Gelegenheit einer anderen huldige? Konnte er nicht einer Dame der Gesellschaft den Hof machen und daneben sich darbietende Liaisons anknüpfen?

Luja mußte über seine eigene Beschränktheit lachen, daß er dies nicht von vornherein vorausgesetzt. Wenn er von Leipzig zurückkam, wollte er sich Gewißheit holen. Gewißheit, ob Rosas Blicke, die ihm so freundlich entgegenleuchteten, lügen könnten. Er mußte den kränkenden Verdacht, den er gegen sie gehegt, mit unendlicher Liebe und Treue wieder gut machen; gern wäre er gleich zu ihr geeilt, um sich die Entscheidung über seine Zukunft zu holen, aber es war zu dieser späten Abendstunde eine Unmöglichkeit, und morgen früh stand alles zu seiner Abreise bereit. Niemals hatte er die Liebe für Rosa so tief und innig empfunden wie jetzt, niemals hatte ihn dieses Gefühl mit solch reiner Seligkeit erfüllt. Ja, seine ernste, bescheidene Seele erhob sich zu der Zuversicht, daß er wieder geliebt werde. Obgleich er es nie äußerlich betätigt, mußte sie doch sein warmes Interesse empfunden haben. Und Rosa konnte ihm einen Storke oder Zscheplitz nicht vorziehen. So wollte er denn getrost abreisen, seine Geschäfte beschleunigen und in acht bis zehn Tagen wieder in Weißenfels sein.

Mit einer verstärkten Mischung von hingebender Glut, inniger Sehnsucht nach dauernder Vereinigung und zitternder Angst vor Storkes Bedingungen, die sie ihm eben zu erfüllen versprochen, langt Clemence diesen Abend im Kinderzimmer an. Auch die Begegnung mit dem Grafen Luja beunruhigte sie. Storke hatte ihr freilich gesagt, der Graf sei ein Freund von ihm, sei ein ganz diskreter Mann, dem er es anvertrauen dürfe, daß sie seine Braut geworden, aber fatal blieb das Zusammentreffen doch.

Sie stand heute mit verschränkten Armen lange Zeit vor dem Bette des Prinzen, in dem der blonde, rosenwangige Knabe im vollen Behagen seines kindlichen Alters schlief.

»Du also bist meinem Glücke im Wege«, murmelte Clemence. »Du, o warum mußt Du es sein? Ich soll wählen zwischen Dir und ihm, dem Heißgeliebten – kann ich schwanken? Nur durch eine entsetzliche Tat soll es möglich sein, ihn mir zu erringen – ihn, dem ich mit Leib und Seele gehöre. Fürchterlich ist's, aber ich muß den Entschluß finden?«

Bei diesem Gedanken wandte sie sich kurz um. Als sie sich auskleidete, setzte sie das von Storke erhaltene Döschen in eine der kleinen Schiebeladen des eingelegten Schrankes, welcher am Kopfende ihres Bettes stand. Dann suchte sie ihr Lager auf, aber ohne die ersehnte Ruhe zu finden.

Bleich und verstört erhob sich Clemence am andern Morgen. »Ich muß ein Ende machen«, murmelte sie für sich, »ich ertrage den aufreibenden Kampf nicht länger.«

Es war ein schöner Tag, man öffnete die Fenster nach dem Schloßberge; die Herzogin kam schon zum zweitenmale, um anzuordnen, daß der Prinz gleich nach seinem Süppchen ins Freie gehen solle, sie eilte dann wieder fort und versprach, sich auch im Park einzufinden, da die alte Babett hustete und nicht mit spazieren gehen sollte. Das Kind verlangte selbst hinaus, tröstete sich aber vorläufig damit, einen gelben Schmetterling, der ins Fenster geflogen kam, durchs Zimmer zu verfolgen. Babett brachte die Suppe, der Kleine aß und verlangte nach der kräftigen, heißen Kost zu trinken. Der Hofmedikus hatte gestattet, daß der Prinz zu allen Zeiten, wenn er wolle, Zuckerwasser bekommen könne. Zu diesem Zwecke wurde ein kleiner Zuckervorrat in dem eingelegten Schranke aufbewahrt.

Während die Alte den Knaben auf dem Schoße hielt, mit ihm spielte und dabei der Französin den Rücken zuwandte, trat diese, ein Glas Wasser in der Hand, an den Schrank und gab nach dem Zucker auch das weiße Pulver aus der Dose in das Glas. Das Gemisch umrührend, ging sie, den perlenden Schweiß der Angst auf der Stirn, an den Tisch, wo Babett mit dem Kinde saß.

Der Knabe streckte verlangend seine Händchen nach dem Getränk aus, welches jetzt die Bonne seinen Lippen entgegenführte. Schon erreichte er vorgebeugt das Glas, als Clemence, von einem Schauder ergriffen, dasselbe losließ, so daß es zur Erde fiel und klirrend zerbrach, sie selbst aber sank schwindelnd auf den nächsten Stuhl.

Das Kind fing an zu weinen und schrie lebhafter als vorher: »Trinken, trinken!«

»Aber, Mademoiselle,« rief Babett vorwurfsvoll, »das schöne Glas.« Dann aber Clemence ansehend, sagte sie herzlich: »Es ist eine Ohnmacht, Sie können nichts dafür.«

Die gute Alte ließ das Prinzchen zur Erde gleiten, stand auf und rieb der Französin die Stirn, gab ihr flüchtiges Salz zu riechen und freute sich, als etwas Farbe in das Gesicht der Totenbleichen zurückkehrte. Clemence war mehrere Minuten nicht imstande sich zu rühren, währenddessen bereitete die Wärterin ein anderes Zuckerwasser für den ungeduldigen Kleinen.

Der Gang durch den Park tat der Bonne wohl, die Güte der Herzogin, welche sie begleitete, wie sie es versprochen, ergriff sie wie ein Vorwurf, noch weher aber wurde ihr ums Herz, als die Fürstin nach dem Schieferhäuschen einbog und dort Platz nahm, um sich auszuruhen.

Clemence mußte sich auf eine Seitenbank setzen, nun sah sie den Raum zum ersten Male nach ihren abendlichen Liebeszusammenkünften am Tage und ohne ihn, und niemals tobte der Kampf heißer in ihr als zu dieser Stunde.

Gegen Abend ließ die Herzogin ihr Söhnchen mit seiner Bonne noch einmal zu sich auf die Terrasse über die Einfahrt entbieten, es war die köstlichste Frühlingsluft. Die hohe Frau saß mit einer Stickerei unter den Lorbeerbäumen, während Clemence mit dem Prinzchen spielte. Der Kleine wurde nicht müde, sich hinter den Gewächskübeln zu verstecken, wo Clemence ihn suchen und finden mußte. Das Kind jauchzte vor Vergnügen, und die Herzogin lachte glücklich; in dem Herzen der Bonne aber herrschte schwarze Nacht.

Plötzlich kam ein Lakai und meldete: »Seine hochfürstliche Durchlaucht der Herr Herzog wünschen die Frau Herzogin zu sprechen.«

»Ich lasse meinen Gemahl ersuchen, hierher zu kommen«, erwiderte die Fürstin. Bald aber erhob sie sich, ihr fiel ein, daß Johann Adolf gewiß etwas Eiliges oder Besonderes wünsche, und daher wollte sie ihm entgegengehen. Sie nahm ihr Söhnchen an die Hand und ging durch das gelbe Konferenzzimmer und den großen Saal in das Vorgemach. Hier trafen sich die Gatten.

Des Herzogs Gesicht strahlte vor Vergnügen, ihm war augenscheinlich etwas sehr Angenehmes geschehen.

»Erfüllung Deiner Wünsche, ma chère«, rief er triumphierend. »Eben war unser kleiner Kammerjunker von Zscheplitz bei mir, um in optima forma die Hand Rosa von Bünaus von uns zu erbitten. Nun, Madame, nicht wahr, das konveniert Ihnen? Mit dem Brautpaare kann man in Leipzig paradieren. Die alten Zscheplitzs werden nicht knausern. Eine Bünau ist ihnen doch am liebsten.«

Friederike konnte gegen seinen freudigen Redestrom kaum zu Wort kommen! »Also endlich hat Kurt sich ein Herz gefaßt?« sagte sie hocherfreut. »Ich zweifelte schon gestern nicht mehr daran. Rosa benahm sich auf mein Zureden charmant gegen ihn –«

»Ist jemand auf der Terrasse? Dein Junge läuft Dir weg.«

»Die Bonne ist dort. Einen Kampf werde ich mit der kleinen Kaprizieusen doch noch zu bestehen haben, fürchte ich –«

»Mag sie ihn nicht? Baron Storke wäre ihr doch wohl lieber, he?«

» Pas du tout

»Aber siehe, mit welcher agilité der kleine Bursche über das blanke Parkett hintrippelt, der Junge macht sich famos heraus.« Der Herzog lief jetzt neckend ein paar Schritte hinter dem Kleinen her und rief: » Gardez vous, mon prince!«

Dieser wandte sich, schrie: »Fang mich!« und rannte so schnell er konnte davon.

Die Eltern folgten lächelnd und über Rosas Heiratsaussichten plaudernd.

Plötzlich ein gellender Schrei von der Terrasse her. Die Herzogin stürzt erbleichend vor, da fliegt die Bonne ihr mit erhobenen Armen und verzerrten Gesicht entgegen und bricht in der Mitte des gelben Zimmers zusammen, das herzogliche Paar eilt auf die Terrasse – sie ist leer.

»Das Kind, das Kind – wo ist mein Kind?« schreit die Herzogin, die Hände ringend.

Der Herzog neigt sich in Todesangst über die Balustrade. Es laufen unten schon mehrere Leute von der Dienerschaft zusammen, ein Schweizer Gardist hebt eben den Körper des Kindes vom Pflaster des Hofes auf; der Vater sieht, wie das geliebte kleine Wesen leblos im Arme des Mannes hängt. Als er sich nach seiner Gemahlin umblickt, ist sie schon fort, er folgt ihr stürmenden Fußes, an der Bonne vorüber, die in Krämpfen zu liegen scheint.

Auf den Stufen zum Schloßportal sitzt die unglückliche Mutter und hält ihr schwer verletztes Kind in den Armen, sie kann noch nicht weinen, vielen der Umstehenden laufen angesichts dieses stummen Jammers die hellen Tränen über die Wangen. Eben als der Herzog die traurige Gruppe erreicht, stürzt der Hofchirurg herbei. Er kniet neben der Herzogin nieder, untersucht den kleinen Körper und erklärt auf des Herzogs Drängen mit zitternder Stimme: »Tot!«


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