Dante Alighieri
Die Göttliche Komödie
Dante Alighieri

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Achter Gesang

  1. Die Stunde war es, die zu stillem Weinen
    Vor Heimweh den gerührten Schiffer zwingt,
    Am Tag, da er verließ die teuren Seinen,
  2. Die Liebesleid dem neuen Pilgram bringt,
    Wenn fernher, klagend ob des Tags Erbleichen,
    Der Abendglocken Trauerlied erklingt.
  3. Jedweder Laut schien mit dem Licht zu weichen,
    Und eine von den Seelen trat hervor
    Und heischt’ Aufmerksamkeit mit einem Zeichen
  4. Und naht’ und hob die beiden Händ’ empor,
    Als sagte sie: Du, Gott, nur bist mein Trachten!
    Indem ihr Blick im Osten sich verlor.
  5. Te Lucis Ante– diese Worte brachten
    Dann ihre Lippen vor. So fromm, so schön,
    Daß sie mich meiner Selbst vergessen machten.
  6. Mit andachtsvollem lieblichem Getön
    Stimmt’ ein der Chor zu reicher Wohllauts Fülle,
    Den Blick emporgewandt zu Himmelshöh’n.
  7. Die Wahrheit liegt hier unter leichter Hülle;
    Ist, Leser, jetzt dein Blick nur scharf und klar,
    So wirst du leicht erspäh’n, was sie verhülle.
  8. Demütig, bleich, sah ich die edle Schar
    Nach oben schau’n, erwartungsvoll und schweigend,
    Und sah aus himmlischem Gewölb’ ein Paar
  9. Von Engeln durch die Luft herniedersteigend,
    Zwei Flammenschwerter zwar in ihrer Hand,
    Allein mit abgebrochnen Spitzen zeigend;
  10. Grün wie das Laub, das eben erst entstand,
    Und, von der grünen Flügel Weh’n getrieben,
    Nach hinten zu leicht flatternd das Gewand.
  11. Der eine blieb nah über uns, und drüben,
    Jenseit des Tales, blieb der andre stehn,
    So, daß die Schatten in der Mitte blieben.
  12. Ich konnte wohl die blonden Häupter sehn,
    Doch am Gesicht verging mein Blick, geblendet,
    Wie oft die Sinn’ am Übermaß vergehn.
  13. "Dies Paar ist aus Marias Schoß gesendet,
    Zur Hut des Tales, weil die Schlange naht."
    So sprach Sordell, uns beiden zugewendet.
  14. Und ich, der ich nicht wußt’, auf welchem Pfad,
    Ich schaut’ umher, indem ich starr vor Grauen
    Fest an des treuen Führers Rücken trat.
  15. Sordell begann aufs neu: "Geht mit Vertrauen
    Jetzt zu den Großen hin und sprecht sie an,
    Denn lieb wird’s ihnen sein, euch hier zu schauen.
  16. Ich war im Grund, wie ich drei Schritt’ getan,
    Und nach mir forschend späh’n sah ich den einen,
    Als sah’ er ein bekanntes Antlitz nah’n.
  17. Schon schwärzte sich die Luft, doch zwischen seinen
    Und meinen Blicken ließ sie, nah, was sich
    Vorher durch sie verschlossen, klar erscheinen.
  18. Nun ging ich auf ihn zu und er auf mich.
    "Mein edler Richter Nin, o welch Vergnügen!
    Hier – nicht bei den Verdammten – find’ ich dich!"
  19. Kein schöner Gruß ward zwischen uns verschwiegen.
    Und er: "Wann bist du aus dem weiten Meer
    Am Fuße dieses Berges ausgestiegen?"
  20. "Heut morgen kam ich aus der Hölle her",
    Entgegnet’ ich, "und bin im ersten Leben,
    Doch suche hier des künftigen Gewähr."
  21. Und wie ich ihnen den Bescheid gegeben,
    Da fuhr Sordell und er zurück, verstört,
    Als halt’ ein Wunder plötzlich sich begeben,
  22. Der dem Virgil, der einem zugekehrt,
    Der dorten saß, am grünen Talgestade:
    "Auf, Konrad, sieh, was uns der Herr beschert."
  23. Und drauf zu mir: "Erwies besondre Gnade
    Dir der, des erster Grund verborgen ruht,
    Wohin kein Geist je findet Furt und Pfade,
  24. So sag’ einst jenseits dieser weiten Flut
    Meiner Johanna, daß sie für mich flehe,
    Zu ihm, der nach dem Fleh’n der Unschuld tut.
  25. Nicht liebt die Mutter wohl mich noch wie ehe,
    Da sie den Witwenschleier abgelegt,
    Nach dem sie bald sich sehnt in ihrem Wehe.
  26. An ihr sieh, wie ein Weib zu lieben pflegt,
    Wenn ihre Liebesglut nicht um die Wette
    Jetzt Anschau’n, jetzt Betastung, neu erregt.
  27. Gewiß wird einstens ihre Grabesstätte
    Von Mailands Schlange nicht so schön geschmückt,
    Als sie geschmückt der Hahn Galluras hätte."
  28. Er sprach’s, und ihm im Antlitz ausgedrückt
    War ein gerechter Eifer, der dem Weisen
    Wohl durch das Herz, doch nur gemäßigt, zückt.
  29. Ich blickte sehnlich nach des Himmels Kreisen
    Dorthin, wo träger ist der Sterne Lauf,
    So wie, der Achse nah, des Rades Kreisen.
  30. Mein Führer sprach: "Was blickst du dort hinauf?"
    Und ich: "Nach den drei Lichtern, denn mit ihnen
    Geht ja am ganzen Pol ein Feuer auf."
  31. Und er: "Die vier, die dir heut morgen schienen,
    Sind tief jetzt unterm Horizont versteckt,
    Und diese sind an ihrer Stell’ erschienen."
  32. Hier ward ich durch den Ruf Sordells erschreckt:
    "Den Widersacher seht!" Er sprach’s und zeigte
    Zur Gegend hin, den Finger ausgestreckt,
  33. Wo sich das kleine Tal geöffnet neigte;
    Dort war die Schlange, die wohl jener glich,
    Die Even einst die bittre Speise reichte.
  34. Wie sie daher durch Gras und Blumen strich,
    Hob sie von Zeit zu Zeit den Kopf zum Rücken
    Verdreht empor und leckt’ und putzte sich.
  35. Nicht sah ich und vermag’s nicht auszudrücken,
    Wie die zwei Engel sich bewegt zum Flug,
    Doch deutlich sah ich sie herniederzücken.
  36. Und wie ihr Flügelpaar die Lüfte schlug,
    Entfloh die Schlang’, und jene beiden flogen
    Zu ihrem Platz zurück in gleichem Zug.
  37. Der Schatten, der von Ninos Ruf bewogen
    Sich uns genähert, hatte bei dem Strauß
    Die Blicke nimmer von mir abgezogen.
  38. "Die Leuchte, die dich führt zu Gottes Haus,
    Sie find’ in deinem Willen und Verstande
    Ihr Öl und gehe bis zum Ziel nicht aus."
  39. So sprach er, "doch wenn von der Magra Strande
    Du wahre Kunde hast, so gib sie mir,
    Denn wiss’, ich war einst groß in seinem Lande.
  40. Corrado Malaspina spricht mit dir,
    Der Alte bin ich nicht, doch ihm entsprungen;
    Die Meinen liebt’ ich stets, doch reiner hier."
  41. "Oh," sprach ich, "nimmer noch ist mir’s gelungen,
    Dies Land zu sehn, allein sein Nam’ und Wert
    Ist, wo man in Europa sei, erklungen.
  42. Der Ruf, der euer Haus erhebt und ehrt,
    Schallt zu der Herrn, schallt zu des Landes Preise,
    So daß, wer dort nicht war, davon erfährt.
  43. Ich schwör’ es dir beim Ziele meiner Reise,
    Daß dein Geschlecht in voller Blüte steht,
    Des Muts, der Gastlichkeit, der edlen Weise.
  44. Und wenn die Tollheit alle Welt verdreht,
    Sitt’ und Natur wird ihm den Vorzug schenken,
    Daß es allein den schlechten Weg verschmäht."
  45. Und er: "Jetzt geh, nicht siebenmal versenken
    Wird sich die Sonn’ im Bett an jenem Ort,
    Den ringsumher des Widders Füß’ umschränken,
  46. So wird dir diese gute Meinung dort
    In deinem Kopfe festgenagelt werden,
    Mit bessern Nägeln als mit andrer Wort,
  47. Wird nicht des Schicksals Lauf gehemmt auf Erden."

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