Dante Alighieri
Die Göttliche Komödie
Dante Alighieri

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunter Gesang

  1. Weil ich vor Angst und banger Furcht erblich,
    Als ich den Herrn sah sich zurückbewegen,
    Verschloß Virgil die eigne Furcht in sich.
  2. Aufmerksam stand er dort, wie Horcher pflegen,
    Denn, weit zu schau’n, war ihm die Dunkelheit
    Der schwarzen Luft und Nebelqualm entgegen.
  3. Er sprach: "Wir siegen doch in diesem Streit –
    Wenn nicht – doch hab’ ich nicht ihr Wort vernommen?
    Er säumt fürwahr doch gar zu lange Zeit."
  4. Ich sah es deutlich ein, zurückgenommen
    Sei durch der Rede Folge der Beginn,
    Da beide mir verschieden vorgekommen.
  5. Drum lauscht’ ich sorgenvoll und zagend hin,
    Denn ich erklärte mir vielleicht noch schlimmer,
    Als er es war, des halben Wortes Sinn.
  6. "Kommt wohl ein Geist in diese Tiefe nimmer
    Vom ersten Grad, wo nichts zur Qual gereicht,
    Als daß erstorben jeder Hoffnungsschimmer?"
  7. So fragt’ ich ihn, und jener sprach: "Nicht leicht
    Geschieht’s, daß auf dem Weg, den wir durchliefen,
    Ein andrer meines Grads dies Land erreicht.
  8. Wahr ist’s, daß ich vordem in diesen Tiefen
    Durch der Erichtho Zauberei’n erschien,
    Die oft den Geist zum Leib zurückberiefen.
  9. Kaum war mein Geist vom Fleisch entblößt, als ihn
    Die Zauberin beschwor in jene Mauer,
    Um eine Seel’ aus Judas Kreis zu zieh’n.
  10. Dort ist die tiefste Nacht, der bängste Schauer,
    Am fernsten von des Himmels ew’gem Licht.
    Ich weiß den Weg – drum scheuche Furcht und Trauer.
  11. Der Sumpf hier, welcher Stank verhaucht, umflicht
    Die qualenvolle Stadt, durch deren Pforten
    Man ohne Zorn die Bahn sich nimmer bricht."
  12. Mehr sprach er, doch mich zog von seinen Worten
    Der hohe Turm und bannte mit Gewalt
    Den Blick ans Feuer auf dem Gipfel dorten.
  13. Drei Höllenfurien sah ich dort alsbald,
    Die, blutbefleckt, g’rad’ aufgerichtet, stunden,
    Und Weibern gleich an Haltung und Gestalt,
  14. Mit grünen Hadern statt des Gurts umbunden,
    Mit kleinern Schlangen aber, wie mit Haar,
    Und Ottern rings die grausen Schläf’ umwunden.
  15. Und jener, dem bekannt ihr Anblick war,
    Der Sklavinnen der Fürstin ew’ger Plagen,
    Sprach: "Nimm die wilden Erinnyen wahr.
  16. Zur linken Seite sieh Megären ragen,
    Inmitten ist Tisiphone zu schau’n,
    Und rechts Alecto in Geheul und Klagen."
  17. Die Brust zerriß sich jede mit den Klau’n,
    Und sie zerschlugen sich mit solchem Brüllen,
    Daß ich mich an den Dichter drängt’ aus Grau’n.
  18. "Medusas Haupt! auf, laßt es uns enthüllen,"
    Sie riefen’s, niederbückend, allzugleich.
    "Was wir versäumt an Theseus, zu erfüllen."
  19. "Wende dich um, die Augen schließe gleich!
    Wenn sie bei Gorgos Anblick offenständen,
    Du kehrtest nimmer in des Tages Reich!"
  20. Er sprach’s und eilte, selbst mich umzuwenden,
    Verließ sich auch auf meine Hände nicht
    Und schloß die Augen mir mit seinen Händen.
  21. Ihr, die erhellt gesunden Geistes Licht,
    Bemerkt die Lehre, die, vom Schlei’r umgeben,
    In dich verbirgt dies seltsame Gedicht.
  22. Ich hört’ ein Krachen mächtig sich erheben
    Auf trüber Flut, mit einem Ton voll Graus,
    Daß die und jene Hüfte schien zu beben.
  23. Nicht anders war es, als des Sturms Gebraus –
    Wild durch der kalten Dünste Kampf mit lauen,
    Stürzt er durch Wälder, Äste reißt er aus,
  24. Durch nichts gehemmt, jagt Blüten durch die Auen;
    Stolz wälzt er sich in Staubeswirbeln vor,
    Und Hirt und Herden flieh’n voll Angst und Grauen.
  25. Die Augen löst’ er mir. "Jetzt schau’ empor,
    Dorthin, wo du den schärfsten Rauch entquellen
    Dem Schaume siehst auf diesem alten Moor."
  26. Wie Frösche, sich zerstreuend, durch die Wellen
    Vor ihrem Feind, der Wasserschlange, flieh’n,
    Bis sie am Strand in Scharen sich gesellen,
  27. So sah ich schnell, als einer dort erschien,
    Das Tor von den zerstörten Seelen leeren
    Und ihn mit trocknem Fuß den Styx durchzieh’n.
  28. Er schien den Qualm vom Antlitz abzuwehren,
    Vor sich bewegend seine linke Hand,
    Und dieser Dunst nur schien ihn zu beschweren.
  29. Ich sah’s, er sei vom Himmel hergesandt.
    Zum Meister kehrt’ ich mich, doch, auf sein Zeichen,
    Neigt’ ich mich schweigend, jenem zugewandt.
  30. Mir schien er einem Zornigen zu gleichen.
    Er kam zum Tore, das sein Stab erschloß,
    Und ohne Widerstreben sah ich’s weichen.
  31. "O ihr verachteter, vestoßner Troß!"
    Begann er an dem Tor, dem schreckensvollen,
    "Woher die Frechheit, die hier überfloß?
  32. Was seid ihr widerspenstig jenem Wollen,
    Das nimmermehr sein Ziel verfehlen kann?
    Wird er die Qual, wie oft, euch mehren sollen?
  33. Was kämpft ihr gegen das Verhängnis an,
    Obwohl eu’r Zerberus, ihr mögt’s bedenken,
    Mit kahlem Kinn und Halse nur entrann?"
  34. Dann sah ich ihn zurück die Schritte lenken.
    Uns sagt’ er nichts, und achtlos ging er fort,
    Als müsst’ er ernst auf andre Sorgen denken,
  35. Als die um kleine Ding’ am nächsten Ort.
    Worauf wir beide nach der Festung schritten,
    Nun völlig sicher durch das heil’ge Wort.
  36. Auch ward der Eingang uns nicht mehr bestritten;
    Und ich, des Wunsches voll, mich umzusehn
    Nach dieser Stadt Verhältnis, Art und Sitten,
  37. Ließ, drinnen kaum, das Aug’ im Kreise gehn,
    Und rechts und links war weites Feld zu schauen,
    Von Martern voll und ungeheuren Weh’n.
  38. Gleichwie wo sich der Rhone Wogen stauen,
    Bei Arles, und bei Pola dort am Meer,
    Das Welschland schließt und netzt der Grenze Gauen,
  39. Grabhügel sind im Lande rings umher,
    Wo auf unebnem Grunde Tote modern;
    So hier, doch schreckte dieser Anblick mehr,
  40. Denn zwischen Gräbern sieht man Flammen lodern,
    Und alle sind so durch und durch entflammt,
    Daß keine Kunst mehr Stahl und Eisen fodern.
  41. Halboffen ihre Deckel allesamt,
    Und draus erklingen solche Klagetöne,
    Daß man erkennt, wer drinnen, sei verdammt.
  42. Und ich: Verkünde, Meister, wer sind jene,
    Die, hier begraben, sonder Ruh’ und Rast
    Vernehmen lassen solches Schmerzgestöhne?
  43. Und er: "Hauptketzer hält der Ort umfaßt,
    Und die den Sekten angehangen haben,
    In größrer Zahl, als du gerechnet hast-
  44. Denn Gleiche sind zu Gleichen hier begraben,
    Und mehr und minder glüht jedwedes Mal"–
    Er sprach’s, worauf wir rechtshin uns begaben,
  45. Fortschreitend zwischen hoher Mau’r und Qual.

 << zurück weiter >>