Dante Alighieri
Die Göttliche Komödie
Dante Alighieri

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Zweiter Gesang

  1. Sol war zum Horizont herabgestiegen,
    Des Mittagskreis, wo er am höchsten steht,
    Sieht unter sich die Feste Zions liegen.
  2. Nacht, welche sich ihm gegenüber dreht,
    War mit der Wag’ am Ganges vorgegangen,
    Die, wenn sie zunimmt, ihrer Hand entgeht.
  3. Drum hatten Eos weiß’ und rote Wangen
    Dort, wo ich war, weil ihre Jugend schwand,
    In hohem Gelb zu schimmern angefangen.
  4. Wir waren noch am niedern Meeresstrand,
    Und gingen, ob des fernen Wegs in Sorgen,
    Im Herzen fort, indes der Körper stand.
  5. Und wie in trüber Röte, wenn der Morgen
    Sich nähert, Mars, im Westen, nah dem Meer
    Sich zeigt, von dichten Dünsten fast verborgen,
  6. So sah ich jetzt ein Licht – o säh’ ich’s mehr!
    Und eilig, wie kein Vogel je geflogen,
    Glitt’s auf des Meeres glattem Spiegel her.
  7. Als ich von ihm die Augen abgezogen
    Ein wenig hatt’ und zu dem Führer sprach,
    Schien’s heller dann und größer ob den Wogen.
  8. Dann auf des Lichtes beiden Seiten brach
    Ein weißer Glanz hervor, und er entbrannte,
    Wie’s näher kam, von unten nach und nach.
  9. Mein Meister, der nach ihm sich schweigend wandte,
    Solang der Flügel erstes Weiß erschien,
    Rief, wie er nun den hehren Schiffer kannte:
  10. "O eile jetzt, o eile, hinzuknien!
    Sieh Gottes Engel! Falte deine Händel
    Nun siehst du solche Gottes Wink vollziehen.
  11. Sieh, er verschmäht, was Menschenwitz erfände.
    Nicht Segel, Ruder nicht – sein Flügelpaar
    Braucht er zur Fahrt ans ferneste Gelände.
  12. Sieh, wie’s gen Himmel strebt so schön und klar!
    Die Luft bewegt das ewige Gefieder,
    Das nicht sich ändert wie der Menschen Haar."
  13. Und wieder naht’ er sich indes und wieder
    In hellerm Glanz, daß näher solchen Schein
    Mein Auge nicht ertrug, drum schlug ich’s nieder.
  14. Und leicht und schnell sah ich durch ihn allein
    Das Schiff des Eilands niedern Strand gewinnen,
    Auch drückt’ es kaum die Spur den Fluten ein.
  15. Und als ein Sel’ger stand vor meinen Sinnen
    Am Hinterteil des Schiffes Steuermann,
    Und mehr als hundert Geister saßen drinnen.
  16. "Als aus Ägypten Israel entrann";
    Die Schar, gewiß, das Ufer zu erreichen,
    Fing diesen Psalm einstimm’gen Sanges an.
  17. Er macht’ auf sie des heil’gen Kreuzes Zeichen,
    Drum warf sich jeder hin am Meeresbord,
    Dann sah man ihn schnell, wie er kam, entweichen.
  18. Fremd schienen alle, welche blieben, dort,
    Und um sich blickend sah ich sie verweilen,
    Wie den, der Neues sieht am fremden Ort.
  19. Von allen Seiten schoß mit Feuerpfeilen
    Den Tag die Sonne, die vom Meridian
    Den Steinbock schon gezwungen, zu enteilen
  20. Da hoben, die wir eben kommen sahn,
    Nach uns die Stirn empor mit diesem Worte:
    "Zeigt uns, dafern ihr könnt, zum Berg die Bahn."
  21. Erwidert ward darauf von meinem Horte:
    "Wißt, wenn ihr wähnt, wir wüßten hier Bescheid;
    Wir sind so fremd wie ihr an diesem Orte.
  22. Denn kurz vorher, eh’ ihr gekommen seid,
    Sind auf so rauhem Weg wir angekommen,
    Daß hier zu klimmen Spiel, nicht Müh’ und Leid."
  23. Wie jene nun am Atmen wahrgenommen,
    Daß ich noch lebe, schienen sie bewegt,
    Ja, vor Erstaunen ängstlich und beklommen.
  24. Und wie dem Boten, der den Ölzweig trägt,
    Die Menge folgt, voll Neubegier sich pressend,
    Und Tritt’ und Stöße sonder Scheu erträgt,
  25. So drängten jetzt, mich mit den Augen messend,
    Zu mir die hochbeglückten Seelen sich,
    Beinah den Gang zur Reinigung vergessend.
  26. Hervor trat eine jetzt, so inniglich
    Mich zu umarmen, mit so holden Mienen,
    Daß mein Verlangen ganz dem ihren glich.
  27. Leere Schatten, die Gestalt nur schienen!
    Dreimal halt’ ich die Hände hinter ihr,
    Und dreimal kehrt’ ich zu der Brust mit ihnen.
  28. Das Antlitz, glaub’ ich, malt’ Erstaunen mir,
    Und jenen sah ich lächelnd rückwärts schweben,
    Doch folgt’ ich ihm mit liebender Begier.
  29. Und lieblich hört’ ich ihn die Stimm’ erheben:
    "Sei ruhig!" Da erkannt’ ich ihn und bat,
    Er möge weilen und mir Antwort geben.
  30. "Dich lieb’ ich," sprach er, als ich ihn genaht,
    "Wie einst im Leib, so jetzt der Haft entbunden,
    Drum weil’ ich – doch was gehst du diesen Pfad?"
  31. "O mein Casella, hier nur eingefunden
    Hab’ ich mich, um zur Welt zurückzugehn.
    Doch wie bist du beraubt so vieler Stunden?"
  32. Und er: "Drob ist kein Unrecht mir gescheh’n.
    Mußt’ er auch öfters mich zurückeweisen,
    Der mit sich fortnimmt, wann er will und wen.
  33. Denn sein Will’ ist nur der des Ewig-Weisen.
    Und seit drei Monden hat er gern gewährt,
    Wenn irgendwer verlangt hat, mitzureisen.
  34. Auch mich, der ich mich zu dem Strand gekehrt,
    Wo salzig wird der Tiber süße Welle,
    Empfing er liebevoll, da ich’s begehrt.
  35. Jetzt schwebt er wieder hin zu jener Stelle,
    Wo er vereint mit freudigem Empfang
    Die, so nicht Sünde stürzt zur Nacht der Hölle."
  36. Und ich: "Hat dir nicht jenen Liebessang,
    Den du geübt, ein neu Gesetz entrissen,
    Der öfters mir gestillt des Herzens Drang,
  37. So laß mich jetzt nicht seinen Trost vermissen;
    Denn meine Seele, die der Leib umflicht,
    Schwebt, da sie hier erscheint, in Kümmernissen."
  38. "Die Liebe, die zu mir im Herzen spricht
    Begann er jetzt, und ach, die süße Weise
    Verklingt noch jetzt in meinem Innern nicht.
  39. Mein Herr und ich, wir standen still im Kreise
    Der andern dort und alle so beglückt,
    Als kennten wir kein andres Ziel der Reise,
  40. Nur seinen Tönen horchend, hochentzückt.
    Da sieh bei uns den ehrenhaften Alten:
    "Was, träge Geister, ist’s, das euch berückt?
  41. Nachlässige, so lang’ euch aufzuhalten!
    Zum Berg hin, wo man frei der Hüllen wird,
    Die Gottes Anblick noch euch vorenthalten!
  42. Wie wenn, von Weizen oder Lolch gekirrt,
    Die Tauben still im Stoppelfelde schmausen
    Und keine mehr umherstolziert und girrt,
  43. Dann aber, wenn erscheint, wovor sie grausen,
    Sie alle jäh, mit größrer Sorg’ im Sinn,
    Von ihrer Weid’ empor im Fluge brausen;
  44. So lief die Schar der Seelen jetzt dahin,
    Vom Sange fort, zum Berge sonder Weile,
    Wie wer da läuft, allein nicht weiß wohin;
  45. Wir aber folgten mit nicht mindrer Eile.

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