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Elftes Kapitel

Der 24. März 1817 war gekommen. Ein leichter Regen fiel über Juan-Fernandez, ein Vorbote des kommenden Winters mit seinen strömenden Regenmassen. Die Gefangenen waren in ihren Hütten, da das Wetter zum Spazierengehen wenig einladend war.

Auch Don Enrique Rosales befand sich mit seiner Tochter in seiner Behausung, die Rosario in ihrer Art zu verschönern gesucht hatte, soweit sie selbst es eben vermochte. An den Bretterwänden hatte sie einzelne Palmenwedel befestigt, aus deren Grün Bilder von Heiligen hervorlugten; die Kahlheit der Wände wurde auf diese Weise etwas gemildert. Sauberkeit herrschte in dem kleinen Raume, dessen frisch aufgewühlter Boden allerdings die nächtliche Tätigkeit der Ratten verriet. Rosario war, wie alle Tage, zuerst damit beschäftigt, diese Spuren zu verwischen, den Boden wieder einigermaßen festzutreten. Nachdem dies geschehen war, breitete sie einen alten Teppich, der ihr bei Nacht als Bettdecke diente, auf dem Boden gegen die offene Tür hin aus und begann darauf ihren sehr dürftigen Vorrat an Kleidern einer Untersuchung zu unterziehen. Seufzend betrachtete das Mädchen die Reste ehemaliger Schönheit, und mit stillem Kummer dachte sie an die nicht mehr ferne Zeit, wo die letzten noch anständigen Kleidungsstücke aufgebraucht sein würden. Der Vater schlief noch oder schien es zu tun. Still, wie tot, lag der Greis auf seinem Lager; nur sein leises Atmen verriet der Tochter, daß er wirklich noch lebe. Mit liebevollen Blicken betrachtete Rosario den Vater während einiger Augenblicke, dann aber machte sie sich mit Eifer an die Arbeit des Flickens.

So war eine Stunde vergangen. Draußen hatte der Regen nachgelassen, und die Sonne machte schüchterne Versuche, durch den trüben Wolkenschleier zu dringen. Über die nahe Bucht her rollte plötzlich der Donner eines Kanonenschusses. Was war geschehen?

Erschrocken fuhr Rosario zusammen, und auch der Vater erwachte aus seiner Teilnahmslosigkeit. »Sieh nach, was los ist, mein Kind!« bat er. »Dieser Schuß muß einen Grund haben, vielleicht ist ein Schiff in Gefahr.«

Rosario legte ihre Arbeit nieder und eilte hinaus nach dem Strande, an dem sich schon eine Anzahl ihrer Unglücksgenossen befand.

Don Blanco gesellte sich zu dem Mädchen. »Da draußen liegt, wie Ihr seht, ein Schiff. Seine Flagge kann ich nicht erkennen. Von diesem aus wurde der Schuß abgefeuert, der uns alle in Aufregung versetzte«, erklärte er. »Was mich aber am meisten wundert, ist, daß unsere Besatzung auf das Zeichen von außen nicht antwortet.«

»Das ist allerdings sehr sonderbar«, antwortete Rosario. »Aber hier kommt ein Boot! Was es wohl bringt?«

»Wahrhaftig, Ihr habt recht! Bald ist es oben auf den Wogenkämmen, bald unten in den Wellentälern; man wäre versucht, zu glauben, es sei nur ein kleines Stück Holz, das das Meer ans Land treibt.«

Eine große Aufregung bemächtigte sich der Zuschauer, als sie beim Näherkommen des Bootes bemerkten, daß in diesem ein Mann in der vollen Uniform eines spanischen Offiziers am Steuer saß, während zwei Matrosen die Ruder führten. Endlich hatte sich der Kahn glücklich durch die Brandung hindurchgearbeitet; eine kräftige Welle warf das Schiff weit hinauf auf das sandige Ufer. Der Offizier sprang heraus, und die beiden Matrosen zogen das Boot aus dem Bereiche der Wellen. Höflich grüßend trat er auf die Gruppe der Zuschauer zu. »Ich wünsche den Statthalter, Don Anjel de Cid, zu sprechen«, redete er die Leute an.

Einige herbeigeeilte Soldaten erfüllten den Wunsch des Offiziers und geleiteten ihn unter tiefer Ehrenbezeugung in das Haus des Statthalters. Die beiden Matrosen, die ihn ans Land gebracht hatten, nahm der Offizier mit sich.

Dies war ein schwerer Schlag für die Neugierde der Zuschauer, die gar zu gerne möglichst rasch das Woher und Warum des auffallenden Besuches erfahren hätten. Einige der Neugierigsten, die den kleinen Zug bis zum Hause des Statthalters begleitet hatten, wußten zu berichten, daß Don Anjel de Cid, der aus dem Hause getreten sei, als der Besuch angemeldet wurde, sich über diesen sichtbar erschrocken gezeigt habe. Der fremde Offizier müsse ein Bekannter des Statthalters sein, denn letzterer habe ihn sofort als »Oberst« angeredet. Daraufhin seien die Herren und die zwei Matrosen sofort ins Haus gegangen, dessen Türe hinter sich fest verschließend. Mit Staunen vernahmen die Zuhörer diesen Bericht. Das einstimmige Urteil war, daß in der Welt draußen etwas vorgegangen sein müsse, das mit diesem geheimnisvollen Besuche in Verbindung stehe.

Rosario hatte ihrem Vater alles erzählt, was sie selbst gehört und gesehen. Der Greis richtete sich auf. »Das geht uns an, mein Kind«, rief er mit plötzlich erwachter Lebhaftigkeit. »Die Stunde der Befreiung naht!«

»O Gott, wäre dies möglich?« entgegnete Rosario halb zweifelnd, halb gläubig.

Da stürzte Don Blanco in die Hütte. »Ich hab's, ich hab's entdeckt!« schrie er wie toll vor Freude.

»Was denn?« fragten Vater und Tochter zugleich.

»Ich hab's entdeckt! Das Schiff führt die argentinische Flagge. Das ist auch der Grund, warum sich unsere Wächter von Anfang an so auffallend ruhig verhielten. Wir werden befreit! Ich wollte es euch zuerst wissen lassen. Nun schnell zu den andern!«

Damit sprang Encalada zur Türe hinaus und eilte weiter. Rosario war auf ihren Vater zugestürzt; Vater und Kinder hielten sich weinend vor Glück und Freude lange umschlossen. Endlich löste sich Rosario aus den Armen des Vaters. »Und wenn sich Encalada getäuscht hat? Wenn es keine Befreiung gibt? Wenn der Statthalter sich gegen diese auflehnt? O Gott, ich ertrüge es nicht!«

»Sei ruhig, mein Kind! Wäre es ein feindliches, ein spanisches Schiff, das da draußen im Meere liegt, so wäre nicht ein einzelner Offizier ans Land gekommen. Nein, gerade dieser sonderbare und auffallende Besuch zeigt mir, daß es ein Unterhändler ist trotz seiner spanischen Uniform. Ich will mich nun erheben, denn ich ahne, daß uns diesen Morgen noch Wichtiges bevorsteht. Geh du inzwischen wieder an den Strand! Vielleicht kannst du dich dort durch eigene Beobachtung vom letzten Zweifel befreien.«

Eine mächtige Bewegung hatte alle Verbannten erfaßt; wer nicht ans Bett gefesselt war, war ins Freie geeilt. Bei einem zufälligen Blick auf den steilen, bislang unzugänglich gehaltenen hohen Felsen, der die kleine Kolonie gegen die Bucht hin begrenzte, sah Rosario einen Mann oben stehen; ihre scharfen Augen entdeckten sofort, daß es Encalada war, der da oben Ausschau hielt. Im ersten Augenblick war sie wie gelähmt vor Schrecken über diese Tollkühnheit des Jünglings; ihre Füße zitterten, und sie vermochte sich nicht mehr weiterzubewegen. Dann aber löste sich ein solch lauter Angstruf aus ihrer Kehle, daß dieser bis hinauf zu dem waghalsigen Kletterer drang.

Als Encalada den Schrei Rosarios vernahm, verließ er sofort seinen gefährlichen Platz, rutschte vorsichtig an dem Felsen herunter und eilte auf das Mädchen zu. »Habe ich Euch so erschreckt, Rosario, daß Ihr meinetwegen einen solchen Angstschrei ausgestoßen habt?« fragte Don Blanco besorgt.

»Wie konntet Ihr um Gottes und aller Heiligen willen auf diesen Felsen klettern und Euer Leben dem fast sichern Absturz aussetzen?« gab Rosario vorwurfsvoll zur Antwort.

»Ich war schon einmal oben und hatte mir genau die Stellen gemerkt, wo der Fuß beim Aufstieg Halt findet; nur dadurch war es mir auch möglich, die Flagge des Schiffes unzweideutig ohne Glas zu erkennen. Ihr seid mir doch nicht böse?«

»Nein, dem Himmel sei Dank, daß Ihr wieder glücklich unten seid! Aber versprecht mir, nicht mehr hinaufzusteigen!« bat Rosario, mit einem innigen Blick, der ihre tiefe Liebe verriet, zu Don Blanco aufsehend.

»Das verspreche ich«, entgegnete dieser, beglückt durch die Sorge des Mädchens um sein Wohl. »Übrigens habe ich die Besteigung nicht mehr nötig; es ist so, wie ich Euch schon mitteilte: es ist ein argentinisches Schiff. Wir werden befreit, und dann«, fügte der junge Mann leise, nur Rosario verständlich, hinzu, »dann kommt die Zeit des Glückes für uns, nicht wahr?«

Sie waren unterdessen zur Hauptgruppe ihrer Genossen gestoßen, die sich in Erwartung der Dinge auf dem Platze vor dem Hause des Statthalters versammelt hatten. Die spanischen Soldaten, die die geringe Garnison von Juan-Fernandez bildeten, standen faulenzend auf dem Platze herum. Auch diesen rohen Gesellen kam das unvermittelte Erscheinen eines hohen Vorgesetzten, ohne daß sie selbst deshalb irgendwie zu einer Dienstleistung befohlen wurden, höchst sonderbar und verdächtig vor; außerdem galt es auch, ihre eigene Neugierde zu befriedigen, die zu stillen auf der Insel sowieso wenig Gelegenheit geboten war.

Das Gewirr der Stimmen verstummte plötzlich, als die Tür des Hauses sich öffnete und der Statthalter mit seinem Besuche auf die Veranda heraustrat. »Es ist gut, daß Ihr schon versammelt seid, Leute«, rief der Statthalter mit lauter Stimme; »so bin ich der Mühe enthoben, euch erst hierher bestellen zu müssen. Hört, was ich euch zu verkünden habe! Das Schiff, das da draußen ankert, segelt unter Farben, die meine Regierung zwar noch nicht anerkannt, die aber ich selbst augenblicklich achten muß; es ist die Flagge der Argentiner. Diese im Bunde mit den chilenischen Aufständischen, haben bei Chacabuco letzten Monat das königlich spanische Heer besiegt.« »Viva, Chile, viva!« brauste es da in die Rede Don Anjels de Cid.

»Das könnt ihr später rufen; jetzt im Augenblick verlange ich ruhige Zuhörer«, verwies scharfen Tones der Statthalter die Freudenäußerung. »Noch steht ihr unter spanischem Gesetz. Dieser Offizier hier, Oberst Cacho« – Don Anjel deutete mit der Hand auf seinen Besucher – »hat mir die Nachricht des Mißgeschicks überbracht, das Spaniens Krone betroffen hat. Er selbst wurde in der Schlacht bei Chacabuco von den Aufständischen gefangen genommen und ist auf sein Ehrenwort hin, die Botschaft hierherzubringen und eure sofortige Freilassung zu veranlassen, als Abgesandter des Siegers gekommen. Ich weiche der Gewalt, da meinerseits ein Widerstand gegen die neue Lage der Dinge zwecklos wäre und meinem Lande doch keinen Nutzen brächte. Macht euch also bereit zur Rückbeförderung nach Valparaiso! Noch heute mittag werdet ihr eingeschifft.«

»Viva Chile! Vivan los Patriotas!« tönte es wieder, als Don Anjel geendet hatte und in sein Haus zurückgegangen war. Dann aber umarmten sich die nun so unerwartet wieder ins Glück versetzten Menschen, und diese Gelegenheit ließ sich auch Encalada nicht entgehen; er drückte Rosario ans Herz und küßte sie wiederholt. »Auf dem Schiffe halte ich beim Vater um deine Hand an, Geliebte«, flüsterte er dem erglühenden Mädchen ins Ohr. »Nun aber wollen wir uns sputen und alles zur Heimreise bereit machen.« –

Am Abend des ereignisreichen Tages verließ die Aquila mit den Befreiten an Bord die Insel Juan-Fernandez, um nach Valparaiso zu segeln, das am Nachmittag des 31. März in Sicht kam. Ein glückliches Brautpaar führte das Schiff mit sich: Don Manuel Blanco Encalada und Señorita Rosario Rosales. Mit Freuden hatte Don Juan Enrique Rosales die Einwilligung zur Verlobung seiner einzigen Tochter mit dem wackeren jungen Manne, dem eine vielversprechende Zukunft in der Heimat winkte, gegeben und nur die Bedingung daran geknüpft, daß die eheliche Verbindung erst nach der völligen Befreiung Chiles vom spanischen Joche stattfinde. Diese Bedingung zu erfüllen, versprach Blanco Encalada.

Während der Heimreise erfuhren die Chilenen vom Schiffskapitän Don Raimundo Morris noch wichtige Einzelheiten über die Schlacht bei Chacabuco und die Art und Weise ihrer so raschen Befreiung. Morris hatte als Offizier im Heere der Aufständischen, zu denen er im letzten Augenblicke noch mit Hilfstruppen gestoßen war, in der Schlacht mitgekämpft. Nachdem die Gegner geschlagen und viele von ihnen gefangen genommen waren, vernahmen die Sieger von einigen der vornehmen Gefangenen, daß von spanischer Seite ein Überfall auf Juan-Fernandez geplant sei, um sich der auf der Insel festgehaltenen chilenischen Vaterlandsfreunde, der eigentlichen Häupter der in Fluß gekommenen Bewegung, zu bemächtigen und sie alle erschießen zu lassen. Um diesem Schlage zuvorzukommen, wurde Morris als ehemaliger Marineoffizier sofort mit dem gefangenen Oberst Cacho nach Valparaiso gesandt, von wo aus er mit dem dort vor Anker liegenden argentinischen Kriegsschiffe Aquila umgehend nach Juan-Fernandez absegelte. Oberst Cacho selbst hatte lediglich als Parlamentär zu dienen.

Auf die von Rosales an Morris gestellten Fragen nach seinem Sohne Joaquin konnte der Kapitän nur ungenügende Auskunft geben. Soviel ihm bekannt, sei ein gewisser Rosales als Offizier im Heere der Argentiner gewesen und habe sich durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet; welchen Vornamen der Offizier aber trage, sei ihm unbekannt. Die Hauptberuhigung für Rosales und seine Tochter jedoch war, daß Morris ihnen versichern konnte, daß unter den vielen in der Schlacht bei Chacabuco gefallenen Offizieren keiner gewesen sei, der ihren Namen getragen habe.


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