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Neuntes Kapitel

»Bangt Ihr nicht auch ein wenig um Euch selbst, Don Felipe?« fragte Joaquin, als er mit seinem Gastfreunde am andern Morgen dem Corral zuschritt, um die Pferde zu holen.

»Durchaus nicht, wenn auch bei der gegenwärtigen Schreckensherrschaft alles möglich ist«, entgegnete Don Felipe. »Meine Frau verzehrt sich oft in Angst. Sollte aber irgend etwas gegen mich unternommen werden, so bricht hier in der ganzen Gegend sofort ein Aufstand aus. Wir Haziendados haben – ich will Euch das als Zeichen meines großen Vertrauens in Eure Ehrenhaftigkeit offenbaren – einen Geheimbund geschlossen, kraft dessen einer dem andern im Falle eines Angriffes beisteht. Können wir auch einstweilen noch nicht gegen regelrechte Truppenmassen ankämpfen, so vermögen wir doch in den Küstenkordilleren den Kleinkrieg zu führen und die Verbindung Santiagos mit Valparaiso bedenklich zu unterbrechen. Erst die Aushebung der Patrioten in Santiago hat in den letzten Tagen diesen Zusammenschluß fertig gebracht. Wir warten nur auf ein Zeichen aus der Hauptstadt, auf das Erscheinen von Hilfstruppen von jenseits der Kordilleren – und das Ende der spanischen Herrschaft in Chile beginnt. Deshalb riet ich Euch schon gestern, im Falle irgendeiner Gefahr nach La Plata hinüberzueilen; denn nur von dort können wir die Hilfe erwarten, durch die wir stark genug werden, das spanische Joch abzuschütteln.«

»Ich danke Euch und werde Euren Rat, wenn nötig, befolgen.«

»Tut das, mein Freund!«

Inzwischen hatten die Männer die Pferde gesattelt und führten sie aus der Besitzung hinaus, der Straße zu. Voller Mondschein lag noch auf der Landschaft.

»Es ist erst vier Uhr. Ihr werdet heute abend zu Hause sein. Habt Ihr Waffen? Wer weiß, ob Ihr solche nicht bald brauchen könnt!«

Lächelnd zeigte Joaquin auf das Paket, das am Sattel seines Pferdes hing.

»Hier habe ich zwei Pistolen nebst Munition. Garcia hat sie mir geschenkt.«

»Das ist gut. Ja, ja«, meinte Don Felipe lachend, »dieser Garcia ist ein Teufelskerl von einem Schmuggler, übrigens ein zuverlässiger Vaterlandsfreund. Er hat uns allen in der hiesigen Gegend schon mancherlei geliefert, was die hohe Weisheit der Herren Machthaber einzuführen verbot. – Doch nun reist mit Gott!« Don Felipe umarmte Joaquin.

Dieser stieg auf, spornte sein Pferd und befand sich wenige Augenblicke später auf der Straße nach Santiago. Das zweite Pferd galoppierte ungeführt neben dem seinen. Don Felipe hatte auf den leeren Sattel ein kleines Bündel geschnürt, das Mundvorrat enthielt. Mit Rührung dachte der junge Mann an die ihm von der Familie erwiesene Freundschaft und Fürsorge. Dann aber flogen seine Gedanken hinaus in die Ferne. Da draußen, wo der Pazifik wogte, schwamm das Schiff, das ihm Vater und Schwester, die teuersten Menschen forttrug auf eine entlegene Insel im Ozean. Wie lange wohl diese Verbannung währen mochte? Ob der Vater, die Schwester die ungewohnten Entbehrungen jahrelang aushielten? Wann, ja wann endlich würde die Stunde der Befreiung schlagen? Wann würde er die Seinen wiedersehen und umarmen dürfen? Joaquin war es in diesen letzten Tagen klar geworden, daß die spanische Herrschaft bei der allgemein herrschenden Erbitterung sich nur noch eine kurz bemessene Frist halten könne. Diese Gewißheit ließ ihn den Heimweg leichteren Herzens antreten, als er zuerst selbst geglaubt. Er hatte Freunde gefunden, wo er sie gar nicht vermutet, Hilfe und Unterstützung, wie er sie in diesem Umfange nicht erwartet hatte. Das hob seinen gesunkenen Mut und ließ ihn hoffnungsvoller in die Zukunft blicken.

Es litt ihn nicht mehr auf seinem Pferde, er mußte absteigen und beten. Die Sonne war aufgegangen und goß ihr strahlendes Licht über das Land. Erhabene, feierliche Stille herrschte ringsum. Der junge Mann kniete nieder auf den sandigen Boden, dankte Gott in inbrünstigem Gebete für seine Güte und bat ihn und die heilige Jungfrau um weiteren Schutz für sich und die Seinen.

Gegen Abend erreichte er die Höhe von Montenegro. An demselben Platze, an dem er sechs Tage zuvor mit der nun fernen Schwester gerastet hatte, stieg er ab, um sich und den Pferden die nötige Ruhe zu gönnen. Mit Wehmut dachte er an den Abend, an dem er hier mit Rosario gesessen hatte. Wieder lag da drüben Santiago, vergoldet von den Strahlen der untergehenden Sonne. Scharf, trotzig und stolz begrenzten die Hochkordilleren das weite Tal. Wohin Joaquin sah, atmete alles Frieden und Ruhe. Und doch, wie viel Unruhe, wie viel gestörten Frieden bergen viele der Häuser in jener großen Stadt! dachte er. Wie trügerisch ist diese äußere Ruhe! Von ferne betrachtet, da nimmt sich wohl alles schön aus; in der Nähe erst sieht man die große Täuschung. Was mag inzwischen zu Hause vorgekommen sein? Bald werde ich es erfahren. Sicher aber ist das eine, daß ich als Sohn meines Vaters nicht lange untätig zu Hause sitzen darf. Rosario hat mir gezeigt, daß man kann, was man ernstlich will. Sie ist beim Vater – und ich? Auch ich muß etwas tun, aber was? Noch weiß ich es nicht, noch warte ich auf den erleuchtenden Gedanken.

Das einfache Mahl, bestehend aus den Resten der ihm von Don Felipe mitgegebenen Lebensmittel, hatte Joaquin herrlich gemundet. Frisch gestärkt erhob er sich, holte seine in nächster Nähe ruhig grasenden Pferde, bestieg das eine und trabte nun Santiago zu. Unterwegs beschloß er, lieber nicht unmittelbar nach Hause, sondern zunächst nach der Vorstadt Providencia zu reiten, dort bei Alvarez einzukehren, die ihm von diesem anvertrauten Pferde zurückzugeben und, falls bis dahin die Zeit schon zu weit vorgeschritten sein sollte, die Nacht bei dem bewährten Freunde seiner Familie zu verbringen und erst mit Anbruch des neuen Tages in das väterliche Haus zurückzukehren. Maria wußte sowieso nichts von seiner Rückkehr und würde sich zweifellos sehr ängstigen, wenn sie tief in der Nacht aus ihrer Ruhe aufgeschreckt würde.

Bei diesen Gedanken bog Joaquin vom Hauptwege ab, ließ Santiago zur Linken liegen und wandte sich in einem großen Bogen der Vorstadt Providencia zu. Der junge Mann fühlte die Ermüdung, die Folge des langen Rittes, je mehr er sich seinem Bestimmungsorte näherte. Volle sechzehn Stunden saß er schon im Sattel. Nur dadurch, daß er zwei gute Pferde hatte, die er abwechselnd benützen konnte, war es ihm möglich gewesen, die bedeutende Entfernung von Don Felipes Hazienda bis zur Hauptstadt, aufwärts durch gebirgiges Land, in einem Tage zurückzulegen. Die Glieder fingen an zu schmerzen, und Joaquin sehnte sich danach, aus dem Sattel zu kommen. Nur die Pferde trabten noch munter ihres Weges; es war, als ob sie die Nähe des Stalles und frisches, gutes Futter witterten.

Es dunkelte schon stark, als die ersten Häuser von Providencia auftauchten. Da und dort schimmerte Licht aus den Fenstern; Hunde schlugen an, wenn sich der Reiter einer menschlichen Behausung näherte. Leute, die vor ihren Hütten saßen, schauten verwundert auf den Mann, dem treulich, wie ein Hund, in unmittelbarer Nähe ein zweites Pferd folgte. In der Dunkelheit war Joaquin, der in dieser Gegend mancherlei Bekannte besaß, nicht zu erkennen. Endlich, gegen neun Uhr, ritt er in den großen Hof ein, der sich vor dem Hause seines väterlichen Freundes ausbreitete. Einige Burschen, die in den Stallungen seitlich vom Hofe noch tätig waren, eilten auf das Pferdegetrappel hin herbei. Im Scheine ihrer Laternen stieg Joaquin mit einem Seufzer der Erleichterung ab.

»Ist Don Ramon zu Hause, Diego?« fragte er einen der Diener, einen alten Mann, der sich schon seit vielen Jahren auf Alvarez' Gute befand.

»Ja, Herr.«

»Gut, so bring mir mein Gepäck ins Haus!« Damit wandte sich Joaquin der Türe zu.

Der nahezu achtzigjährige Greis war noch auf. Er saß in einem großen Lehnstuhle an einem Tische. Einige Kerzen in silbernen Leuchtern standen vor ihm und erhellten das einfache, aber geschmackvoll ausgestattete Gemach. Den Kopf auf die rechte Hand gestützt, las Don Ramon in einem Buche. Da klopfte es an der Türe, und nach der Aufforderung zum Eintritt erschien Don Joaquin in ihrem Rahmen.

»Ach, du bist es!« rief der Greis freudig bewegt, als er den Kopf wandte und den jungen Mann ehrerbietig auf der Türschwelle stehen sah. »Tritt näher, Joaquin, und sei herzlich willkommen!«

Der Jüngling eilte auf den ehrwürdigen Mann zu und küßte die Hände, die ihm dieser zum Gruße gereicht.

»Zunächst kein Wort der Erzählung, mein lieber Sohn!« sagte Don Ramon, als Joaquin sprechen wollte. »Ich sehe es dir und deiner Kleidung an, daß du einen schweren Ritt hinter dir hast; da mußt du dich erst stärken, erst essen und trinken.« Er läutete mit einer kleinen Handglocke, die sich neben dem Leuchter befand, und befahl dem herbeieilenden Diener, ein Abendbrot für Don Joaquin aufzutragen. Dieser kannte die Art Don Ramons zu gut, um irgendwelche Einsprache zu erheben. So saß er still da, bis das Essen gebracht wurde.

Während er den Speisen kräftig zusprach, ruhten des Alten Blicke mit Wohlgefallen auf seiner jugendschönen Gestalt. Wie er seinem Vater gleicht! dachte Don Ramon. Er ist das verjüngte Ebenbild meines guten Freundes. So hat Juan vor vierzig Jahren ausgesehen. Armer Mann und Vater! Wie es ihm gehen mag? Und wo Rosario weilt? Doch Joaquin wird mir alles erzählen. »Vergiß den Wein nicht, mein Sohn!« munterte er seinen jungen Gast auf. »Trink! Das spült den Staub hinunter und löst dir die Zunge. Ich denke, die hast du nachher gehörig zu brauchen, bis du mir alle Einzelheiten deiner Reise nach Valparaiso erzählt hast.«

Dann lauschte Don Ramon aufmerksam dem langen Berichte Joaquins, ihn mit keinem Worte unterbrechend. Als der junge Mann geendet hatte, stand der Greis auf und durchmaß erregt das Zimmer. »Du hast mir so viel gesagt, Joaquin, daß ich das Gehörte erst noch einmal ruhig an meinem Geiste vorüberziehen lassen muß. Eines steht fest: Rosario ist ein Heldenmädchen, und dein Vater ist um eine solche Tochter zu beneiden. Eure Reise hat also doch Erfolg gehabt. Und endlicher Erfolg wird auch deiner Familie wieder blühen. Nun aber, mein lieber Sohn, ruhe dich aus! Es geht auf Mitternacht. Unser Gastzimmer ist immer für einen Besuch bereit. Du weißt ja, wo es ist. Ziehe dich also zurück! Nimm hier einen Leuchter mit und schlafe gut im Bewußtsein, daß du deine Sohnes- und Bruderpflicht erfüllt hast!« Herzlich drückte der Greis des Jünglings Hand, und bald darauf herrschte tiefe Ruhe im Hause. –

Am folgenden Tage ging es schon gegen Mittag, ohne daß Joaquin sich gezeigt hätte. Schon mehrere male war der alte Herr im Zimmer seines Gastes gewesen; aber dieser schlief so fest und tief, daß ihn Don Ramon nicht wecken mochte. Nun mußte es aber doch geschehen. Er hatte von seinem Diener Diego, der soeben aus der Hauptstadt zurückgekehrt war, wo er einige Aufträge zu besorgen gehabt, erfahren, daß gestern in später Abendstunde eine Durchsuchung des Rosalesschen Hauses stattgefunden habe, zweifellos auf Befehl Osorios; zu welchem Zwecke, konnte Diego nicht in Erfahrung bringen. Da war der alte Diener, ein kluger Kopf, in das Rosalessche Haus gegangen, um zu hören, was an der Geschichte wahr sei.

Leider bestätigte ihm Maria das bedenkliche Vorkommnis in allen Punkten. Nachdem die alte Dienerin das heilige Versprechen gegeben hatte, nichts verraten zu wollen, berichtete ihr Diego, daß der junge Herr gestern in später Abendstunde allein, ohne die Schwester, in Providencia angelangt sei. Da beschwor sie Diego, Don Joaquin zu bitten, um aller Heiligen willen auf seiner Hut zu sein und sich einstweilen lieber bei Don Ramon verborgen zu halten, bis keine Gefahr mehr für ihn vorhanden sei.

»Glückliche Jugend, wie sorglos bist du!« sprach der Greis leise vor sich hin, während er seinen Gast zu wecken versuchte. »Da liegt er nun, der brave Mensch, so ruhig und friedlich, als ob es kein Leid in dieser Welt gäbe, ohne Ahnung, daß sich vielleicht schon die Hand des Henkers nach ihm ausstreckt.«

Joaquin dehnte und reckte sich, rieb die Augen und gähnte ein paarmal tief auf. Als er seinen väterlichen Freund und Gönner an seinem Bette stehend erblickte, richtete er sich rasch auf und reichte ihm die Hand zum Gruße.

»Das nenne ich lange schlafen«, sagte der Greis lächelnd; »es ist bald Zeit zum Mittagessen.«

»Ich beeile mich, aufzustehen.«

»Bleibe nur, Joaquin! Ich muß dir erst einiges mitteilen.« Don Ramon setzte sich auf den Rand des Bettes und berichtete dem erstaunt Lauschenden, was er soeben von Diego gehört hatte.

»Also doch!« erwiderte Joaquin. »Wie recht hat Don Felipe gehabt, und welch eine Fügung Gottes, daß ich gestern nicht, wie ich es zuerst beabsichtigte, unmittelbar nach Hause ritt!«

»Ja, Gottes Wege sind wunderbar«, bestätigte der Greis. »Es wird wohl das beste sein«, fügte er hinzu, »du bleibst hier bei mir, bis wir wissen, woran wir sind.«

»Nein, edler Freund«, lehnte Joaquin voll Eifer ab. »Nein, nie und nimmer soll meinetwegen Ungemach auf Euch und Euer Haus gebracht werden! Ich weiß nun, was ich tun muß. Diese neue Haussuchung hat mir plötzlich die Augen geöffnet und mir gezeigt, was ich von Osorio und seinen Anhängern zu gewärtigen habe, wenn ich im Lande bleibe. Hört, Don Ramon!« Und nun gab Joaquin dem alten Herrn die Unterredung bekannt, die er mit Don Felipe Echauren hatte, und erwähnte die ihm von diesem nach La Plata mitgegebenen Briefe. »So will ich über die Kordilleren, und zwar sofort«, schloß Joaquin.

»Mir scheint hier ein Wink des Schicksals vorzuliegen«, antwortete Don Ramon nach kurzer Pause. »Ich will dich nicht halten, dich nicht weiter beeinflussen. Drüben bei unsern Brüdern jenseits der Berge winkt dir ein tatenreiches Leben; von dort aus wird auch die Befreiung unseres Landes erfolgen, das ahnen wir alle. Hier läufst du zu sehr Gefahr, dein Leben nutz- und zwecklos hinter Kerkermauern verbringen zu müssen. Zieh also mit Gott, Joaquin! Mein bestes Pferd sollst du mitbekommen, und an Geld, was ich gerade noch im Hause habe. Damit kannst du dir überall beschaffen, was du benötigst. Auf euer Haus in Santiago werde ich während deiner Abwesenheit achten. Und nun, mein Sohn, spute dich!«

Don Roman verließ das Zimmer und traf sofort alle Anordnungen für Joaquins Abreise. Eine Stunde später ritt der junge Mann nach innigem Abschiede von seinem väterlichen Freunde auf der Straße nach Süden, dem Maipotale zu, um über den Portillopaß, der das Tal abschließt, nach La Plata zu gelangen.


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