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Drittes Kapitel

Aus den verstörten Mienen Rosarios konnte Joaquin sofort die Ergebnislosigkeit des Besuches der Schwester bei dem Tyrannen ersehen. Voll brüderlichen Mitgefühls legte er den Arm um die zarte Gestalt und führte sie langsamen Schrittes nach Hause. Kein Wort wechselten die Geschwister unterwegs miteinander. Joaquin wollte den ihm heiligen Schmerz der Schwester nicht durch nüchterne Worte stören, und Rosario selbst erschien in diesem Augenblicke ihr Leid noch so unfaßbar groß, daß sie ihm keinen Ausdruck hätte verleihen können.

Maria brach in lautes Klagen aus, als sie, die Haustüre öffnend, in die schmerzentstellten Züge ihres Lieblings sah. Doch wie ein Wunder wirkte das laute Jammern der alten Dienerin auf Rosario; das Mädchen machte sich sanft vom Arme des Bruders los und richtete sich plötzlich, zum Staunen Joaquins wie Marias, mit rascher Bewegung auf. »Wir haben jetzt keine Zeit zu weiteren Klagen«, sagte sie. »Beruhigt euch, so schwer es euch auch wird! Jetzt heißt es handeln, und zwar so rasch wie möglich.«

»Was aber können wir tun?« fragte Joaquin, als seine Schwester sich auf einen Stuhl im Hausgange niedergelassen hatte.

»Wir müssen dem Vater nacheilen.«

»O Kind, das ist ebenso nutzloses Unternehmen wie dein Besuch bei Osorio!«

»Das mag sein, aber wir müssen alles versuchen, was in unsern Kräften steht«, erklärte Rosario.

»In unseren Kräften? O liebste Rosario, ich will zwar das ausführen, was du eben gesagt hast, ich will dem Zug der Gefangenen nacheilen, ich will ...«

»Du nur, du allein?« unterbrach die Schwester den Bruder.

»Ja, ich allein. Deine Kräfte sind erschöpft, du bist ein Mädchen. Bedenke, daß wir zu Pferde reisen müßten!«

»Gott gibt mir die Kraft, alles zu ertragen, um mein Ziel zu erreichen, glaube es mir, Joaquin! Ich gehe mit dir! Kann ich denn nicht auch reiten?«

»Das wohl. Aber bedenke den langen Weg von hier bis Valparaiso!«

»Ich werde ihn überwinden. O Joaquin, der Wille, zum Vater zu gelangen, ihn womöglich zu befreien oder, wenn dies nicht gelingt, sein Los mit ihm zu teilen, dieser Wille wird mir Kräfte verleihen, wird mich alle Schwierigkeiten besiegen lassen!«

»Du traust dir zu viel zu, Rosario.«

»So machen wir wenigstens den Versuch! Besser noch, unterwegs zu sterben, als sich hier langsam in der Ungewißheit über das Schicksal unseres guten Vaters aufzuzehren.«

»Gegen deinen Willen ist schwer aufzukommen«, erwiderte Joaquin traurig. »Sei es also! Ich füge mich auch diesmal wieder deinem Wunsche.«

»Du guter Bruder! Ich wußte es ja, daß du mir alles zuliebe tun würdest.«

»Aber Maria bleibt während unserer Abwesenheit hier«, entschied Joaquin nach kurzem Nachdenken. »Sie muß das Haus hüten bis zu unserer Rückkehr.«

»Gewiß«, beeilte sich Rosario zu sagen, »die gute Alte könnte uns ja auf unserer Reise ins Ungewisse nichts nützen.«

»Nimm mit, was du benötigst, Rosario! Ich denke, wir müssen so rasch wie möglich aufbrechen. Inzwischen will ich für Pferde besorgt sein.«

Damit ging der Bruder, und Rosario, erregt durch die Aussicht, dem Vater bald nacheilen zu dürfen, hatte mit Maria, die, still weinend über die bevorstehende Trennung, alles herbeibrachte, was ihre junge Herrin verlangte, das Notwendigste rasch besorgt. Einige unentbehrliche Kleidungsstücke und Wäsche für den Vater vergaß die besorgte Tochter ebensowenig einzupacken wie Geld, soweit es im Hause vorhanden war.

Der Ungeduld des Mädchens erschien die Abwesenheit des Bruders doppelt lange. Wie oft war sie nun schon durch alle die trauten Räume des Hauses geeilt, um nachzusehen, ob sie nicht noch da und dort etwas mitnehmen könnte, das sie in ihrer Eile etwa übersehen hätte! Aber alles war geordnet. Maria hatte ihre Verhaltungsmaßregeln für die Dauer der Abwesenheit ihrer Herrschaft schon mehrmals vernommen.

Einige Stunden waren so verstrichen, der Mittag war bereits angebrochen, als Pferdegetrappel auf der Straße Rosario unter den Hauseingang eilen ließ. »Endlich, endlich!« rief sie, als sie Joaquin erblickte, der, hoch zu Roß, ein zweites Pferd am Halfter mit sich führte.

»Ja, es hat lange gedauert, bis ich passende kräftige Tiere auftrieb«, entgegnete der Bruder. »Unser alter Freund Alvarez draußen in der Providentia, zu dem ich schließlich auf meiner Suche kam, hat mir seine beiden besten Pferde mit allem Zubehör gegeben.«

»Nun aber fort, gleich fort!« drängte Rosario.

»Noch etwas Geduld, Kleine! Die paar Minuten machen nun auch nichts mehr aus; nach dem langen Suchen, Rennen und Laufen fühle ich etwas Hunger.«

»So iß geschwind etwas! Ich selbst brauche nichts.«

»Du erst recht bedarfst der Nahrung«, beharrte Joaquin, als er abgestiegen war und die Pferde an den großen Messingring der Türe angebunden hatte. »Komm nur, Kind! Wir müssen uns auf den bevorstehenden langen Ritt stärken.«

Rosario folgte ein wenig widerwillig dem Bruder ins Haus zurück. Maria hatte bereits für Speise gesorgt, und so vollzog sich das Mahl der Geschwister rasch.

Dann wurden die Pferde bepackt, und nach herzlichem Abschied von Maria stiegen Bruder und Schwester auf. Mit Tränen in den Augen stand die Dienerin auf der Straße und folgte den Reitern mit den Blicken, bis sie in der Richtung gegen die Plaza ihren Augen entschwanden. –

Gegen Abend erreichten die Reisenden den Höhenzug der Küstenkordilleren. Zwischen diesen und den Hochkordilleren liegt die Stadt Santiago auf einer weiten Ebene. Bei Montenegro machten sie Halt. Der stundenlange Ritt an dem heißen Tage erforderte für Menschen und Tiere eine kurze Ruhepause. Von ihrem Lagerplatze aus übersah Rosario das schöne Land. Dort in der Ferne grüßten die Türme ihrer Vaterstadt im Abendsonnenschein zu ihr herüber. Deutlich konnte sie in der klaren Luft das Wahrzeichen und den Stolz Santiagos erblicken: Santa Lucia, den gewaltigen, über dreihundert Fuß hohen Porphyrfelsen inmitten der Stadt. Ein leises Weh zog in des Mädchens Herz, als sie ihre Blicke auf dem Orte ruhen ließ, der ihr so teuer war und den sie verlassen hatte, um dem Ungewissen entgegenzuziehen. Ob sie Santiago wohl wiedersehen würde? Das wußte Gott allein. Aber lieber alles vermissen, alles dulden und ertragen – wenn sie nur dadurch zum Vater gelangen und dessen schweres Leben als Gefangener erleichtern konnte! Dieser Gedanke erhob sie und erleichterte ihr das Scheiden aus der engeren Heimat. Trotzdem aber konnte sie, während sie still neben dem Bruder lag, die Augen kaum von dem wundervollen Rundblick wenden, der sich ihr hier oben bot. Sie glaubte, ihr Land noch nie so schön gesehen zu haben. Grüne Matten wechselten mit Getreidefeldern und Rebenanlagen; machtvoll entwickelte Pappelbäume bildeten lange grüne Linien, die sich aus der Ebene stimmungsvoll abhoben. Da und dort erblickte man Haine von Fruchtbäumen aller Art, und dazwischen, einem silbernen Bande gleich, den aus den Kordilleren kommenden Fluß Mapocho. Ach, die Kordilleren! Gab es denn anderswo auch so schöne hohe, mit ewigem Schnee bedeckte Berge wie in der Gegend von Santiago? Wie hing Rosarios Herz an diesen in der Sonne rötlich strahlenden Felsenmassen! »O Heimat, liebe Heimat, wie schön bist du! Und dich mußte der arme Vater auf solch entsetzliche Weise verlassen!« seufzte das Mädchen leise vor sich hin. Doch rasch faßte sie sich wieder. Sie wollte ihrem Bruder auf der Reise auch nicht die geringste Schwäche zeigen.

Als ob Joaquin ihre Gedanken erraten hätte, begann er: »Ein schönes Land, unser Chile, besonders aber Santiago, nicht wahr, Rosario?«

»Sicherlich, Joaquin.«

»Sieh dort drüben die majestätische Kette der Berge! Wie trotzig die Kordilleren ihre Riesenhäupter gen Himmel streckten! Ungebeugt, voll Kraft stehen die Riesen da, trotzdem Wind und Wetter, Schnee und Eis schon seit undenklichen Zeiten an ihnen nagen.«

»Eine Mahnung für uns, Joaquin!«

»Wieso?«

»Daß auch wir uns nicht beugen sollen unter Menschenwillen, unter die Roheit eines hergelaufenen Spaniers. Trotzig, felsenhart wie unsere Berge müssen wir dastehen, voll Mut und Entschlossenheit; dann wird einst unserm Lande die Sonne der Freiheit aufgehen.«

»Wahr gesprochen, Rosario! Deine Worte passen zwar nicht gut in den Mund eines Mädchens, aber sie ehren dein Empfinden. In unserm Falle nützt nur offener allgemeiner Aufstand. Bis dahin aber hat es noch gute Weile, denn unserm Volke fehlt die Führung.«

»So werde du einer seiner Führer!« rief Rosario mit blitzenden Augen. »Du, der Sohn Rosales', bist durch das Schicksal schon dazu bestimmt.«

»Das will ich auch tun, bei Gott, sobald unsere Stunde schlägt! Aber noch bin ich zu jung; mir fehlt die notwendige Anleitung durch Ältere. Und dieser älteren, ehrwürdigen, erfahrenen Männer hat sich Osorio bemächtigt, wohl wissend, daß er damit der Sache der Freiheit einen tödlichen Stoß versetzte.«

»Gleichviel«, erwiderte Rosario; »noch lebt da und dort in der Stille in Santiago ein Vaterlandsfreund, von Osorio glücklicherweise nicht gekannt. Halte dich an solche, besonders an Alvarez, und räche mit ihrer Hilfe deinen Vater und mich – mich, die wohl schwerlich jemals wieder diese Fluren da unten, diese Stadt ihrer Väter dort drüben erblicken wird!«

»Sprich nicht so traurig, Rosario!« suchte Joaquin zu trösten. »Vertrauen wir auf Gott und seine Hilfe!«

»Ja, das wollen wir, mein Bruder.«

»So laß uns nun aufbrechen, damit wir noch vor Einbruch der Nacht ein schützendes Obdach erreichen!«

Rosario folgte Joaquins Aufforderung, und bald darauf ritten sie abwärts gegen Tiltil.

»Du kennst den Weg, Joaquin? Ist es nicht derselbe, den gestern abend unser armer Vater machen mußte?«

»Doch, Rosario. Hier sind die Häscher mit den Gefangenen vorübergezogen. Sieh nur die vielen Huftritte im Boden!«

»So wäre es möglich, den Zug noch zu erreichen, bevor er in Valparaiso ankommt?«

»Unmöglich ist es nicht«, entgegnete Joaquin. »Immerhin aber bedenke, daß ein Vorsprung von nahezu vierundzwanzig Stunden selbst für unsere starken Tiere in diesem Gelände schwierig einzuholen ist.«

»Du kennst Valparaiso, Joaquin?«

»Ja, aber nur oberflächlich. Ich war einmal mit dem Vater dort, als du noch ein ganz kleines Mädchen warst.«

»Wohin sie wohl den guten Vater in Valparaiso bringen?« fragte Rosario.

»Wo anders hin als ins schmutzige, finstere Gefängnis!« erwiderte Joaquin grimmig. »O diese verruchten Henker!«

»Und was soll nachher aus unserm Vater werden? Großer Gott, ich ertrüge den Gedanken nicht, den guten Vater, zwischen Kerkermauern schmachtend, dahinsiechen zu wissen, aller Hilfe bar! Das kann, das darf nicht sein!«

»Liebste Schwester, was kann, was darf nicht sein?« fragte Joaquin die erregte Rosario. »Fragen danach vielleicht die Bedrücker unseres Vaterlandes? Das ist es ja eben, was uns Chilenen die spanische Herrschaft so tief verhaßt gemacht hat, das rohe, unmenschliche System dieser Statthalter und ihrer Helfershelfer, diese Willkürherrschaft von Menschen, die nur auf die Sättigung ihrer Begierden und schlechten Neigungen, ihres persönlichen Hasses ausgehen.«

»Und weil unser Vater sich über diese rohe, entmenschte Regierung mißbilligend geäußert hat«, rief Rosario in edlem Zorne, »deshalb reißt man ihn wie einen Verbrecher nachts aus dem Bette, wirft ihn ins Gefängnis und sucht ihn zu töten! Ja, so verfährt Spanien mit den Besten seiner ehemaligen Söhne. Oh, wäre ich ein Mann und nicht nur ein schwaches Mädchen! Mit Freuden würde ich an dem kommenden Tage des Kampfes die Waffen ergreifen und an deiner Seite gegen diese Räuber fechten, Joaquin.«

»Wie glühend du dein Vaterland liebst, Rosario! Ich kenne dich in deinem Eifer kaum mehr«, entgegnete Joaquin voll Anerkennung.

»Vor allem bin ich die Tochter Rosales'; seines Namens will und werde ich stets würdig sein.«


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