Joseph Conrad
Spiel des Zufalls
Joseph Conrad

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V
Der große de Barral

Der Salon der Ferndale war allerdings erneuert worden, um ›die fremde Frau‹ zu empfangen. Die Milde seiner altmodischen, vergilbten Ausstattung war dahin. Und Anthony sah rings um sich das Glitzern, den Glanz, die Farbe neuer Dinge, ungebraucht, frisch, neu – zu neu. Die Handwerker waren erst den Abend zuvor fertig geworden; ihr letztes Werk war die Anbringung der schweren Vorhänge gewesen, mitten im Salon, die, zugezogen, den Raum in zwei Teile teilten und das rückwärtige Ende, mit der Wendeltreppe zur Hütte, von dem vorderen mit der Türe auf Deck trennten; ein Abschluß also in der Abgeschlossenheit, als könnte Kapitän Anthony nicht Hindernisse genug zwischen sein neues Glück und die Leute setzen, die sein Leben auf See teilten. Er prüfte die Einrichtung mit offenbarer Genugtuung, besichtigte dann das Ganze und öffnete schließlich die Türe zu einem großen Wohnzimmer, das durch die Zusammenziehung zweier kleinerer geschaffen worden war. Es war sehr gut eingerichtet und hatte anstatt des üblichen Bettgestells ein ausgezeichnetes Schwebebett letzten Modells. Anthony schaukelte es ein wenig wie zur Probe. ›Der alte Mann wird es hier drinnen sehr bequem haben‹, sagte er sich, ging in den Salon zurück und schloß die Türe leise hinter sich. Dann kam ihm ein anderer Gedanke, der ja wohl naheliegend genug gewesen wäre, sich ihm merkwürdigerweise aber erst jetzt aufdrängte: ›Mein Gott, wird er einen Schreck haben!‹ dachte Roderick Anthony.

Er ging eilig auf Deck. ›Herr Franklin, Herr Franklin!‹ Der Erste war nicht weit weg. ›Oh, da sind Sie. Fräulein . . . Frau Anthony wird sofort an Bord kommen. Rufen Sie mich, wenn Sie die Droschke kommen sehen!‹

Dann ging er wieder unter Deck, ohne die düstere Miene seines Offiziers zu beachten. Kein freundliches Wort, keine dienstliche Bemerkung, kein kleiner Scherz, nicht einmal ein einfaches, nichtssagendes ›Schöner Tag‹. Nichts. Nur umgedreht und fort.

Wir wissen, daß er es im gegebenen Augenblick für besser hielt, Floras Vater in der Abgeschlossenheit der Hauptkajüte zu begrüßen, die er mit solchem Vorbedacht geschaffen hatte. Und es ist schwer zu erklären, warum Anthony, scheinbar wenigstens, vor dem Zusammentreffen zurückschreckte. Er, dessen Selbstvertrauen doch ausgereicht hatte, eine in ihrer verwegenen Großmut fast verrückte Situation nicht nur hinzunehmen, sondern zu schaffen. Vielleicht fand er, als er auf die Brücke hinaufkam und den ersten Blick nach ihm warf, den Mann äußerlich so verschieden von dem Bild, das er sich von ihm gemacht hatte, daß er beschloß, ihm erstmals ohne Augenzeugen gegenüberzutreten. Vielleicht auch hatte die Geheimnistuerei in seiner Beziehung zu dem Mädchen ihn beeinflußt. Ein gewisser Kummer war ja auch gerechtfertigt. Die Ankunft dieses Mannes stellte ihn unmittelbar vor die Notwendigkeit, in Worten und Taten eine Lüge durchzuhalten; das zu scheinen, was er nicht war und was er nie sein konnte, wenn nicht, wenn nicht . . . Kurz, wir können, wenn es dir recht ist, sagen, daß Roderick Anthony (ein Mann, von dem sein Erster Offizier zu sagen pflegte: ›Er weiß nicht, was Angst ist‹) Furcht hatte, aus verschiedenen Gründen, die aber alle aus seinem feinen Rechtsgefühl herkamen. Es gibt eine Nemesis, die auch die Großmut ereilt, so gut wie alle die anderen Torheiten von Leuten, die es wagen, sich stolz außerhalb der Gesetze zu stellen . . .«

»Warum sagst du das?« fragte ich, denn Marlow hatte kurz abgebrochen und saß nun schweigend im Schatten des Büchergestells.

»Ich sage es, weil der Mann, den der Zufall in Floras Weg geführt hatte, beides war, gesetzlos und stolz. Ob es ihm bewußt war oder nicht, tut nichts zur Sache. Wahrscheinlich war es ihm nicht bewußt. Ein Mensch mag der Natur und seiner eigenen seelischen Widerstandskraft ganz unbekümmert den Handschuh hinwerfen, mit einer Einfalt, die wie eine geradezu teuflische Eitelkeit wirkt. Doch so oder so, wie ich schon sagte, es tut nichts zur Sache. Es bleibt aber eine Überhebung, die in üblicher Weise gebüßt werden muß. Lassen wir das! Ich unterbrach mich, weil ich, wie Anthony, eine Schwierigkeit darin fand, eine Art Furcht davor, mich mit dem alten de Barral auseinanderzusetzen.

Du erinnerst dich, daß ich ihn einmal kurz gesehen hatte. Er war keine achtunggebietende Erscheinung: groß, mager, gerade, steif, welk; er bewegte sich mit kurzen, gleitenden Schritten, sprach mit ebenmäßig leiser Stimme. Wenn die See hochging, war er auf Deck nicht viel zu sehen – wenigstens nicht auf den Beinen. Dann hielt er sich irgendwo an und schleppte sich bis zu dem achteren Deckfenster, wo er stundenlang sitzenblieb. Unser damals noch junger Freund bot ihm einmal seine Hilfe an, und diese kleine Gefälligkeit wurde der erste Anfang einer Art von Freundschaft. ›Er hängte sich stark an‹, sagte Powell, ohne die Absicht, bildhaft zu reden. Powell hielt immer Ausschau, ob er nicht helfen könne, und zwar hauptsächlich Frau Anthony helfen. Denn der alte Mann klammerte sich so fest an sie, daß Powell fürchtete, sie könnte niedergerissen werden, trotzdem sie sehr rasch gelernt hatte, sich bei jedem Wetter sicher auf den Füßen zu halten. Und Powell war der einzige, der immer hilfsbereit zur Hand war, denn Anthony schien sich (damals wenigstens) zu fürchten, ihnen in die Nähe zu kommen; der unversöhnliche Franklin sah immer finster weg; der Bootsmann tat, so oft er zugegen war, das gleiche, aber dämlich; und alle Matrosen, die zufällig auf der Hütte waren (ein Gefühl verbreitet sich merkwürdig rasch über ein ganzes Schiff), wichen dem Alten aus wie dem leibhaftigen Teufel.

Wir wissen, wie er an Bord ankam. Ich für mein Teil weiß so wenig von Gefängnissen, daß ich mir nicht die leiseste Vorstellung davon machen kann, wie man ein solches verläßt. Der Vorgang scheint mir so abscheulich wie der andere, das Eingeschlossenwerden, womit ich immer den Gedanken an einen Krach verbinde, ein Zuschnappen, und an die leere Stille außerhalb – wo man einen Augenblick vorher war – war – und nicht länger ist. Ganz teuflisch! Und die Freilassung! Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Wie machen sie es? Ein Ruck am Drahtzug, die Türe fliegt auf, der Mann fliegt hinaus: Hinaus mit dir! Addios! Und in dem Raum, in dem du eine Sekunde vorher nicht warst, in dem schweigenden Raum, bewegt sich nun eine Gestalt fort, hinkend. Warum hinkend? Ich weiß es nicht. Ich sehe es so an. Mir erscheint das Ganze wie ein Verfahren, das zu langsamer Verkrüppelung führen muß, aus dem der Mensch irgendwie beschädigt herauskommt. Ich gebe zu, daß das ein lächerliches Hirngespinst ist, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich weiß ich, daß das Verfahren nach den Grundsätzen der besten, sozusagen maschinellen Menschlichkeit mit aller Sorgfalt und so weiter geregelt ist. Ich bin übertrieben, aber doch . . . O ja, es ist blödsinnig. Wenn ich an einem der Orte vorbeikomme . . . Hast du nie bemerkt, daß etwas Teuflisches in jedem einzelnen Stein oder Ziegel der Gebäude steckt, etwas Tückisches, als freuten sich die seelenlosen Dinge ihrer Rache an dem geringschätzigen Menschengeist? Hast du es nicht bemerkt, nein? Wie? Nun, vielleicht bin ich hierin ein wenig verrückt. Wenn ich an einem der Orte vorbeikomme, muß ich die Augen wegwenden. Ich hätte de Barral nicht abholen können. Die Belastungsprobe wäre über meine Kräfte gegangen. Du wirst dich erinnern, daß Anthony (fraglos ein gütiger Mann) sich scheinbar auch davor gefürchtet hatte. Die Phantasie des kleinen Fyne, der sich drei Leute in der fatalen Droschke ausgemalt hatte, entsprach in keiner Weise der Wirklichkeit. Nur zwei Leute saßen in der Droschke. Flora hatte sich nicht gefürchtet. Frauen können so ziemlich alles aushalten. Den lieben Geschöpfen fehlt die Einbildungskraft, sobald es sich um nackte Lebenstatsachen handelt. In Gefühlsfragen freilich – da möchte ich nichts behaupten. Das ist etwas ganz anderes. Da zucken sie zurück oder stürzen vor, um Gespenster ihrer eigenen Schöpfung zu umarmen, wie es nur je ein närrischer Mann tun könnte.

Nein. Ich nehme an, daß Flora sich ganz gefaßt auf ihre Irrfahrt begab. Und warum auch nicht? Dies war der Augenblick, für den sie gelebt hatte, ihr einziger Berührungspunkt mit dem Dasein. O ja. Die Fynes hatten ihr beigestanden. Und gütig. Gewiß. Gütig. Aber das ist nicht genug. Es gibt eine gütige Art, unseren Mitgeschöpfen beizustehen, die ihnen das Herz brechen kann, während sie die äußere Hülle rettet. Wie kalt – wie höllisch kalt muß ihr gewesen sein – außer dann, wenn sie vor Entrüstung oder Scham brannte. Der Mann, das wissen wir, lebt nicht vom Brote allein; aber ich will verdammt sein, wenn ich nicht glaube, daß manche Frauen von der Liebe alleine leben könnten. Wenn es eine Flamme in Menschenwesen gibt, von Irdischem und Göttlichem genährt, das sie verschieden färbt, dann glaube ich die Farbe dieser Flamme in Frauen zu sehen. Sie ist blau . . . Was zum Teufel lachst du . . .

Marlow sprang auf und kam aus dem Schatten heraus, als hätte ihn die Entrüstung aufgejagt; doch um seine Lippen spielte ein verstohlenes Lächeln. »Du wirst mir sagen, daß ich die Frauen nicht kenne. Kann sein. Vielleicht ist es ganz gut, dem Heiligtum nicht zu nahe zu kommen. Doch habe ich eine klare Vorstellung von der Frau. In jeder von ihnen, sei sie nun zanksüchtig, kokett, gesund und munter, ein Waschweib, ein Blaustrumpf, eine Verworfene, in jeder bis zur letzten Straßendirne hinunter ist noch irgend etwas zurückgeblieben, wenn auch nur ein Funke. Und wo ein Funke ist, kann immer noch einmal eine Flamme sein . . .«

Er ging in den Schatten zurück und setzte sich nieder.

»Ich will nicht behaupten, daß Flora de Barral eine von denen war, die von Liebe alleine leben können. Tatsächlich hatte sie es ja fertiggebracht, ohne sie zu leben. Dennoch hatte sie bei allem Mißtrauen gegen sich selbst und die anderen immer nach Liebe ausgeschaut, nach irgendeiner Liebe, wie es Frauen zu tun pflegen. Und das verwünschte Gefängnis war der einzige Ort, wo sie sich ihr zu bieten schien – denn sie hatte keinen Anlaß, ihrem Vater zu mißtrauen.

Sie war rechtzeitig da. Ich sehe sie förmlich, wie sie über die Straße weg nach jenen Mauern spähte, die im wahren Sinne des Wortes grauenvoll sind. Beim Anblick der bloßen Linien und Kanten des Gebäudes scheint sich einem tatsächlich der Eindruck aufzudrängen, wie die Zeit vergeht, Tropfen um Tropfen, Stunde um Stunde, Blatt um Blatt, langsam und doch unaufhaltsam. Und eine stumme Wehmut überkommt einen, unwiderstehlich, durchdringend und heftig wie ein böser Traum.

Als de Barral herauskam, da durchfuhr es sie wie ein Schlag, weil er ihr völlig unverändert schien. Etwas magerer vielleicht. Sonst unverändert. Man kommt in den gleichen Kleidern heraus, mußt du wissen. Ich weiß nicht, ob er nach ihr Ausschau hielt. Doch wohl ohne Zweifel. Ob er sie erkannte? Sehr wahrscheinlich. Sie überquerte die Straße, und mit einmal war nach so vielen Jahren, wie durch ein höhnisches Zauberwort, das Bild wiederhergestellt, das die Strandpromenade von Brighton so oft gesehen hatte: das Bild des Finanzmannes de Barral, der mit seiner einzigen Tochter spazierenging. Man kommt aus dem Gefängnis in den gleichen Kleidern heraus, die man am Tage der Verurteilung getragen hat, ganz gleich, wie lange man eingesperrt war. Oh, die Kleider halten es aus! Die halten es aus! – Aber noch etwas gibt es, das sich bei dem Leben im Gefängnis noch besser erhält als die abgelegten Kleider. Das ist die lebendige Kraft der eigenen Gefühle. Ein Kloster mag die gleiche Wirkung haben; in der unheiligen Abgeschlossenheit des Gefängnisses aber bist du ganz auf dich angewiesen – denn dort gibt es weder Gott noch Glauben. Die Leute draußen vergeuden ihre Gefühle, du hütest die deinen, studierst sie bis zum Übermaß. Was die anderen wegwerfen, vergessen, in der Bewegung und im Wechsel des freien Lebens, das hältst du fest, vergrößerst es, übertreibst es, in der Zügellosigkeit der Erinnerung. Die anderen mögen lächelnd auf Kummer und Sorgen der Vergangenheit zurückblicken; du kannst es nicht. Die alten Schmerzen nagen weiter an deinem Herzen, die alten Sehnsüchte, die alten Enttäuschungen, die alten Träume. Alles stürmt auf dich ein, in der toten Stille der Gegenwart, die keine andere Bewegung kennt, außer dem Ablauf der unwiederbringlichen Minuten deines Lebens.

De Barral war herausgekommen und, im ersten Augenblick sprachlos, von seiner Tochter weggeführt worden, bevor er noch von der Freiheit sozusagen Besitz ergriffen hatte. Flora behielt sich gut in der Hand. Sie gingen eine Strecke weit rasch dahin. Flora hatte die Droschke um die Ecke herum warten lassen – wohl um mehrere Ecken herum. De Barral war erhitzt und außer Atem, als sie ihm einsteigen half und selbst folgte. Als sie sich in dem rollenden Käfig dem Manne zukehrte, das Herz zu voll, um sprechen zu können, da fühlte sie plötzlich, wie die Lust zum Weinen, die sie solange niedergehalten hatte, sie verließ, wie ihre halb schmerzliche, halb freudige Gemütsbewegung sich legte, jede Fiber ihres Körpers, in Weichheit hingegeben, sich straffte, als sie sein Gesicht aus der Nähe betrachtete. Er war verändert. Da war etwas. Ja, es war etwas zwischen ihnen, ein Hartes, Ungreifbares – der Geist jener hohen Mauern.

Wie alt er war, wie ganz anders!

Sie schüttelte den Eindruck ab, wenn auch sehr natürlich erschreckt davon. Auch Gewissensbisse empfand sie. Natürlich. Sie schlang die Arme um seinen Hals. Er erwiderte die Umschlingung gespenstisch, als hätte er seine Arme nicht ganz in der Gewalt, mit einem suchenden, ungewissen Druck. Sie barg das Gesicht an seiner Brust. Es war, als legte sie ihr Gesicht gegen einen Stein. Dann ließen sie einander los, und während die Droschke im Zuckeltrab weiter zu den Docks hinrollte, saßen die beiden Leute, so weit wie möglich voneinander entfernt, jeder in seine Ecke geschmiegt.

Nach einem Schweigen, das der gegenseitigen Musterung gedient hatte, sprach de Barral den ersten zusammenhängenden Satz seit dem Verlassen des Gefängnisses.

›Was mich umgebracht hat, war der Neid. Neid! Es waren eine Menge Leute da, die vor Neid barsten, so oft sie nach mir hinsahen. Ich kam ihnen zu sehr in die Höhe. So liefen sie also zum Staatsanwalt . . .

Sie sagte hastig: ›Ja, ja. Ich weiß.‹ Er starrte sie vorwurfsvoll an, als könnte er es nicht begreifen, daß das Kind zu einem jungen Weibe geworden war, ohne auf sein Herauskommen zu warten. ›Was weißt du davon?‹ fragte er. ›Du warst zu klein.‹ Seine Redeweise war sanft. Die alte Stimme, die alte Stimme! Es durchschauerte sie. Sie erkannte die gehaltlose Liebenswürdigkeit wieder, die sich gleichblieb, bei allem, was er zu sagen hatte. Und sie erinnerte sich auch, daß er nie viel zu sagen gehabt hatte, wenn er sie besuchen gekommen war. Sie war es gewesen, die während der Spaziergänge geplappert und geplappert hatte, während er, kerzengerade und mit hochgerecktem Kopf, dann und wann ein Wort eingeworfen hatte.

Bewegt von all den Erinnerungen, die in ihr erwachten, erklärte sie ihm, daß sie während des letzten Jahres den Verhandlungsbericht genau durchstudiert hatte.

›Ich habe die Berichte verschiedener Zeitungen durchgearbeitet.‹

Er sah sie mißtrauisch an. Die Berichte waren wohl recht unvollständig. Zweifellos hatten die Berichterstatter seine Beweisführung unterschlagen. Sie waren entschlossen, ihm weder vor Gericht noch vor der Öffentlichkeit irgendeine Möglichkeit zur Entlastung zu bieten. Es war eine Verschwörung . . . ›Mein Anwalt war auch ein Narr‹, fügte er hinzu. ›Hast du es gemerkt? Ein richtiger Narr.‹

Sie legte besänftigend ihre Hand auf seinen Arm. ›Ist es der Mühe wert, über die schreckliche Zeit zu reden? Es ist nun so lange vorbei . . .‹ Sie erschauerte bei dem Gedanken an all die schrecklichen Jahre, die seither über ihr junges Haupt weggegangen waren, und ahnte doch nicht, daß für ihn die Zeit wie gestern war. Er kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich in seine Ecke zurück und senkte den Kopf. Gleich darauf aber schreckte er sie auf durch die unvermittelte Frage:

›Wer hat die Lone-Valley-Bahn in die Hände bekommen? Dahinter waren sie ja hauptsächlich her. Jemand muß sie bekommen haben. Parfitts & Co. haben sie geschnappt – wie? Oder war es der Kerl, der Warner . . .

›Ich – ich weiß es nicht‹, sagte sie, geängstigt von dem Zucken seiner Lippen.

›Weißt es nicht‹, wiederholte er leise. Hatte es ihr der Vetter nicht gesagt? Ach ja, sie hatte die Leute ja verlassen, natürlich. Warum denn eigentlich? Das war seine erste Frage, die sie selbst betraf. Doch sie antwortete nicht darauf. Sie wollte nicht von dem Grauen sprechen. Es war unbeschreiblich. Auch merkte sie, daß er keine Antwort erwartet hatte, denn sie hörte ihn vor sich hinmurmeln: ›Es steckte für gut eine halbe Million Arbeit und Material darin.‹

›Du mußt an die Sachen nicht mehr denken, Papa‹, sagt sie fest. Und er fragte sie mit der ewig gleichen Liebenswürdigkeit, aus der sie nun recht unheimliche Untertöne herauszuhören glaubte, woran er sonst wohl denken sollte? Hätten sie ihn nur noch ein Jahr oder zwei ungestört gelassen, dann wären er und alle anderen gemachte Leute gewesen, hätten Geld im Überfluß gehabt; und sie, seine Tochter, hätte jeden beliebigen heiraten können – jeden. Einen Lord.

Alles dies war ihm wie gestern. Ein langes Gestern, ein Gestern, das er unzählige Male zergliedert und jahrelang überdacht hatte. Es stand dem alten Manne mit einer lebendigen Kraft vor Augen, von der sich seine Tochter, die ja nicht jahrelang von der Welt abgeschlossen gewesen war, keinen Begriff machen konnte. Sie war für ihn die einzig lebende Gestalt aus jener Vergangenheit, und es geschah vielleicht in vollendet gutem Glauben, daß er kalt, ausdruckslos, mit dünnen Lippen hinzufügte: ›Ich habe nur für dich gelebt, kann ich sagen. Ich nehme an, daß du das verstehst. Es gab nur dich und mich.‹

Sie war ergriffen von dieser Erklärung, zugleich aber auch erstaunt, daß sie nicht mehr davon durchwärmt wurde. Sie murmelte ein paar zärtliche Worte, während der Gedanke sie beherrschte, daß sie ihm nun die Sachlage auseinandersetzen mußte. Sie hatte erwartet, eifrig über ihr eigenes Schicksal ausgefragt zu werden – und hatte sich bei aller Sehnsucht danach vor den Antworten gefürchtet, die sie zu geben haben würde. Doch der Vater schien ganz merkwürdig, ganz unbegreiflich wenig neugierig. Es schien, als sollten überhaupt keine Fragen kommen. Dennoch bot sich hier ein Ausgangspunkt. Dies schien der Augenblick für sie, zu beginnen. Und sie begann. Sie begann mit der Versicherung, daß sie das immer empfunden habe. Sie beide seien da, um füreinander zu leben. Und wenn er nur wüßte, was sie durchzumachen gehabt hatte!

In seine Ecke gedrückt, die Arme gekreuzt, starrte er durch das Seitenfenster auf die Straße hinaus. Wie wenig er doch verändert war! Es war der unerschütterliche Ausdruck, der matte Blick, den sie immer gesehen hatte, so oft sie bei den Gängen über die Promenade die Augen zu ihm aufgeschlagen hatte, während sie plapperte und plapperte. Es war die gleiche steife, schweigsame Gestalt, die auf ein Wort von ihr kurzerhand in ein Geschäft abgebogen war und ihr etwas gekauft hatte, was ihr gerade wünschenswert erschienen war. Flora de Barrals Stimme zitterte. Er richtete den Blick auf sie, an den sie sich so gut erinnerte, und in dem sie als Kind nie etwas anderes gesehen hatte als das bloße Bewußtsein ihres Daseins. Und das hatte genügt, für ein Kind, das Zärtlichkeitsbeweise nie gekannt hatte. Doch hatte sie während ihres Lebens zuletzt so sehr nach einem Gefühl gehungert, daß es ihr nun nicht länger genügte. Wozu sollte sie ihm die Geschichte all des Jammers erzählen, der nun vorbei war, die Geschichte der quälenden Hindernisse und Demütigungen? Das, was sie ihm sagen mußte, war schwer genug zu sagen. Wie zur Vorbereitung ließ sie die Bemerkung fallen:

›Du hast mich nicht einmal gefragt, wo ich dich hinführe.‹

Er fuhr auf wie ein plötzlich erweckter Schlafwandler, und dabei kam auch ein Ausdruck in seinen Blick, etwas wie ein erschrecktes Forschen. Er öffnete langsam den Mund. Flora fiel mit gemachter Lustigkeit ein: ›Du würdest es nie erraten.‹

Er wartete, und sein Schreck wie sein Mißtrauen steigerten sich. ›Erraten? Warum sagst du mir's nicht?‹

Er ließ die Arme sinken und beugte sich zu ihr vor. Sie faßte die eine seiner Hände. ›Du mußt zuerst wissen . . .‹ Sie unterbrach sich, machte eine Anstrengung: ›Ich bin verheiratet, Papa.‹

Einen Augenblick lang verhielten sie sich ganz still in der Droschke, die in langsamem Zuckeltrab durch die verkehrsreichen Straßen der inneren Stadt rollte. Doch was immer sie auch erwartet haben mochte, keinesfalls hatte sie erwartet, daß er seine Hand aus der ihren reißen würde, als könnte sie verbrannt oder angesteckt werden. De Barral, ganz frisch aus der toten Ruhe des Gefängnisses heraus (wo nichts geschieht), hatte eine solche Neuigkeit nicht erwartet. Sie schien ihn in der Kehle zu würgen. Mit erstickter Stimme rief er: ›Du – verheiratet? Du, Flora? Wann? Verheiratet! Warum? Mit wem? Verheiratet!‹

Seine Augen, blau wie die ihren, nur blaß und ohne Tiefe, schienen aus ihren Höhlen quellen zu wollen. Er sah wirklich aus, als wäre er am Ersticken. Er griff sogar mit der Hand nach dem Hals . . .«

»Du weißt ja,« fuhr Marlow fort, aus dem Schatten des Büchergestells heraus, und fast unsichtbar in den Tiefen des Lehnstuhls, »daß mir de Barral das einzige Mal, wo ich ihn gesehen, den Eindruck völliger Steifheit gemacht hatte, als hätte er einen Schürhaken verschluckt. Es scheint aber doch, daß er auch zusammenklappen konnte. Ich kann es mir selbst kaum ausmalen. Es scheint nur, daß er in seiner Ecke tatsächlich zusammenklappte. Das Unerwartete hatte ihn umgeworfen. Flora sah ihn verblüfft, mitleidig, ein wenig enttäuscht an und nickte ihm ernsthaft zu: Jawohl, verheiratet. – Es gefiel ihr nicht, daß sie ihn in einer Weise lächeln sah, die für die Ergebenheit einer Tochter wenig ermutigend sein konnte. Eine unbewußte Wildheit war darin. Der alte de Barral hatte noch nicht die volle Herrschaft über seine Muskeln. Seine liebenswürdige Stimme aber hatte er wieder in der Gewalt.

›Du hast eben gesagt, daß es in dieser weiten Welt nur uns zwei geben sollte, dich und mich, und daß wir zusammenhalten wollten.‹

Sie merkte undeutlich die böse Absicht, die sich unter den liebenswürdigen, leisen Worten barg, unter den Worten, die ihr so unmittelbar ans Herz griffen. Sie verteidigte sich. Nie, auch nicht einen einzigen Augenblick lang, habe sie aufgehört, an ihn zu denken. Auch er habe nicht aufgehört, an sie zu denken, sagte er, mit all dem düsteren Nachdruck, dessen er fähig war.

›Aber, Papa,‹ rief sie, ›ich war ja nicht eingesperrt wie du.‹ Sie fürchtete sich nicht, davon zu reden, weil er ja unschuldig war. Man hatte ihn nicht verstanden. Es war ein grausames Unglück, doch nicht schlimmer als eine Krankheit, ein ernster Unfall oder sonst eine Heimsuchung des blinden Schicksals. ›Ich wollte, ich wäre auch eingesperrt gewesen. Aber ich stand allein in der Welt, der schrecklichen Welt, eben der Welt, die dir so übel mitgespielt hat.‹

›Und du konntest dich nicht darin bewegen, ohne jemanden zu finden, in den du dich verliebtest?‹ sagte er. Eine eifersüchtige Wut umfing sein Hirn wie Weindunst, stieg aus geheimen Untergründen seines Wesens, das so lange aller Erregungen beraubt gewesen war. Die Gruben in seinen Mundwinkeln traten unter der verquollenen Rundung der Backen schärfer hervor. Bilder und Gesichte nehmen mit besonderer Kraft Männer gefangen, die dem Anblick und Lärm des Alltags lange entrückt waren. ›Und ich habe nichts getan als an dich gedacht‹, keuchte er halblaut, verächtlich. ›An dich gedacht! Du hast mich verfolgt, sage ich dir.‹

Flora sagte sich, daß da endlich ein Wesen war, von dem sie geliebt wurde. ›Dann haben wir einer den anderen verfolgt‹, versicherte sie reumütig. ›Irgendwann einmal werde ich dir erzählen . . . Nein. Ich glaube nicht, daß ich es dir je werde sagen können. Es hat eine Zeit gegeben, wo ich verrückt war. Doch wozu – es ist ja nun alles vorbei. Wir wollen es vergessen. Nichts soll uns daran erinnern.‹

De Barral zuckte die Schultern. ›Ich denke, du warst verrückt, als du dich gebunden hast, an . . . Wie lange bist du verheiratet?‹

Sie wagte nichts anderes zu antworten als: ›Nicht lange.‹ Alles war so anders, als sie es erwartet hatte. Er wünschte zu wissen, warum sie nichts davon in einem ihrer Briefe erwähnt hatte. In ihrem letzten Brief. Sie sagte:

›Es war nachher.‹

›So kurz erst! Konntest du nicht wenigstens warten, bis ich herauskam? Du hättest es mir sagen, mich um Erlaubnis oder um Rat fragen können. Laß mich nachdenken . . .

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Und er war wie zerschlagen, dachte bei sich: Wer kann es sein? Irgendein armseliger dummer Junge ohne einen Pfennig. Oder vielleicht ein Gauner? – Ohne besondere Bewegung rang er die lose gefalteten Hände ineinander, daß die Gelenke knackten. Er sah sie an. Sie war hübsch. Irgendein elender Gauner, der sie sitzenlassen wird. Irgendein Schuft mit einer glatten Fratze . . . ›Du hast nicht warten können, wie?‹

Wieder verneinte sie stumm.

›Warum nicht? Warum die Eile?‹ Sie schlug die Augen nieder. ›Es mußte sein. Jawohl. Es war sehr plötzlich, aber es mußte sein.‹

Er beugte sich zu ihr mit offenem Mund, höchste, tugendhafte Entrüstung in den Augen; als er aber die unbedingte Reinheit des Blickes sah, den sie zu ihm erhob, warf er sich wieder in seine Ecke zurück.

›So ungeheuer verliebt ineinander – war es das? Konntest einen Vater seine Tochter nicht einmal einen Tag ganz für sich haben lassen, nach – nach einer solchen Trennung? Und du weißt, daß ich nie jemanden hatte, keine Freunde! Was sollten mir die Leute, die man in der City trifft! Noch die besten unter ihnen sind jeden Augenblick bereit, dir die Kehle abzuschneiden. Jawohl! Geschäftsleute, Gentlemen, jede Art von Männern und Frauen – gehässige Feinde, außer wenn sie was abkriegen können. O ja, sie können süß genug reden, wenn sie meinen, daß etwas zu holen ist . . .‹ Seine Stimme war nur wie ein Hauch und doch drang sie so deutlich zu Flora, als wäre sie von wildester Leidenschaft getragen . . . ›Mein Mädel, ich habe sie mir angesehen, wie sie sich an mich drängten, und mir dabei gesagt: Was kümmere ich mich um all das! Ich bin ein Geschäftsmann. Ich bin der große de Barral (ja, ja, manche haben darüber den Mund verzogen, aber ich war der große de Barral), und ich habe mein kleines Mädchen! Ich habe niemand gewünscht und habe nie jemand gehabt.‹

Eine ehrliche Erregung hatte ihm die Lippen geöffnet, aber die Worte, die herauskamen, waren nicht lauter als das Säuseln des Windhauchs. Sie verwehten.

›Das eben ist es‹, sagte Flora de Barral ebenso leise. Ohne die Augen von ihr abzuwenden, nahm er seinen Hut ab. Es war ein Glanzhut, der Hut, in dem er zur Verhandlung gegangen war. Der Hut, der in den zahllosen Augenblicksskizzen der illustrierten Zeitungen erschienen war. Man kommt in denselben Kleidern heraus, aber die Absperrung macht sich geltend! Es ist wohl bekannt, daß düstere Gesichte abgeschlossene Männer verfolgen, Mönche, Einsiedler – warum nicht auch Gefangene? De Barral, der Sträfling, nahm den Seidenhut des Finanzmanns de Barral ab und stellte ihn auf den Hintersitz der Droschke. Dann blies er einen Mund voll Luft aus. Sein Gesicht war hochrot.

›Und was geschieht?‹ hob er mit seiner beherrschten Stimme an. ›Da bin ich nun, zu Boden geworfen, zerbrochen von Neid, Heimtücke und aller Niedertracht. Ich komme heraus – und was finde ich? Ich finde, daß mein Mädchen Flora hingegangen ist und irgendeinen Menschen geheiratet hat, irgendeinen Narren vielleicht, wie soll ich es wissen; oder vielleicht auch . . . keinesfalls gut genug für sie.‹

›Halt ein, Papa!‹

›Eine dumme Liebesgeschichte, so gut wie gewiß‹, fuhr er eintönig fort, und seine dünnen Lippen zuckten zwischen den bösen, eingefallenen Winkeln. ›Und eine recht verdächtige Sache ist es noch dazu, von seiten einer liebenden Tochter.‹

Sie versuchte ihn zu unterbrechen, doch er redete weiter, bis sie ihm schließlich geradezu die Hand auf den Mund legte. Er rollte ein wenig die Augen, als sie aber die Hand wegzog, blieb er still.

›Warte. Ich muß dir sagen . . . Und vor allem, Papa, merke das eine, denn das ist die Hauptsache: er ist der großmütigste Mensch der Welt, er . . .

De Barral, sehr still in seinem Winkel, stieß mit Anstrengung hervor: ›Du liebst ihn?‹

›Papa! Er kam zu mir. Ich dachte an dich. Ich hatte für niemanden Augen. Ich konnte es nicht länger ertragen, an dich zu denken. Gerade da kam er. Erst damals. Im Augenblick, wo ich – wo ich aufgeben wollte.‹

Sie sah in seine blassen, blauen Augen, als hoffte sie Verständnis darin zu finden, Ermutigung, Frieden – ein Wort des Mitgefühls. Er sagte ungerührt:

›Ich möchte ihm den Hals umdrehen.‹

Ihr lag der Ausruf der Überlasteten auf den Lippen: ›Oh, mein Gott!‹ Dabei sah sie ihn aus starren Augen erschreckt an. Doch er schien weder verrückt noch sonst absonderlich. Das tröstete sie. Das Schweigen hielt eine kleine Weile an. Dann fragte er plötzlich: ›Wie heißt du denn also?‹

In der tiefen Verwirrung über die Aufgabe, die vor ihr lag, verstand sie den Sinn der Frage nicht sofort. Dann flüsterte sie mit einem leichten Erröten: ›Anthony.‹

Der Vater lehnte den Kopf müde in die Ecke zurück; auf seinen Wangen brannten zwei rote Flecke.

›Anthony! Was ist er? Wo kam er her?‹

›Papa, es war auf dem Lande, auf einer Straße . . .

Er flüsterte: ›auf einer Straße‹, und schloß die Augen.

›Ich kann es dir jetzt nicht alles erklären. Wir werden später Zeit genug dazu haben. Es gibt Dinge, die ich dir jetzt nicht sagen könnte. Aber später einmal. Später. Denn jetzt kann uns nichts mehr trennen. Nichts. Wir sind gesichert, solange wir leben. – Nichts kann jemals zwischen uns treten.‹

›Du bist in den Kerl verliebt‹, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. Und sie erwiderte mit leiser Stimme: ›Ich glaube an ihn. Du und ich – wir müssen an ihn glauben.‹

›Was zum Teufel ist er?‹

›Er ist der Bruder der Dame – du weißt ja, Frau Fyne, sie hat die Mutter gekannt –, die so gütig gegen mich war. Ich lebte auf dem Lande, in einer Villa, mit Herrn und Frau Fyne. Dort trafen wir uns. Er kam zu Besuch. Er bemerkte mich. Ich – nun – wir sind jetzt verheiratet.‹

Sie war ihm dankbar, daß er die Augen geschlossen hielt. So wurde es ihr leichter, von der Zukunft zu sprechen, die sie eingerichtet hatte, und die nun unabänderlich war. Sie ließ sich auf keinerlei Bekenntnisse ein. Das war unmöglich. Sie fühlte, daß er sie nicht verstehen würde. Sie fühlte auch, daß er litt. Dann und wann griff ihr eine große Angst, wie ein dunkles Schuldgefühl, ans Herz – als hätte sie ihn verräterisch den Händen eines Feindes ausgeliefert. Wie er mit geschlossenen Augen dasaß, bot er das Bild müden, trüben Nachsinnens. Sie fürchtete sich ein wenig. Im nächsten Augenblick erfüllte sie unendliches Mitleid mit ihm. Und ganz zutiefst meldete sich die Reue. Sein Gesicht zuckte dann und wann, eben merkbar. Er brachte es fertig, die Augen geschlossen zu halten, bis er hörte, daß der ›Gatte‹ Seemann war, und daß er, der Vater, ohne Aufenthalt an Bord des Schiffes gebracht werden sollte, das zum Auslaufen klar lag; weit fort von diesem abscheulichen Land voll Verrat, Niedertracht, Neid und Lügen, weit fort über die blaue See, den sicheren, unzugänglichen, reinen und geräumigen Zufluchtsort für wunde Seelen.

Etwas dieser Art. Vielleicht waren es nicht gerade diese Worte, doch war es jedenfalls der allgemeine Sinn ihrer zwingenden Beweisführung – Zuflucht.

Ich glaube nicht, daß sie die praktischen Vorbedingungen erwähnt hat. Doch im Laufe der Beweisführung, die sie atemlos vorbrachte, als fürchtete sie, daß sie nie würde fortfahren können, wenn sie sich erst einmal unterbrochen hatte, erwähnte sie auch jene gewissermaßen störrische Großmut, die von der See her in ihr Leben gekommen war, sie hart vor völligem Niederbruch erfaßt, wie ein Sturm davongetragen hatte und der man nun vertrauen durfte, voll vertrauen. Sie würde auch sie beide, Seite an Seite, in unbedingte Sicherheit bringen.

Sie glaubte es, sie versicherte es. Endlich verstand er sie ganz, und sofort wurde das Innere jener Droschke, das den Augen Vorübergehender so friedlich erscheinen mochte, zum Schauplatz einer unerhörten Aufregung. Die Großmut von Roderick Anthony – dem Sohn des Dichters – regte den gewesenen Finanzmann de Barral in einer Weise auf, die es Flora de Barral auf das schmerzlichste zum Bewußtsein gebracht haben muß, wie hart es ist, eine Frau zu sein. Das ist deswegen so furchtbar hart, weil man es dabei meistens mit Männern zu tun hat. Dieser Mann – der Mann in der Droschke – warf seinen steifen Gleichmut plötzlich ab und benahm sich wie ein Tier. Das soll kein Schimpf sein. Er tat nämlich nichts weiter, als daß er einem triebmäßigen Schrecken nachgab. Wie ein wildes Tier, das ein Netz auf seinen Rücken fallen fühlt, begann der alte de Barral lahm und kraftlos in der leeren Luft herumzufuchteln – so viel die Droschke davon enthielt – Augen und Mund weit aufgerissen, daß seine Tochter, so weit sie konnte, davor zurückwich.

›Halt die Droschke an! Halt sie an, sag' ich dir! Laß mich hinaus!‹ waren seine erstickten Ausrufe. Warum, wozu? Er wollte nicht hören. Sie rief ihn an: ›Papa, Papa, was willst du tun?‹ bekam aber als einzige Antwort nur: ›Halt! Ich muß hinaus. Ich will nachdenken. Ich muß hinaus um nachzudenken.‹

Es war ein Glück, daß er nicht sofort die Tür aufzureißen versuchte. Er schob nur Kopf und Schultern durch das Fenster und rief den Kutscher an. Sie sah die Folgen vor Augen – die Droschke würde halten, eine Volksmenge sich um den wütenden alten Herrn sammeln . . . In dem schrecklichen Schicksal, eine Frau zu sein, so voll feiner Gefühlsschattierungen, zarter Empfindlichkeiten (bei recht geringen Gegenwerten), kann man natürlich nie wissen, vor welche harte Aufgabe man jeden Augenblick gestellt werden kann. Ohne Zögern faßte Flora ihren Vater um den Leib, riß ihn zurück – und wunderte sich über die Leichtigkeit, mit der sie es fertigbrachte, ihn auf seinen Platz zu drücken. Sie hielt ihn dort entschlossen fest, indem sie ihm eine Hand gegen die Brust drückte, lehnte sich über ihn und schob nun ihrerseits Kopf und Schultern aus dem Fenster hinaus. Unterdessen war die Droschke schon an den Straßenrand gefahren und hatte angehalten. ›Nein! Ich habe es mir überlegt. Fahren Sie bitte an die Adresse, die ich Ihnen zuerst genannt habe. Nach den Docks!‹

Sie wunderte sich über die Festigkeit ihrer Stimme. Sie hörte den Kutscher knurren, und die Droschke fuhr weiter. Da erst ließ sie sich wieder auf ihren Platz fallen, behielt aber ihren Gefährten wachsam im Auge. In diesem Augenblick erschien er ihr kaum als etwas anderes. Abgesehen von ihren Kindheitserinnerungen war er einfach – ein Mann. Fast ein Fremder. Wie sollte man mit ihm umgehen? Und da war auch noch der andere, ebenfalls beinahe ein Fremder. Es war schwer, eine Frau zu sein. Zu schwer fast. Flora schloß die Augen und sagte sich: ›Wenn ich zuviel darüber nachdenke, werde ich verrückt.‹ Dann schlug sie die Augen auf und fragte ihren Vater, ob ihm die Aussicht denn gar so unerträglich erscheine, immer mit seiner Tochter leben zu können, von ihrer Liebe umsorgt zu sein, fern von einer Welt, die seinen grauen Haaren keine Ehrfurcht mehr zu erweisen hatte.

›Sag' mir, ist es wirklich so schlimm?‹

Sie stellte die Frage traurig, ohne Bitterkeit. Der berühmte – oder berüchtigte – de Barral hatte seine Fassung verloren. Er war gebeugt. Es gibt nichts Jämmerlicheres als einen verbogenen Schürhaken. Er sagte nichts. Sie fügte liebreich hinzu, und unterdrückte dabei einen vorwurfsvollen Seufzer:

›Und es hätte schlimmer sein können. Du hättest vielleicht niemanden finden können. Niemanden in dieser Stadt, niemanden in der ganzen Welt. Nicht einmal mich, armer Papa!‹

Sie machte eine reuevolle Bewegung auf ihn zu. Und dachte dabei: ›Oh, ich bin schrecklich, schrecklich!‹ Und der alte de Barral, erschreckt, müde, bestürzt von den ungewöhnlichen Eindrücken seiner Befreiung, ließ sich vornübersinken und legte seinen Kopf an ihre Schulter, als beweinte er die wiedergewonnene Freiheit.

Die Bewegung an sich war rührend. Flora stützte ihn leicht und stellte sich vor, daß er weinte. Und bei dem Gedanken, daß dies graue, erbarmungswürdige Haupt nun keinen Ruheplatz mehr haben würde, wenn sie diese Schulter zugleich mit anderen ihrer Gebeine in einem Steinbruch zerschmettert hätte, bei diesem Gedanken ließ auch sie den Tränen freien Lauf. Sie flossen langsam und milderten den Druck ihrer überspannten Nerven. Plötzlich stieß er sie von sich weg, so daß ihr Kopf an die Seitenwand schlug; de Barral selbst warf sich zurück wie gebissen.

Alle Wärme verflog aus ihrem Herzen. Sie fühlte, wie die letzten Tränen auf ihren Wangen erkalteten. Doch sie hatten ihren Zweck erfüllt. Sie hatte nach Art der Frauen Mut und Entschlußkraft in erlösenden Tränen gefunden. De Barral hielt die Hand über die obere Gesichtshälfte, sei es, um seine Augen zu verbergen oder um sich vor einem unerträglichen Anblick zu schützen. Dabei geriet er in seiner Ecke mehr und mehr in seine gewöhnliche, bolzengerade Steifheit hinein. Sie sah ihn schweigend an, und seine dünnen, eigensinnigen Lippen zuckten. Er sprach den Namen des Vetters aus, des Mannes, du weißt ja, dem die Fynes nicht paßten. Und den der kleine Fyne, mit Recht oder Unrecht, im Verdacht eigennütziger Beweggründe hatte, weil de Barral vielleicht vor dem Krach etwas beiseite geschafft haben konnte.

Ich kann dir gleich sagen, daß ich nichts weiter von ihm weiß. De Barral aber sprach mit seiner leisen Stimme unter der vorgehaltenen Hand die Meinung aus, daß dieser Verwandte nur zu froh gewesen wäre, sich ihn als Berater zu sichern.

›Natürlich hätte ich nicht unter meinem eigenen Namen auftreten können. Aber der Rat eines Mannes von meiner Erfahrung ist bares Geld für jedermann, der sich in Geschäfte einlassen will. Dieselbe Sache könnte ein zweites Mal gemacht werden.‹

Er scharrte ein wenig mit den Füßen, ließ die Hand sinken. Dann wandte er seine aufgequollenen, runden Backen, sein Doppelkinn, das auf dem Kragen ruhte, der Tochter zu und umfing sie mit einem vorwurfsvollen Blick der müden, blassen Augen, die von Tränen feucht waren.

›Der Anfang hängt ganz einfach von geschickter Reklame ab. Das ist nicht schwer. Du gehst her und . . .

Er wandte sich ab. Schließlich bin ich doch immer noch de Barral, der eine de Barral. Hast du das nicht bedacht?‹

›Papa,‹ sagte Flora, ›hör' zu! Du mußt es bedenken, daß es nicht länger mehr einen de Barral gibt . . .‹ Er sah sie von der Seite her ängstlich an. ›Es gibt einen Herrn Smith, den kein Kummer, keine Sorge mehr berühren kann, auch nicht die niederträchtigen Lügen böser Menschen.‹

›Herr Smith‹, hauchte er. ›Wo gehört der hin? Es gibt nicht einmal ein Fräulein Smith.‹

›Es gibt deine Flora.‹

›Meine Flora! Du bist hergegangen und . . . Ich kann nicht daran denken. Es ist entsetzlich.‹

›Ja, es war mitunter entsetzlich genug‹, stimmte sie nachdrücklich bei, denn ihr klangen die Worte dieses Mannes wie ein etwas übersteigerter Ausdruck ihrer eigenen Gedanken immer noch in den Ohren. ›Ich denke jetzt oft ganz beschämt daran, wie ich . . . Nein, noch nicht. Ich werde es dir nicht sagen. Jetzt wenigstens nicht.‹

Die Droschke fuhr durch die Docktore. Flora gab ihrem Vater den Glanzhut in die Hand. ›Hier, Papa. Und bitte, sei gut. Ich denke, du liebst mich? Wenn du es nicht tust, dann möchte ich wissen, wer . . .

Er setzte sich den Hut auf, lehnte steif in seiner Ecke und schoß von der Seite her einen Blick auf seine Tochter. ›Versuche es mir zuliebe, nett zu sein. Denke doch an die Jahre, die ich auf dich gewartet habe! Ich brauche wirklich ein wenig Unterstützung und Frieden. Ein wenig Frieden!‹

Sie umklammerte plötzlich heftig seinen Arm und drückte mit aller Macht, als wollte sie den Widerstand zermalmen, den sie in ihm fühlte. ›Ich könnte keinen Frieden finden, wenn ich dich nicht bei mir hätte. Ich will dich nicht gehen lassen. Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe. Ich will nicht!‹

Die nervöse Kraft ihres Zugriffs erschreckte ihn ein wenig. Sie lachte plötzlich. ›Es ist töricht. Es ist ja, als wollte ich dich um ein Opfer bitten. Wovor fürchte ich mich denn? Wo könntest du hingehen? Ich meine jetzt, heute, heute Abend? Du kannst es mir nicht sagen? Hast du daran gedacht? Nun, ich habe das ganze letzte Jahr daran gedacht. Noch länger. Ich bin beinahe verrückt geworden darüber. Ich glaube, ich war sogar eine Zeitlang verrückt, sonst wäre es mir nie eingefallen . . .‹«

 

»Weiter als bis hierher kam sie in ihrem Geständnis nicht«, fuhr Marlow in verändertem Tone fort. »Ich meine, mit dem Eingeständnis ihres Ganges auf die Spitze des Steinbruchs, woraus sie sich selbst einen so bitteren Vorwurf machte. Und er machte daraus, was ihm die Laune eingab. Keinesfalls wohl ein richtiges Bild. Die Droschke hielt längsseit des Schiffs, und sie stiegen aus, wie es der gefühlvolle Franklin später beschrieben hat. Ich weiß nicht, ob sie am Ende jener Fahrt einer an des anderen geistiger Gesundheit zweifelten. Es wäre immerhin möglich. Jeder von uns erscheint ja den anderen immer ein wenig verrückt; eine ausgezeichnete Einrichtung für die große Masse der Menschheit, die darin einen leicht faßlichen Grund zur Vergebung findet. Flora überquerte das Achterdeck mit einer Schnelligkeit, die durch Angst beflügelt war. Es war unerträglich geworden. Sie wollte die Sache zu einem Ende gebracht sehen. Sie war dankbar, als sie bei einem Blick nach rückwärts feststellen konnte, daß ihr Vater ihr folgte. ›Wenn er abspringt‹, dachte sie, ›dann werde ich genau wissen, daß ich nichts zu bedeuten habe! Daß niemand mich liebt! Daß Worte und Taten, alle Gegenwehr und alles sonst auf dieser Welt falsch ist – und werde ins Wasser springen. Das zumindest wird nicht lügen!‹

Nun, ich weiß nicht. Wäre es dazu gekommen, so wäre sie höchstwahrscheinlich herausgefischt worden, wie es ja bei ihrem natürlichen Mangel an Glück und den vielen Leuten auf den Kais und an Bord kaum zu vermeiden gewesen wäre. Und gerade neben dem Liegeplatz der Ferndale hingen an einer Mauer (ich kenne den Platz) ein aufgeschossenes Tau, eine Stange und ein Rettungsring für die Leute bereit, die etwa ins Wasser fallen konnten. Es ist nicht so einfach, den Tücken des Lebens zu entgehen, wie sie sich wohl dachte. Doch es kam ja nicht dazu. Er folgte ihr mit seinen kurzen, gleitenden Schritten. Herr Smith! Der entlassene Sträfling de Barral ging zum letzten Male über den festen Boden, verschwand für immer, und der Meereswelt, die so viele absonderliche Fische beherbergt, wurde ein Herr Smith hinzugefügt, ein alter Herr im Seidenhut, der verstohlen um sich sah. Er folgte, weil das bloße Dasein Anforderungen stellen kann, denen man sich mechanisch fügt. Ich zweifle nicht daran, daß er einen ehrbaren Anblick geboten hat. Schwiegervater! Nichts Ehrbareres denkbar. In seinem Herzen aber trug er die wirre Qual des Hasses und der Zuneigung, des Widerwillens und des Mitleids. Ganz wie seine Tochter. Nur daß er darüber hinaus noch wütende Eifersucht gegen den Mann empfand, den er nun sehen sollte.

Jede Zuneigung, sogar eine väterliche, zeigt Rückstände von Selbstsucht. Und dieser Mann hatte sich in der Abgeschlossenheit des Gefängnisses in einen Begriff so unbedingten Eigentums an diesem einzelnen Menschenwesen hineingesteigert, wie er uns, die wir ja keine lange (und verzweifelt ungerechte) Gefängnisstrafe abzusitzen gehabt haben, unbegreiflich scheinen muß. Sie war für seine Gedanken tatsächlich durch Jahre der einzige Rückhalt, der einzige Ruhepunkt gewesen. Ihr hatte seine ganze Einbildungskraft gegolten. Zwar besaß er nicht viel davon, das Wenige aber wurde durch keinerlei Ablenkung geschwächt. Er fühlte sich gekränkt, und das mochte vielleicht töricht sein, doch glaube ich, weit eher dem Ausmaß als der Tatsache nach. Ich denke mir, daß kein Durchschnittsvater sich gerne von seiner Tochter trennt. Nein. Nicht einmal, wenn er nüchtern feststellt, daß er ›das Mädel nun vom Halse hat‹, oder sich vielleicht über eine ganz ausgezeichnete Verbindung freut. Im Grunde, ganz tief unten im Dunklen (manchmal nur durch Nachwühlen) ist immer ein gewisser Widerwillen zu finden . . . Bei Müttern ist es natürlich anders. Frauen wissen besser Treue zu halten, nicht untereinander, aber doch ihrer gemeinsamen Weiblichkeit, die sie mit geheimem Stolze hochhalten.

Die Begleitumstände dieser Verbindung steigerten Herrn Smiths Entrüstung. Und wenn er seiner Tochter in die Kajüte des Schiffes folgte, so geschah es mit dem Gefühl, in ein verrufenes Haus zu gehen, und nur deshalb, weil ihn die Plötzlichkeit des Ganzen überrumpelt hatte. Sein Wille, der so lange brachgelegen hatte, war durch ihre Entschlossenheit sowie durch eine leise Angst vor der neuen Freiheit gelähmt worden.

Es wird dich freuen, zu hören, daß sich Anthony, obwohl er der Begrüßung auf dem Kai ausgewichen war, doch wunderbar benahm, mit der ganzen Einfachheit eines Mannes, der keine kleinlichen Abneigungen und Vorurteile kennt. Sein Blick flatterte nicht und seine Zunge strauchelte nicht. Er war, das habe ich aus der besten Quelle, geradezu bewundernswert in seinem Ernst, seiner Offenheit und Zurückhaltung. Er war vollendet. Dennoch reichte die lebendige Kraft seiner Persönlichkeit und die vertrauliche Redeweise hin, um Herrn Smith aufzubringen. Flora sah ihren Vater in seiner ganzen beträchtlichen Länge zittern, obwohl er sich, wenn möglich, noch steifer hielt als sonst. Er stotterte ein wenig und brachte schließlich, nicht laut, aber doch vernehmbar die Worte heraus: ›Ich bin unter Protest hier.‹ Seine Mundwinkel senkten sich verzweifelt, seine Augen wurden wie Stein. ›Ich bin unter Protest hier. Ich bin infolge einer Verschwörung eingesperrt worden, ich . . .

Er hob die Hand an die Stirne – sein Glanzhut lag auf dem Tischrand; er hatte ihn mit einer verzweifelten Gebärde beim Eintritt dahin geworfen – er hob die Hand an die Stirne. ›Es scheint mir unanständig. Ich . . .‹ Wieder brach er ab. Anthony sah Flora an, die neben ihrem Vater stand.

›Nun, mein Herr, Sie werden sich bald an mich gewöhnen. Sicherlich müssen doch Sie und Ihre Tochter von den Leuten an Land und ihrem versteckten Getue übergenug haben, daß es Ihnen beiden ein Leben lang reichen kann. Sie sind ja überdies auch noch so unerhört barmherzig. Fragen Sie Flora. Dabei denke ich an meine eigene Schwester, ihre beste Freundin. Durchaus nicht die schlechteste unter den Frauen, wie man sie so landläufig trifft.‹

Der Kapitän der Ferndale brach ab. ›Ein Glück, daß ich da war und eingreifen konnte. Ich möchte, daß Sie sich hier wie zu Hause fühlen, und über kurz oder lang . . .

Der müde Blick des großen de Barral brachte Anthony durch seine ausdruckslose Starrheit zum Schweigen. Er winkte Flora mit den Augen nach der Türe der Staatskajüte zu, die eigens für Herrn Smith, den feinen Mann, neu eingerichtet war. Flora faßte den feinen Mann liebreich unter den Arm und nahm seinen Hut vom Tisch. ›Ja, das ist zu Hause! Komm und sieh dir dein Zimmer an, Vater.‹

Anthony öffnete selbst die Türe, und Flora schloß sie behutsam hinter sich und ihrem Vater. ›Sieh doch‹, begann sie, brach aber gleich ab, denn es war klar, daß er nichts von allem, was für seine Bequemlichkeit geschaffen war, eines Blickes würdigen würde. Sie hatte sich vorher selbst kaum richtig umgesehen. Er blickte auf den neuen Teppich nieder, und sie wartete, bis er die Augen aufschlagen würde.

Das tat er nicht, sondern sprach mit seiner gewöhnlichen Stimme: ›So ist also das dein Mann, dieser . . . Und ich eingesperrt!‹

›Papa, was soll es für einen Zweck haben, das immer wieder aufzuwärmen‹, warf sie ihm leise vor. ›Er ist gütig.‹

›Und du bist hergegangen und hast ihn . . . geheiratet, damit er gütig gegen mich sein sollte. Ist es das? Wie wußtest du denn, daß ich irgend jemanden brauchte, der gütig gegen mich sein sollte?‹

›Wie merkwürdig du bist!‹ sagte sie nachdenklich.

›Es ist hart für einen Mann, der das durchgemacht hat, was ich durchgemacht habe, so wie andere Leute zu empfinden. Ist dir das nie in den Sinn gekommen? . . .‹ Endlich sah er auf: ›Frau Anthony, ich kann den Anblick des Burschen nicht ertragen!‹ Sie hielt seinen Blick aus, ohne zu zucken, und er fügte hinzu: ›Du möchtest wohl jetzt zu ihm gehen?‹ Seine milde, eintönige Sprechweise schien das Ergebnis unerhörter Selbstbeherrschung – und doch kannte sie ihn nicht anders als so. Ihr wurde ganz kalt.

›Nun, natürlich muß ich zu ihm gehen‹, sagte sie mit einer gewissen Unruhe.

Er knirschte mit den Zähnen, und sie ging hinaus.

Anthony hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er hielt eine Hand auf den Tisch gestützt. Sie ging zu ihm hin, zögerte einen Augenblick, trat dann noch näher: ›Danke, Roderick.‹

›Du brauchst mir nicht zu danken‹, murmelte er. ›Ich bin es, der . . .

›Nein, vielleicht brauchte ich es nicht. Du machst, was dir beliebt. Aber du machst es gut.‹

Er seufzte und fügte, kaum noch geflüstert, denn sie standen nahe an der Tür der Staatskajüte, die Frage hinzu: ›Aufgeregt, wie?‹

Sie machte kein Zeichen, gab keinen Laut von sich. Die grundfalsche Lage lastete auf ihnen beiden. Doch er zeigte sich tapferer. ›Kann mir's wohl denken. Im ersten Augenblick. Hast du daran gedacht, ihm zu sagen, daß du glücklich bist?‹

Sie lächelte ihm schwach zu: ›Er hat mich gar nicht danach gefragt.‹ Seine Ruhe enttäuschte sie. ›Ich habe nicht mehr gesagt, als unerläßlich notwendig war – von mir selbst.‹ Sie begann sich über den Mann ein wenig zu ärgern. Dann aber meinte sie in plötzlicher Nachgiebigkeit: ›Ich habe ihm gesagt, daß ich großes Glück gehabt habe‹, denn sie vermißte Anthonys herrische Art, dies Rauhe und doch Zarte, das sie nach dem ersten Schreck mit einer gewissen Sehnsucht zu erwarten gelernt hatte. Er sah sie ziemlich ausdruckslos an. Sie hatte Hut und Handschuhe nicht abgelegt, sah wie eine Besucherin aus und machte nun eine Bewegung, als wollte sie einen nicht eben erfreulichen Geschäftsbesuch beenden. ›Vielleicht wäre es besser, wenn wir gleich an Land gingen; noch ist es Zeit dazu.‹

Er gewährte ihr Einblick in sein unbeherrschtes Ich durch den Ausruf: ›Untersteh dich!‹ der ihm wie ein Blitz aus dem Munde fuhr.

›Untersteh dich! . . . Was gibt's?‹

Diese letzten Worte zielten nicht auf sie, sondern auf jemanden hinter ihrem Rücken. Ein Blick über die Schulter zurück zeigte ihr den kahlen, von schwarzen Haarbüscheln umstandenen Kopf des getreuen Franklin (er trug seine Mütze in der Hand), der von der Salontüre her mit seinen Hummeraugen herüberstarrte. Man hörte ihn aus der Ferne im Ton gekränkter Unschuld sagen, daß der Hafenmeister längsseit sei und das Schiff ins Außendock schleppen lassen wolle, bevor die Mannschaft an Bord käme.

Der Kapitän knurrte: ›Nun gut, soll er's tun‹, und wehte mit einer Handbewegung die wunde, treue Seele davon, die hinter den vorstehenden Augen wohnte. Diese Augen waren starr auf die gehaßte Frau gerichtet, während der Erste sich langsam zurückzog. Anthony wandte sich Flora zu.

›Das kann nicht dein Ernst gewesen sein. Du bist die Geradheit selbst.‹

›Ich versuche es zu sein.‹

›Dann mach' keine solchen Scherze. Denke daran, was aus mir werden würde.‹

›O ja, das habe ich vergessen. Ich wollte es nicht. Es war kein Scherz. Es war Vergeßlichkeit. Dir hätte kein Unrecht geschehen sollen. Ich hätte gar nicht gehen können. Ich – ich bin zu müde.‹

Er sah sie im Stehen schwanken und hielt sich mit Mühe zurück, sie in die Arme zu nehmen; seine kräftige Gestalt zitterte vor Angst, als hätte er die Versuchung zu einer unerhört gemeinen Handlung niederzukämpfen. Er trat beiseite, senkte den Kopf und wies auf die Türe zur Heckkabine. Er sah erst auf, als sie an ihm vorbei war und bemerkte daher den ärgerlichen Blick nicht, den sie ihm vor dem Weggehen zugeworfen hatte. Er sah ihr nach. Sie schwankte etwas, knapp bevor sie die Türe erreichte, und schlug sie gereizt hinter sich zu.

Anthony – er hatte den Krach empfunden, als wäre die Türe in seiner eigenen Brust zugeschlagen worden – stand einen Augenblick reglos und rief dann nach Frau Brown. Das war die Frau des Stewards, sein glücklicher Einfall, um es Flora bequem zu machen. ›Frau Brown! Frau Brown!‹ Schließlich tauchte sie von irgendwoher auf. ›Frau Anthony ist an Bord gekommen. Gerade in ihre Kajüte gegangen. Sie sollten fragen gehen, ob Sie ihr behilflich sein können.‹

›Sehr wohl, Herr.‹

Und wieder war er allein, Auge in Auge mit der Sachlage, die er in der Vermessenheit und Lebensfremdheit seines Herzens sich geschaffen hatte. Es fiel ihm ein, daß er lieber auf Deck gehen sollte. Tatsächlich hätte er längst zuvor dort sein müssen. Jedenfalls war sein richtiger Platz auf Deck. Doch ein Geräusch wie Stimmengemurmel, von schwachen Schlägen begleitet, irgendwo in der Nähe, weckte seine Aufmerksamkeit. Er stellte fest, daß das Geräusch aus Herrn Smiths Wohnraum kam. Es war ganz ungewöhnlich. ›Er spricht mit sich selbst‹, dachte er. ›Er scheint mit den Fäusten – oder mit seinem Kopf – gegen die Schotten zu hämmern.‹

Anthonys Augen wurden ganz groß vor Staunen, während er den Geräuschen lauschte. Er horchte so aufmerksam, daß er Frau Brown nicht eher bemerkte, als bis sie unmittelbar vor ihm mit den Worten stehenblieb:

›Frau Anthony braucht keine Hilfe, Herr.‹

 

Du mußt wissen, daß dies alles geschah, bevor Herr Powell – damals noch Jung Powell – auf die Ferndale kam, dank dem Zufall, der seine Anfänge gerade auf dieses eine Schiff im Hafen von London verlegte. Das ruheloseste Schiff, das je einen Hafen auf Erden verließ. Damit meine ich nicht seine Seetüchtigkeit. Herr Powell sagte mir, daß die Ferndale so wenig schlingerte wie eine Kirche. Ruhelos meine ich im gleichen Sinne, in dem zum Beispiel auch unser Planet ruhelos ist – Träger einer eigenen Atmosphäre, durch Leidenschaft, Eifersucht, Liebe, Haß und überspannte gute Absichten getrübt; diese letzteren, wenn auch ethisch wertvoll, sind meiner Ansicht nach zweifellos die Ursache größerer Verwicklungen als die ärgste Heimtücke. All denen, die sich weigern, an den Zufall zu glauben, muß Herr Powell offenbar dazu vorherbestimmt erschienen sein, seine angeborene Herzenseinfalt zu all der sonstigen hinzuzufügen, die das brave Schiff Ferndale trug. Er war allzu arglos. Das war jedermann an Bord; mit Ausnahme vielleicht des Herrn Smith, der aber allerdings in seiner eigenen Art auch noch einfältig genug war; einfältig infolge des furchtbaren Vorherrschens einer fixen Idee, deren wahren Namen man nur mit Furcht und Abscheu auszusprechen wagt. Seine fixe Idee war es, seine Tochter von dem Mann zu erretten, der sich ihrer bemächtigt hatte (ich gebrauche diese Worte absichtlich, denn sie entsprechen offenbar dem Bild, das in Herrn Smiths Kopf lebte). Sich des Mädchens in fast verbrecherischer Weise bemächtigt hatte, während er, der Vater, eingesperrt war.

›Ich will nicht ruhen, bevor ich dich von diesem Manne weggebracht habe‹, pflegte der Alte nach Pausen toten Schweigens zu murmeln. Wir wissen von Powell, daß er auf dem Deckfenster nahe dem Liegestuhl zu sitzen pflegte, auf dem Flora lag, und ihr von oben her mit einem halb wachsamen, halb forschenden Ausdruck ins Gesicht sah.

Es ist fast unmöglich, zu sagen, ob er die Ereignisse jemals vernünftig betrachtet hat. Die Verwandlung de Barrals in einen Herrn Smith war nicht ohne Erschütterung vor sich gegangen – das muß anerkannt werden. Vielleicht war dadurch jede vernünftige Überlegung aus seinem Kopf verbannt worden und hatte furchtbaren Gesichten Platz gemacht, die sich nachher nicht mehr vertreiben ließen. Vielleicht war es auch nur der Starrsinn, der unintelligente Starrsinn des Mannes, der hartnäckig Millionen und Millionen von anderer Leute Spargeldern in die Lone-Valley-Bahn, die Labrador-Docks, die Spotted-Leopard-Kupferminen und andere groteske Spekulationen gesteckt hatte, wie sie während des berüchtigten Prozesses zur allgemeinen Verwunderung und Belustigung an den Tag kamen. Denn die Gerichtshöfe sind es, die in unserer tödlich ernsthaften Welt der Komödie letzte Zuflucht bieten. Tränen und Wehklagen wurden auf dieser erhabenen Bühne nicht gehört; die füllten insgeheim viele tausend Heimstätten, wo, mit feiner dramatischer Wirkung, der Hunger an die Stelle des Aufschwungs getreten war.

Einen Mann aber gab es, einen einzigen, der in das Gelächter während der Verhandlung nicht einstimmte. Dieser einzige war der Angeklagte. Der bekannte de Barral lachte nicht, weil er entrüstet war. Er zeigte sich Worten, Tatsachen, Beweisen unzugänglich. Es wäre unmöglich gewesen, ihm seine Schuld vor Augen zu führen oder seine Narrheit – sei es auch durch die zwingendsten Gründe oder Beweise –, wenn irgend jemand sich dazu die Mühe genommen hätte.

Auch seine Tochter Flora versuchte nicht, mit Gründen gegen ihn anzugehen. Ihre Stellung war so grausam, so dornig, wenn ich so sagen darf, daß es das beste schien, sie tatenlos hinzunehmen – wie es vor ihr so vielen Frauen als das beste erschienen war.

Diese Tatenlosigkeit der Frau ist immer rätselhaft und daher bedrohlich. Man steht unschlüssig davor. Eine Frau kann eine Närrin sein, schläfrig, aufgeregt, böswillig, vielleicht auch einfach dumm. Niemals aber ist sie begriffsstutzig. Sie ist nie durch und durch aus Holz, wie so viele Männer es sind. In einer Frau ist immer irgendwo eine verborgene Feder. Was immer auch Männer von Frauen nicht wissen mögen (und das mag viel sein oder ganz wenig): dies eine wissen doch alle Männer und auch die Väter. Und das ist auch der Grund, warum so viele von ihnen die Frauen fürchten.

Auch Herr Smith fürchtete, glaube ich, die Ruhe seiner Tochter, obwohl er sie natürlich nach seiner eigenen Art auslegte.

Er pflegte, wie Herr Powell erzählt, auf dem Deckfenster zu sitzen, sich über das daliegende Mädchen zu beugen, und fragte sich dabei wohl, was hinter dem verlorenen Blick unter den dunklen Lidern liegen mochte. Er schaute und schaute und sagte dann nur, oder flüsterte vielmehr (seine Stimme brauchte nicht viel, um zum bloßen Hauch zu werden), flüsterte, während er seinen blassen Blick ins Weite abwandte, daß er nicht ruhen wollte, bevor er sie ›von dem Manne da losgebracht hätte‹.

›Du weißt nicht, was du sprichst, Papa.‹

Sie bemühte sich, ihre Qual zu verbergen, die nervöse Überreizung wegen der Gegnerschaft der beiden Männer über ihre eigene Person, die der Grund ihres langsamen Hinkümmerns war. Das Seeleben übrigens schlug ihr gut an.

Meistens ging Anthony unterdessen auf der anderen Seite des Decks auf und ab. Die Anspannung raubte ihm die Ruhe. Er konnte nirgends stille sitzen. Er hatte es versucht, sich in seiner Kabine einzuschließen, doch das tat nicht gut. Er sprang immer wieder auf, rannte an Deck und wanderte auf der Hütte auf und nieder, auf und nieder, bis er niederzustürzen meinte; dabei gelang es ihm doch nicht, seine seelische Erregung niederzukämpfen, denn alle seine Großmut konnte nichts daran ändern, daß er ein Mensch von Fleisch und Blut war; sein Hirn, durch seinen Willen gehemmt, spiegelte ihm doch ewig dieselben Bilder vor, er verlor sich in endlose Grübeleien, lauerte auf eine Andeutung oder ein Zeichen.

Und Herr Smith wiederholte dann wohl in seiner furchtbar eintönigen, liebenswürdigen Stimme, mit einem leichten Kopfwink nach den Schritten jenseits des Deckfensters, daß er recht wohl wisse, was er sage. Hatte sie sich etwa nicht dem Mann gegeben, während er selbst eingesperrt war?

›Hilflos, im Gefängnis, ohne jemanden, an den ich hätte denken, auf den ich mich hätte freuen können, außer meiner Tochter. Und als sie mich dann schließlich herauslassen, finde ich diese Tochter verloren – denn darauf kommt es hinaus. Verkauft. Du hast dich selbst verkauft; du weißt, daß das wahr ist.‹

Sein rundes, unbewegtes Gesicht, die Büschel schütteren, weißen Haares, die im Luftzug wehten, der weit über die See hinaus gerichtete Blick erweckten den Eindruck, als ob er über das liegende Mädchen weg zur Unendlichkeit spräche. Manchmal setzte sich Flora zur Wehr.

›Ich wollte, daß du nicht so sprächest, Papa. Du quälst mich nur damit und dich selbst auch!‹

›Jawohl, ich bin gequält genug‹, gab er bedeutungsvoll zu. Aber nicht das Sprechen davon war es, das ihn quälte. Es war das Denken. Dazusitzen und alles mit anzusehen, war schlimmer für ihn, als es für sie gewesen sein konnte, sich selbst aufzugeben, so schlimm das auch gewesen sein mochte.

›Denn natürlich hast du darunter gelitten. Sag' mir nicht nein. Du mußt gelitten haben.‹

Sie gab sehr bald jeden Gedanken an Widerspruch auf. Es war zwecklos, konnte die Sache nur verschlimmern; auch wünschte sie nicht, mit ihrem Vater zu streiten, dem einzigen menschlichen Wesen, von dem sie wirklich geliebt wurde, unbedingt, offenbar, bis zum letzten. In ihm war kein Mitleid, keine Großmut, nichts von all den schönen Dingen – ihr eigenes Selbst war es, ohne jedes Beiwerk, das er liebte. Diese Gewißheit hätte sie mit schlimmeren Qualen aussöhnen können. Denn natürlich quälte auch sie sich. Sie fühlte eine gewisse Hoffnungslosigkeit, als ginge das ganze Unternehmen über ihre Kräfte. Das ist die Art von Überzeugung, die schließlich eine außerordentliche Ruhe zuwege bringt. Sie war auf dem Wege, Fatalistin zu werden.

Am furchtbarsten müssen sich wohl die Notwendigkeiten des täglichen Lebens bemerkbar gemacht haben, die laufenden Kleinigkeiten. Denn natürlich ging der Alltag seinen Gang. Sie wünschten einander guten Morgen, saßen bei den Mahlzeiten zusammen – und ich glaube auch, daß dann und wann abends, besonders in der ersten Zeit, eine Kartenpartie zustande kam. Was Flora am meisten erschreckte, das war die Falschheit ihres Vaters, zumindest das, was ihr als Falschheit erschien, wenn sie an sein eindringliches, unaufhörliches Flüstern an Deck dachte. Zwar war ja ihr Vater immer schweigsam gewesen, solange sie denken konnte – damals auf der Promenade. Sie war es gewesen, die geplappert und sich gemüht hatte herauszubringen, ob es ihm Spaß machte oder nicht. Und nun konnte sie seine Gedanken nicht ergründen. Sie plapperte auch nicht mehr. Anthony saß mit einem freundlichen Lächeln dabei, das auf seinen Lippen festgefroren schien, und war offensichtlich dankbar, daß man ihn nicht zum Sprechen nötigte. Herr Smith vergaß sich mitunter und studierte seine Karten so lange, daß Flora ihn mit einem gemurmelten ›Papa, deine Vorhand!‹ zu sich selbst bringen mußte. Dann entschuldigte er sich mit einem schwachen ›Verzeihung, Kapitän‹, als spräche er zu sich selbst. Natürlich nannte sie Anthony Roderick und er sie Flora. Das war, nach dem bitteren Zucken um die Lippen des alten Mannes bei jedem ausgesprochenen ›Flora‹ zu urteilen, die einzige Verstellung, die nötig war. Wenn er das seltene ›Roderick‹ hörte, so zeigte er mitunter einen Ausdruck von Geringschätzung, der blaß, farblos und welk war, wie seine ganze hölzerne Persönlichkeit.

Der alte Herr zog sich stets als erster zurück. Er war nicht kränklich. Auch ihm schien das Leben an Bord gut zu bekommen; doch aus Pflichtgefühl, Zuneigung oder auch nur, um seine geheime Wut zu besänftigen, begleitete seine Tochter ihn immer in den Schlafraum, um ›es ihm bequem zu machen‹. Sie zündete die Lampe an, half ihm in den Schlafrock oder holte ihm auch ein Buch aus dem eingebauten Bücherkasten – dies letztere aber nur selten, denn Herr Smith pflegte zu erklären: ›Ich bin kein Leser‹, mit etwas wie Stolz in seiner leisen Stimme. Sehr oft gab er ihr, während er sie zum Gute-Nacht auf die Stirne küßte, noch eine häßliche Bemerkung mit, wie zum Beispiel: ›Es ist wie im Gefängnis, auf mein Wort! Der Mann wartet wohl dort draußen auf dich! Gefängniswärter! Uff!‹

Dazu lächelte sie nur geistesabwesend und murmelte vielleicht ein besänftigendes ›Wie töricht!‹ Einmal aber verlor sie die Geduld und sagte ganz scharf: ›Laß das sein! Es kränkt mich! Man könnte glauben, du haßtest mich.‹

›Nicht du bist es, die ich hasse‹, hauchte er ihr zu. ›Nein, du bist es nicht. Müßte ich aber sehen, daß du den Mann liebst, dann, glaube ich, könnte ich auch dich hassen.‹

Die Worte trafen sie mitten ins Herz. ›Dann wärst du nicht der erste‹, murmelte sie bitter. Er aber hing schon wieder seiner fixen Idee nach und hatte dafür nur ein furchtbar gleichmütiges ›Aber du tust es ja nicht! Unglückseliges Mädel!‹

Sie sah ihn eine Weile fest an und sagte dann: ›Gute Nacht, Papa!‹

Anthony wartete übrigens sehr selten auf sie, alleine an dem Tisch, auf dem Karten, Gläser, der Wasserkrug, Flaschen und so weiter herumstanden. Er suchte nicht mehr Gelegenheit, mit ihr alleine zu sein, als zur Erbauung der Frau Brown unerläßlich schien. Ausgezeichnete, verläßliche Frau! Das Weib seines noch ausgezeichneteren und verläßlicheren Stewards. Und Flora wünschte alle diese ausgezeichneten Leute, die Anthony so ergeben waren, wünschte sie alle weiter; und ganz besonders die nette, glattzüngige Frau Brown mit ihren frischen Augen und dem ewigen ›Jawohl, gewiß, Madam‹, das spöttisch zu klingen schien.

Und nun ging also diese kurze Reise – nur bis zu den Azoren – zu Ende. Sie war so kurz, daß, als Jung Powell infolge eines bemerkenswerten Zufalls auf die Ferndale kam, nicht mehr als sieben Monate vergangen waren, seit, sagen wir, seit der Befreiung des Sträflings de Barral und seiner Umwandlung in einen Herrn Smith.

 

Für die Zeit, in der das Schiff in London Ladung einnahm, hatte Anthony ein Landhaus in der Nähe einer kleinen Bahnstation in Essex gemietet, um dort Herrn Smith und seine Tochter unterzubringen. Die Idee stammte ganz allein von ihm. Wie weit Herr Smith es nötig hatte, sich in ländliche Einsamkeit zurückzuziehen, kann ich nicht sagen. Vielleicht war es in mancher Hinsicht eine kluge Maßnahme. Es gab einige Verpflichtungen für den freigelassenen de Barral (in der Art etwa, daß er sich bei der Polizei zu melden hatte), auf deren Einhaltung Herr Smith keinen Wert legte. De Barral mußte verschwinden; es war ausgemacht, daß de Barral verschwunden war, und das mußte durchgehalten werden. Die arme Flora liebte das Leben auf dem Lande, wenn auch der Erdenfleck keinen anderen Vorzug als den seiner Einsamkeit hatte.

Dann und wann fuhr Kapitän Anthony hinaus; da aber die Station wirklich abgelegen war, ohne frühen Morgenzug, so konnte er immer nur nachmittags bleiben. Es ergab sich, daß er in der Stadt schlafen mußte, um morgens rechtzeitig an Bord seines Schiffes sein zu können. Das Wetter war prachtvoll, und sooft der Kapitän der Ferndale an irgendeinem strahlenden Nachmittag die Straße herabkam, pflegte Herr Smith seinen Spazierstock zu nehmen und sich zu einem einsamen Gang wegzustehlen. Doch sei es nun, daß er schnell müde wurde oder weil es ihm eine Genugtuung bereitete, ›den Mann‹ weggehen zu sehen – oder aus sonst einem besonders listigen Grunde: jedenfalls war er immer vor Anthonys Abfahrt zurück. Wenn er sich dem Landhaus näherte, dann sah er meistens ›den Mann‹ im Gras des Obstgartens liegen, nicht zu nahe neben seiner Tochter, die auf einem aus dem Wohnzimmer herausgeholten Stuhl saß. Herr Smith ging unweigerlich gerade auf sie zu und hatte ebenso unweigerlich den Eindruck, daß seine Annäherung kein besonders vertrauliches Gespräch störte. Er saß während einer schweigsamen Stunde oder auch länger bei ihnen, und dann war es für Anthony Zeit zu gehen. Herr Smith pflegte, vielleicht aus Rücksicht, etwa eine Minute vorher unauffällig zu verschwinden und dann durch die Butzenscheiben eines Zimmers im Obergeschoß zuzusehen, wie ›der Mann‹ sich nach der unsichtbaren Flora umblickte, den Hut zog wie ein Besucher und die Straße hinunterging. Dann erst gesellte sich Herr Smith wieder zu seiner Tochter. Das waren für sie die schlimmsten Augenblicke. Nicht immer, versteht sich, doch häufig. Es war nichts Ungewöhnliches, Herrn Smith mit einer Bemerkung etwa dieser Art beginnen zu hören:

›Der Mann bekommt dich satt!‹

Er sprach nie Anthonys Namen aus. Er hieß immer nur ›der Mann‹.

Meistens blieb sie stumm und sah mit weitoffenen Augen zwischen den knorrigen Obstbäumen durch ins Leere. Einmal aber sprang sie auf und ging ins Haus. Herr Smith folgte ihr und trug den Stuhl. Er stieß ihn hart auf den Boden und sagte in dem sanften, ausdruckslosen Ton, auf den so viele Ohren aufmerksam gelauscht hatten, als er noch von dem großen de Barral gekommen war:

›Fahren wir davon.‹

Sie hatte die Selbstbeherrschung, sich nicht abzuwenden. Im Gegenteil, sie ging auf eine kümmerliche Spiegelscheibe an der Wand zu. In dem grünlichen Glase erschien ihr ihr eigenes Gesicht weit fort, wie das bleiche Gesicht eines Ertrunkenen auf dem Grunde eines Brunnens. Sie lachte leise.

›Ich sage dir, der Mann bekommt dich . . .

›Papa,‹ unterbrach sie ihn, ›ich gebe mich über mich selbst keiner Täuschung hin. Es ist mir schon öfter so gegangen, aber . . .

Da ihr plötzlich die Stimme brach, so fiel ihr Vater mit ungewohnter Erregung ein: ›Dann gehen wir also gleich daran.‹

Nachdem sie sowohl ihre Angst wie ihre Bitterkeit niedergekämpft hatte, wandte sie sich um, setzte sich nieder und ließ ihn ihre Bestürzung sehen. Auch Herr Smith setzte sich nieder, hielt die Knie zusammen, im rechten Winkel abgebogen, die dünnen Beine genau parallel, und ließ seine Hände auf den Lehnen des Holzstuhls ruhen. Sein Haar war lang. Er trug den Kopf aufrecht, seine Erscheinung atmete dünkelhafte Würde.

›Es ist undenkbar, daß du dir etwas aus ihm machst. Sag' mir nichts. Ich verstehe deine Beweggründe. Ich habe dich ein unglückseliges Mädel genannt. Das bist du auch, genau so sehr, als wärest du auf die Straße gegangen. Jawohl. Unterbrich mich nicht, Flora! Ich wurde während der Verhandlung in einemfort unterbrochen und kann es nicht mehr ertragen. Ich will mich nicht von meinem eigenen Kind unterbrechen lassen. Und wenn ich daran denke, daß gerade an dem Tage, bevor ich freigelassen wurde, du . . .

Damals hatte er es schon fertiggebracht, diese Tatsache aus ihr herauszupressen, weil Flora es müde geworden war, der Frage ständig auszuweichen. Er hatte sich erschüttert und traurig gezeigt. War das die Zuversicht, die sie in ihn setzte? War das ein Beweis von Vertrauen und Liebe? Gerade den Tag zuvor! Ihm gar keine Möglichkeit gelassen . . . Es war wie bei der Verhandlung. Man hatte ihm keine Möglichkeit gegeben. Man wollte ihm keine Zeit lassen. Und so hatte also seine Tochter genau so gehandelt wie seine schlimmsten Feinde, hatte ihm keine Zeit gelassen!

Die eintönige, gedämpfte Stimme schläferte ihre Sorgen fast ein. Flora hörte die unvermeidlichen Dinge an, die er zu sagen hatte.

›Aber was hat den Mann bewogen, dich zu heiraten? Natürlich, er ist ein Gentleman. Das sieht man ja. Und das macht es nur schlimmer. Gentlemen verstehen nichts von Geschäften – von finanziellen Unternehmungen. Was denn! Die Leute, die die Hetze gegen mich begannen, waren eine Gesellschaft von Gentlemen: der Staatsanwalt, der Richter – lauter Gentlemen. – Keine Ahnung von irgend etwas! Nicht das geringste Verständnis . . . Und dazu ist er auch noch Seemann. Einfach ein Schiffer . . .

›Mein Großvater war nichts anderes‹, unterbrach sie ihn, und er machte eine eckige Bewegung der Ungeduld.

›Gut. Aber was versteht ein dummer Seemann von Geschäften? Nichts. Keinen Begriff. Er kann sich keine Vorstellung davon machen, was es heißt, die Tochter de Barrals zu sein – auch nachdem seine Feinde ihn zu Fall gebracht haben. Was in aller Welt hat ihn bewogen . . .

Sie machte eine Bewegung, weil die eintönige Stimme ihr auf die Nerven zu gehen begann. Er unterbrach sich, doch nur um gleich darauf in demselben Ton mit der Bemerkung fortzufahren:

›Natürlich bist du hübsch, und das ist der Grund, warum du verloren bist – wie so viele andere arme Mädchen. Unglückselig ist die Welt für dich.‹

Sie sagte: ›Mag sein; vielleicht ist das das rechte Wort. Aber höre, Papa, ich gedenke ehrenhaft zu bleiben.‹

Er flüsterte hastig weiter: ›Er scheint mir gerade der Mann dazu, dich satt zu bekommen, dich zu verlassen und mit seinem verdammten Schiff davonzugehen. Und so oder so kannst du niemals mit ihm glücklich werden. Sieh dir sein Gesicht an! Ich will dich retten. Siehst du, ich war deiner armen Mutter vielleicht kein sehr guter Gatte. Sie hätte besser daran getan, mich zu verlassen, lange bevor sie starb. Ich habe das alles überdacht. Ich möchte nicht, daß du auch unglücklich wirst.‹

Er ließ seine Blicke mit einer Aufmerksamkeit über sie weglaufen, die überraschend eindringlich war. Dann sagte er: ›Hm. Ja. Gehen wir doch davon, bevor es zu spät ist! Ganz ruhig, du und ich.‹

Sie erwiderte ihm wie unter einer Eingebung, und mit der Ruhe, die die Verzweiflung oft gibt: ›Es ist kein Geld da, mit dem wir davongehen könnten, Papa.‹

Er stand auf und richtete sich ruckweise gerade, als hätte er Scharniere im Leib. Sie sagte mit aller Bestimmtheit:

›Und du wirst doch natürlich nicht daran denken, mich zu verlassen, Papa?‹

›Natürlich nicht!‹ kam seine leise Stimme. Dabei entfernte er sich von ihr, glitt in seiner merkwürdigen Gangart fort, von der mir Herr Powell sagte, daß sie so eintönig und müde schien wie seine Stimme. Er ging immer, als trüge er ein Glas voll Wasser auf dem Kopf.

Flora sagte natürlich Anthony nichts von der erbaulichen Unterhaltung. Seine Großmut wäre vielleicht dadurch auf den Plan gerufen worden, und sie wollte nicht zurückgelassen werden, um ihren Vater alleine zu bändigen. Auch war sie zu ehrenhaft. Sie wollte um jeden Preis ihr Wort halten. Sie wollte nicht als erste sprechen. Niemals. Und der Gedanke drängte sich ihr auf: ›Ich bin wirklich ein unglückseliges Geschöpf!‹

Es war ein reiner Zufall, daß Anthony, als er zwei Tage später auf einen Nachmittag hinauskam, im Obstgarten ein Gespräch mit Herrn Smith hatte. Flora hatte sie aus irgendeinem Grunde einen Augenblick allein gelassen. Und Anthony benutzte die Gelegenheit, um mit Herrn Smith offen zu reden. Er sagte: ›Sie sind, wie mir scheint, der Ansicht, daß Flora nicht ganz richtig gehandelt hat. Nun, ich kann darüber nichts sagen. Ich möchte Ihnen nur zum Bewußtsein bringen, daß ich selbst versucht habe, das Rechte zu tun.‹ Und dann erklärte er ihm, daß er seinen ganzen Besitz letztwillig Flora vermacht habe. ›Sie hat Ihnen nichts davon gesagt, nehme ich an?‹

Herr Smith schüttelte leicht den Kopf. Und Anthony wollte ihm aus reiner Freundlichkeit gerade auseinandersetzen, daß er sich vorgenommen habe, mit dem Schiff wenigstens zwei Jahre lang von der Heimat wegzubleiben: ›Ich glaube, es ist von jedem Gesichtspunkt aus so das beste‹, als Flora zurückkam, und das Gespräch, an diesem Punkte kurz abgebrochen, langsam hinstarb. Später am Abend, als Anthony schon einige Stunden weg war und sie sich eben gute Nacht sagen wollten, bemerkte Herr Smith nach langem Grübeln plötzlich zu seiner Tochter:

›Ein Testament ist gar nichts. Man kann es zerreißen. Man macht ein anderes.‹ Dann fügte er nach kurzer Überlegung unbewegt hinzu:

›Man kann auch Lügen darüber erzählen.‹

Flora, geduldig und gegen jede Verletzung, jeden Widerwillen in einem Maße gestählt, daß sie sich über sich selbst wunderte, sagte nur: ›Du treibst deine Abneigung gegen – gegen – Roderick zu weit, Papa. Du nimmst keine Rücksicht auf mich. Du kränkst mich.‹

Er, undurchdringlich wie immer, so daß sie der Widerspruch zwischen seinem Gleichmut und seinen Worten erschreckte, wandte seine müden Augen von ihr ab.

›Ich möchte nur wissen, wie weit deine Abneigung geht‹, hob er an. ›Sein bloßer Name will dir nicht aus der Kehle. Ich habe es bemerkt. Und das kränkt mich. Was sagst du dazu? Du solltest bedenken, daß du nicht die einzige bist, die durch deine Torheit, deine Hast, deine Rücksichtslosigkeit gekränkt worden ist.‹ Er sah ihr wieder ins Gesicht. ›Und gerade am Tage, bevor ich herausgelassen wurde.‹ Seine schwache Stimme schien ihm völlig zu fehlen, die schmalen, aufeinandergepreßten Lippen zitterten eine Weile, bevor er mit seiner schrecklichen Eintönigkeit hinzufügte: ›Ich nenne es sündhaft.‹

Flora antwortete nicht. Sie hielt es für einfacher, gütiger und bestimmt auch für sicherer, ihn sich aussprechen zu lassen. Und dazu brauchte Herr Smith niemals lange, da er von Natur schweigsam war. Wir dürfen auch nicht etwa glauben, daß es so die ganze Zeit über ging. Flora verlebte in dem Landhaus auch ein paar nette Tage. Anthonys Anwesenheit war eine Erleichterung und seine Besuche ein Vergnügen. Sie war ruhiger. Auch er war ruhiger. Es tat ihr fast leid, als die Zeit gekommen war, an Bord zu gehen. Das war ein Augenblick ängstlicher Aufregung; sie kamen abends in den Docks an, und nachdem Flora es ihrem Vater ›bequem gemacht‹ hatte, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war, hielt sie sich noch lange genug in seinem Wohnzimmer auf, um bemerken zu können, daß er überrascht war. Sie ertappte ihn dabei, wie seine blassen Augen sie kalt beobachteten. Dann verließ sie ihn nach einem zärtlichen ›Gute Nacht‹.

Entgegen ihren Hoffnungen fand sie Anthony noch im Salon. Er saß in seinem Armstuhl am Kopfende des Tisches und räumte einige Geschäftspapiere zusammen, die er nun, im Aufstehen, hastig in die Brusttasche steckte. Er fragte sie, ob sie sich von dem Tag müde fühle, da sie erst in die Stadt hineingefahren sei und dann Einkäufe gemacht habe. Sie schüttelte den Kopf. Dann wünschte er in halb spaßhaftem Tone Auskunft darüber, wie sie sich dabei vorkomme, daß sie weggehen solle, und diesmal für lange.

›Macht es etwas aus, wie ich mir vorkomme?‹ fragte sie in einem Tone, der sofort einen Schatten über sein Gesicht warf. Er antwortete mit einer unterdrückten Heftigkeit, die sie nicht erwartet hatte:

›Nein, das macht nichts aus, denn ich kann ohne dich nicht gehen. Das habe ich dir gesagt . . . Du weißt es. Du glaubst selbst nicht, daß ich es könnte.‹

›Ich versichere dir, daß ich nicht die leiseste Absicht habe, mich meinen Verpflichtungen zu entziehen‹, sagte sie ruhig. ›Nicht einmal, wenn ich es könnte. Nicht einmal, wenn ich es fertigbrächte! Und wenn ich dafür sterben müßte!‹

Er sah aus, als hätte ihn der Blitz gerührt. Sie standen einander am Ende des Salons gegenüber. Anthony stammelte: ›O nein, du wirst nicht sterben. Das glaubst du doch selbst nicht. Du hast dich so gut an die See gewöhnt.‹

Sie lachte, war dabei aber ärgerlich.

›Nein, ich glaube es nicht. Ich sage dir, ich habe nicht die Absicht, mich meinen Verpflichtungen zu entziehen. Ich werde weiter leben . . . und mich dabei aber trotzdem ein wenig bedrückt fühlen.‹

›Bedrückt?‹ wiederholte er. ›Was bedrückt dich?‹

›Deine Großmut‹, sagte sie scharf. Doch ihre Stimme milderte sich bald. ›Aber ich weiß nicht einmal . . . Es liegt eine Vollendung darin – verstehst du mich, Roderick? – die sie beinahe erträglich macht.‹

Er seufzte, sah weg und meinte, es sei Zeit, die Lampe im Salon auszulöschen. Sie hätten nur bis zehn Uhr abends Erlaubnis.

›In deiner Kabine brauchst du aber nicht so scharf darauf zu achten. Sieh nur zu, daß die Vorhänge gut zugezogen sind, mehr braucht es nicht. Der Steward könnte vergessen haben, es zu tun. Er hat deine Leselampe angezündet, bevor er an Land gegangen ist, um einen letzten Abend mit seiner Frau zu verbringen. Ich weiß nicht, ob es klug war, Frau Brown abzuschaffen. Du wirst nun für dich allein sorgen müssen, Flora.‹

Er schien förmlich ängstlich; doch Flora beglückwünschte sich tatsächlich dazu, daß Frau Brown fort war. Sie hatte kaum die Türe ihrer Kabine hinter sich geschlossen, als sie inbrünstig vor sich hinmurmelte: ›Ja! Gott sei Dank, sie ist fort.‹ Nun würde es kein leises Anklopfen mehr geben, von einem höflichen Eintreten und der unerträglichen Frage gefolgt: ›Kann ich etwas für Sie tun, Madam?‹ was alles, zugleich mit den zweideutigen Blicken, die arme Flora mehr fürchten und hassen gelernt hatte als irgendeine andere Stimme oder andere Worte an Bord dieses Schiffes – ihrer einzigen Zuflucht vor der Welt, die für sie selbst, ihre Mängel und Sorgen nichts übrig hatte.

 

Frau Brown war über ihre Entlassung sehr ungehalten gewesen. Die Browns waren kinderlos, und das Übereinkommen hatte ihnen ausgezeichnet gepaßt. Nun war ihr Unwille um so bitterer. Frau Brown mußte an Land allein mit ihrer Wut zurückbleiben, der Steward aber nährte die seine an Bord. Die arme Flora hatte keinen größeren Feind, der bekümmerte Erste Offizier keinen unbedingteren Anhänger. Und Frau Brown war mit der raschen Beobachtungs- und Kombinationsgabe der Frau (der Fähigkeit, zwei und zwei zusammenzusetzen) zu einem gewissen Schluß gekommen, den sie ihrem Manne vor dem Verlassen des Schiffes mitteilte. Der mürrische Steward erlaubte sich einmal eine dahinzielende Bemerkung in Powells Hörweite. Es war in der Offiziersmesse, gegen Ende einer Mahlzeit, wo er noch herumstand, nachdem er eine Obsttorte auf den Tisch gesetzt hatte. Er und der Erste Offizier begannen eine Unterhaltung über die beunruhigende Veränderung, die mit dem Kapitän vor sich gegangen war, wobei der blasse Steward mit düsterem Stirnrunzeln hinuntersah, während Franklin seine gefühlvollen Augen in dem roten Gesicht zu ihm aufschlug. Jung Powell hatte damals schon eine Menge davon gehört. Es wurde langweilig; es war ihm immer ein wenig töricht vorgekommen. Er fiel ungeduldig mit der Bemerkung ein, daß diese Wehklagen um einen Mann, einfach weil er eine Frau genommen hatte, ihm wie blanker Irrsinn erschien.

Franklin murmelte: ›Es kommt darauf an, worauf die Frau aus ist.‹ Der Steward, der neben der Türe am Schott lehnte, sah düster nach Powell, diesem Neuling, diesem unbeschriebenen Blatt, diesem Fremdling ohne Daseinsberechtigung, und zischte dazu:

›Frau! Sie nennen sie Frau, nicht wahr?‹

›Was zum Teufel meinen Sie damit?‹ rief Jung Powell.

›Ich weiß, was ich weiß. Meine Alte ist nicht umsonst sechs Monate an Bord gewesen. Sie sollten lieber die fragen, wenn wir zurückkommen.‹

Und der Steward hielt Jung Powells drohenden Blick trotzig aus und zog sich zurück.

Unser junger Freund wandte sich sofort dem Ersten zu. ›Und Sie lassen diesen verdammten Tellerspüler in Ihrer Gegenwart so reden, Herr Franklin? Nun, ich bin erstaunt!‹

›Oh, es ist nicht das, was Sie glauben, nicht das, was Sie glauben.‹ Herr Franklin sah schlagflüssiger aus als je zuvor. ›Aber wenn es darauf ankommt, könnte ich Sie zum Staunen bringen. Es hat nur keinen Zweck. Ich selbst kann nur mit Mühe . . . Sie könnten es nicht verstehen. Ich hoffe, Sie werden keinen Wirbel machen. Es hat eine Zeit gegeben, junger Mann, wo ich es keinem Menschen – Sie verstehen mich – keinem Menschen geraten hätte, zwischen mir und Kapitän Anthony Unfrieden stiften zu wollen. Doch jetzt nicht. Jetzt nicht. Es hat sich etwas geändert. Nicht in mir allerdings . . .

Jung Powell wies mit Entrüstung den Verdacht zurück, daß er etwa den Zwischenträger spielen könnte. ›Wofür halten Sie mich?‹ rief er aus. ›Nur sollten Sie dem Steward beibringen, daß er mit seinen Worten in meiner Gegenwart vorsichtig sein soll, sonst könnte ich ihm für einen Monat oder so die Visage verderben und es ihm überlassen, es dem Kapitän, so gut er kann, zu erklären.‹

Seit diesem Gespräch galt Jung Powell als der Ritter der Frau Anthony. In seiner Gegenwart wurde nie mehr eine Andeutung über diese Fragen gemacht. Die finsteren Blicke des Stewards kümmerten ihn nicht; Franklin, der selbst während der besten Zeiten niemals gesprächig gewesen war und nun auch den einzigen Gesprächsstoff vermied, der ihm zunächst am Herzen lag, redete ihn nur noch in dienstlichen Angelegenheiten an. Und auch das kümmerte Powell ganz wenig. Das Gejammer des schlagflüssigen Ersten hatte lange zuvor schon angefangen, ihn zu langweilen. Dennoch fühlte er sich zuzeiten etwas einsam. Darum wurde die Unterhaltung mit Frau Anthony während der einen oder anderen Abendwache ein Gegenstand der Vorfreude. Der Kapitän machte keine Schwierigkeiten. Das ging aus seinem Benehmen klar hervor. Eines Nachts erkundigte er sich (sie waren allein auf dem Hüttendeck), worüber sie sich an dem Abend unterhalten hätten. Powell mußte zugeben, daß es über das Schiff gewesen war. Frau Anthony habe ihm Fragen gestellt.

›Nimmt Anteil, wie?‹ warf der Kapitän hin, während er rasch auf der Luvseite auf und ab ging.

›Jawohl, Herr. Frau Anthony scheint sich das, was man ihr sagt, großartig zu merken.‹

›Enkelin eines Seemanns. Von einem aus der alten Schule. Muß ein Seebär vom besten Schlag gewesen sein, stelle ich mir vor‹, brachte der Kapitän heraus, während er hinter seinem regungslosen Zweiten Offizier vorbeisauste; er ließ die Worte hinter sich wie einen Funkenregen, von einer völligen Dunkelheit im Gespräch gefolgt, denn während der nächsten zwei Stunden, bis er das Deck verließ, öffnete er die Lippen nicht wieder.

Bei einer anderen Gelegenheit – wir dürfen nicht vergessen, daß das Schiff den Äquator gekreuzt hatte und jeden Tag mehr sich den südlichen Breiten näherte – bei einer anderen Gelegenheit, gegen sieben Uhr abends, war Powell auf Wache und hörte von der Kajütentreppe her leise seinen Namen rufen. Der Kapitän stand auf der Treppe, die Augen tief eingesunken in dem mageren Gesicht, und hielt ein wollenes Shetlandtuch über dem Arm.

›Herr Powell, da!‹

›Jawohl, Herr.‹

›Geben Sie das Frau Anthony. Die Abende werden kühl.‹

Und der magere Kopf sank außer Sicht. Frau Anthony war überrascht, als sie den Schal sah.

›Der Kapitän wünscht, daß Sie dies umlegen‹, erklärte Jung Powell. Und während sie sich in ihrem Stuhl leicht hob, hüllte er ihre Schultern ein. Sie wickelte sich fest ein.

›Wo war der Kapitän?‹ fragte sie.

›Er war auf der Kajütentreppe. Hat mich eigens gerufen‹, sagte Powell und zog sich dann taktvoll zurück, denn sie sah aus, als wollte sie an diesem Abend nicht weiterreden. Herr Smith, der alte Herr, saß wie gewöhnlich auf dem Deckfenster nahe dem Kopfende ihres Liegestuhls und brütete, schien aber offenbar diesen Unterhaltungen der beiden Jüngsten an Bord durchaus nicht abgeneigt. Er schien sogar ein gewisses Vergnügen daran zu finden. Dann und wann hob er wohl seine blassen Porzellanaugen nachdenklich zu Jung Powells erregtem Gesicht auf. In Gegenwart des jungen Seemanns verlor der alte Mann etwas von seiner Steifheit, und wenn, selten einmal, seine Tochter über eine von Powells kunstlosen Geschichten lächelte, dann spiegelte sich ein matter Abglanz dieser Heiterkeit auch auf dem ausdruckslosen Gesicht des Herrn Smith. Denn Herr Powell war nun dazu übergegangen, die Frau seines Kapitäns mit Geschichten aus der nicht sehr weit abliegenden Vergangenheit zu unterhalten, wo er noch ein Junge war und auf verschiedenen Schiffen gedient hatte. – Auf Schiffen geschehen komische Sachen. Flora war ganz überrascht davon, daß es ihr Spaß machte. Man hörte sie sogar zweimal im Laufe eines Monats lachen. Es war kein lauter Ton, aber doch aufregend genug auf dem Hinterschiff der Ferndale, wo leise Worte oder Schweigen die Regel waren. Als das zum zweitenmal geschah, muß, irgendwo unter Deck, sogar der Kapitän selbst erschrocken sein; denn er tauchte aus den Tiefen seines verborgenen Daseins auf und begann unvermittelt sein Hin und Her auf der anderen Seite des Decks.

Fast augenblicklich nachher rief er seinen jungen Zweiten Offizier zu sich. Das geschah durchaus nicht unwillig. Der Blick, den er auf Herrn Powell richtete, drückte eine Art zustimmender Verwunderung aus. Er verwickelte ihn in ein nebensächliches Gespräch, als verfolgte er einzig die Absicht, einen Mann, der diesen Ton hervorzurufen vermochte, in seiner Nähe festzuhalten. Herr Powell hatte das Bewußtsein, zu gefallen. Ganz deutlich. Diesem hageren, ruhelosen Mann zu gefallen, der ihm zusammenhanglose Sätze zuwarf; die Antworten darauf waren ›Jawohl, Herr‹, ›Nein, Herr‹, ›O gewiß‹, ›Ich denke schon, Herr‹ – und hätten nach allem Anteil, den der andere daran zu nehmen schien, ebensogut auch anders sein können.

Damals war es, sagte mir Herr Powell, daß er in sich selbst eine lange schon bestehende Zuneigung zu Kapitän Anthony entdeckte. Er bedauerte ihn auch, ohne aber den Ursprung dieses Gefühls entdecken zu können, das ihm so plötzlich bewußt geworden war.

Unterdessen beugte sich Herr Smith, eckig, als hätte er ein Gelenk im Rückgrat, zu seiner Tochter vor und redete auf sie ein.

Sie war kein Kind mehr. Er wünschte zu wissen, ob sie an – an die Hölle glaube? An die ewigen Strafen?

Seine merkwürdige Stimme, die klang, als würde sie durch Baumwolle gefiltert, war auf der anderen Seite des Decks nicht zu hören. Die arme Flora, völlig überrumpelt, murmelte eine Entgegnung, schüttelte leicht den Kopf und sah nach dem auf und ab gehenden Anthony hinüber, der ihr aber den Blick nicht zuwandte. Es hatte keinen Sinn, in jene Richtung zu sehen. Von Jung Powell, der am Besanmast lehnte und seinem Kapitän ins Gesicht sah, konnte sie nur die Schultern und einen Teil des Rückens in der blauen Tuchjacke sehen.

Und die eintönige, gleichmütige Stimme ihres Vaters fuhr fort, sie zu quälen.

›Du mußt mich recht verstehen, siehst du. Als ich aus dem Gefängnis herauskam, da war ich froh. Das heißt, mein Herz war ja so ziemlich zerbrochen; doch immerhin: dich glücklich zu sehen – das hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Sobald ich einmal sicher gewesen wäre, daß du glücklich warst, dann hätte ich natürlich keinen Grund gehabt, am Leben zu hängen, kurz gesagt. – Ganz begreiflich bei einem alten Mann; obwohl natürlich . . . auch keinen Grund, mir den Tod zu wünschen. Aber dieses Leben hier! Welchen Sinn, welchen Verstand, welchen Wert soll es für dich oder für mich haben? Es heißt nur dasitzen und dem Tod entgegensehen, der langsam, langsam kommt. Was anders ist es? Ich verstehe nicht, wie du dich damit abfinden kannst. Ich glaube auch nicht, daß du es lange ertragen kannst. Eines Tages wirst du über Bord springen.‹

Kapitän Anthony war einen Augenblick stehengeblieben, sah vom Vorderschott der Hütte gerade voraus, und die arme Flora hinter ihm schoß einen verzweifelten, hilfeflehenden Blick auf seinen Rücken, der ein Herz aus Stein gerührt haben müßte. Doch er rührte sich nicht im geringsten, als hätte sie gar nichts getan. Sie stand aus ihrem Liegestuhl auf und ging auf die Kajütentreppe zu. Ihr Vater folgte ihr und trug einige kleine Gegenstände, ein Handtäschchen, ihr Taschentuch, ein Buch. Sie gingen miteinander unter Deck.

Dann erst wandte sich Kapitän Anthony um, sah nach dem Platz, den sie verlassen hatten, und nahm seine Wanderung wieder auf, nicht aber die Unterhaltung mit seinem Zweiten Offizier. Seine nervöse Überreizung war so arg geworden, daß er jetzt häufig die Gewalt über seine Stimme verlor. Wenn er nicht genau aufpaßte, so erstarb sie ihm oft in der Kehle. Er mußte sich erst vergewissern, bevor er das einfachste Wort sprach, einen Befehl gab, eine Bemerkung über den Wind machte oder einfach guten Morgen wünschte. Daher war seine Sprechweise so abgerissen, seine Antworten an die Leute merkwürdig schroff; oft kamen sie gar nicht heraus.

Es geschieht auch den entschlossensten Männern, daß sie sich plötzlich nicht nur in der Gewalt unbekannter Mächte finden, sondern in der einer gut bekannten Macht, deren volle Tragweite sie bis dahin nicht begriffen hatten. Anthony hatte entdeckt, daß er nicht der stolze Meister, sondern der hilflose Sklave seiner Großmut war. Sie erhob sich vor ihm wie eine Mauer, die zu überklettern ihm seine Selbstachtung verbot. Er sagte sich: ›Ja, ich war ein Narr – aber sie hat mir vertraut.‹ Vertraut! Ein furchtbares Wort für jeden Mann! Etwas Außergewöhnliches in einer Welt, in der der Erfolg niemals durch gutgläubigen Verzicht erzwungen worden ist. Überdies muß, um Anthony nicht noch törichter erhaben erscheinen zu lassen, als er es war, gesagt werden, daß Floras Benehmen ihn in einem gewissen Abstand hielt. Das Mädchen fürchtete sich, die Verzweiflung ihres Vaters zu steigern. Es war ihr unglückliches Los, durch ihr einziges Gefühl, in das sie keinen Zweifel setzen konnte, noch tiefer niedergedrückt zu werden. Dennoch brachte sie keinen Zorn dagegen auf, und aus Achtung vor diesem übertriebenen Gefühl wagte sie kaum anders als heimlich nach dem Manne hinzusehen, dessen starkes Mitleid sie mit fortgerissen hatte. Und völlig unfähig, das Ausmaß von Anthonys Feingefühl zu verstehen, sagte sie sich, daß ihm ›nichts daran liege‹. Im Grunde seines Herzens begann er sie wohl auch zu verabscheuen – wie die Erzieherin, wie die alte Dame, wie die deutsche Dame, wie Frau Fyne, wie Herr Fyne – nur war er ein Ausnahmemensch, er war großmütig. Gleichzeitig hatte sie auch Anwandlungen von Unwillen. Er war heftig, hartköpfig – dumm vielleicht. Nun, er hatte seinen Willen gehabt.

Ein Mann, der seinen Willen gehabt hat, ist selten glücklich, denn meistens findet er, daß er damit in dieser Welt voll unerfüllbarer Sehnsucht nicht weit kommt. Anthony war mit größtem Ungestüm in den Zaubergarten der Armida eingetreten und hatte sich gesagt: Endlich! Gegen Armida selbst gedachte er keinerlei Gewalt zu gebrauchen. Doch nun hatte er entdeckt, daß aller Zauber in Armida selbst lag, in Armidas Lächeln. Diese Armida lächelte nicht. Sie lebte unzugänglich hinter der hohen Mauer seines Verzichts. Seine Kraft, zur Tat geschaffen, hatte unter der Ungeduld zu leiden, der Entrüstung, fast der Verzweiflung darüber, daß sein Vorwärtsdrängen gehemmt, unterbunden war und von der Zeit allmählich zermürbt wurde; von der blinden, sinnlosen Macht, die untätig scheint und doch unmerklich ein Leben aufzehrt, indem sie, Tropfen um Tropfen, auf ein lebendes Herz fällt, wie Wassertropfen einen Stein aushöhlen.

Er verzehrte sich in Selbstvorwürfen. Was sonst hätte er tun können? Er war wie ein rechter Grobian hineingetappt, hatte das arme, schutzlose Ding sozusagen bei den Haaren an Bord seines Schiffes gezerrt. Es war wirklich unmenschlich. Nichts sprach dafür, daß er persönlich für sie oder sonst eine Frau anziehend sein konnte. Und sein Vorgehen an und für sich war genug, um ihn jedem Menschen unausstehlich scheinen zu lassen. Er mußte den Verstand verloren haben. Natürlich mußte sie ihn verabscheuen und fürchten. Nichts konnte mit solcher Roheit versöhnen; und doch litt er auch unter ihrer Haltung, die ihm so völlig gerechtfertigt schien. Denn sicher war er doch nicht gar so unmenschlich (seelisch heißt das), als daß man ihn nicht gelegentlich hätte offen ansehen können? Aber nein! Sie wollte nicht. Nun, vielleicht, eines Tages . . . Nur dachte er nicht im entferntesten an den Versuch, etwa um Verzeihung zu bitten. Bei dem Widerwillen, den sie gegen ihn empfand, würde sie sicherlich die bestgewählten Worte mißverstehen, ebenso wie die vorsichtigsten Annäherungen. Niemals! Niemals!

Am Ende solcher Erwägungen drängte sich Anthony der Gedanke auf, daß der Tod schließlich kein so unerwünschter Gast sei. Kein Wunder also, daß damals sogar Jung Powell, dessen Beobachtungsgabe geweckt worden war, sich Gedanken darüber zu machen begann, an dem Manne, dem er sein Lebensglück verdankte, sei etwas Außergewöhnliches. Ja, ganz sicher, sein Kapitän war ›absonderlich‹. Irgend etwas stimmte nicht, sagte er sich, ohne aber dabei zu ahnen, daß vor seinen jungen, unschuldigen Augen sich eine tiefe, alles beherrschende, tödliche Leidenschaft abspielte, die eben erst zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen war und nun erschüttert vor der eigenen Hilflosigkeit und Unheilbarkeit stand.

Powell hatte dieses geheimnisvolle Unbehagen nie so stark empfunden wie an dem Abend, wo es ihm zum guten Glück gelungen war, Frau Anthony mit seinen kunstlosen Geschichten zum Lachen zu bringen. Er war abseits gestanden und hatte seinem Kapitän zugesehen, wie er auf der Luvseite auf und ab lief, hatte sich seine Zuneigung für den so absonderlichen Mann klar gemacht und war ihm schließlich mit teilnahmevollen, aber verständnislosen Blicken gefolgt, während er auf die Kajütentreppe zugegangen und sie hinuntergestiegen war.

Kurz darauf kam Herr Smith allein an Deck und zeigte Lust zu einem kleinen Gespräch. Auch er war, wenn schon nicht so geheimnisvoll wie der Kapitän, so doch für Jung Powells unberührte Lebensfremdheit schwer verständlich. Er zeichnete den Zweiten Offizier oft in solcher Weise aus. In seinen Worten spielte er oft etwas rätselhaft und ohne rechten Zusammenhang auf Herrn Powells Freundlichkeit gegen ihn selbst und seine Tochter an. ›Denn ich weiß natürlich recht gut, daß wir an Bord dieses Schiffes keine Freunde haben, mein lieber junger Mann,‹ pflegte er hinzuzufügen, ›außer Ihnen selbst. Auch Flora empfindet das.‹

Und Herr Powell, geschmeichelt und verlegen, konnte nur wenige Worte des Widerspruchs murmeln, denn die Behauptung war ja bis zu einem gewissen Grade richtig, wenn auch die Tatsache an sich bedeutungslos war. Die Gefühle der Schiffsmannschaft konnten der Frau des Kapitäns und Herrn Smith – ihrem Vater – wahrhaftig nichts ausmachen. Daß dieser letztere so oft darauf anspielte, überraschte Herrn Powell. Es geschah ja nicht etwa nur bei einer Gelegenheit, sondern vielleicht zwanzigmal. Damals also lehnte der alte Herr an der Reling, sah auf das Wasser hinaus und setzte mit seiner schwachen, eintönigen Stimme das Gespräch, oder vielmehr die Bemerkungen fort, Bemerkungen, die so ungeheuerlich waren, daß Herr Powell nicht umhin konnte, sie für schlechte Scherze zu halten.

›Der Erste Offizier zum Beispiel,‹ meinte Herr Smith, ›Herr Franklin – der würde uns, denke ich mir, ebenso gerne über Bord sehen wie hier.‹

›So schlimm ist es nicht‹, lachte Herr Powell verlegen, denn er vermochte sich mit übertriebenen Behauptungen nicht leicht abzufinden. ›Er ist wirklich kein böser Mensch‹, fügte er hinzu, dachte aber dabei an Herrn Franklins beleidigendes Benehmen, für das es nicht an Beweisen mangelte. ›Er ist dumm genug, eifersüchtig zu sein. Er ist jahrelang mit dem Kapitän zusammengewesen. Ich sollte das vielleicht nicht sagen, aber es scheint mir, daß der Kapitän alle die alten Leute etwas verdorben hat. Sie sind wie eine Meute von alten Lieblingshunden, möchten am liebsten niemanden in die Nähe lassen, wenn sie es verhindern können. Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen. Und der Zweite Offizier war ja, glaube ich, auch so.‹

›Nun, er ist ja zum Glück nicht hier. Das wäre ein Feind mehr gewesen‹, erwiderte Herr Smith. ›Es sind ohnedies noch genug da. Und daß Sie an seiner Stelle hier sind, macht es viel leichter für mich wie für meine Tochter. Man hat das Bewußtsein, daß für den Notfall ein Freund da ist. Denn wirklich, eine Frau ganz allein auf einem Schiff unter lauter feindseligen Männern . . .

›Aber Frau Anthony ist ja nicht allein‹, rief Powell aus. ›Sie sind da und . . .

Herr Smith unterbrach ihn.

›Niemand ist unsterblich. Und es gibt Zeiten, wo man sich schämt, weiterzuleben. An einem Abend wie heute zum Beispiel.‹

Es war ein schöner Abend. Die Farbenpracht eines klaren Sonnenuntergangs war verblichen und der Hauch einer klaren Brise schien die See geglättet zu haben. Weit im Süden blitzte das Wetterleuchten auf wie der Schein einer ungeheuren, unter dem Horizont verborgenen Laterne. Um den Gesprächsgegenstand zu wechseln, sagte Powell:

›Wenigstens kann Ihnen niemand den Vorwurf machen, daß Sie ein Jonas sind, Herr Smith. Wir haben bisher eine großartige Überfahrt gehabt. Der Kapitän kann seine Freude haben. Und ich denke mir, Sie sind ja auch nicht traurig.‹

Dieser Ablenkungsversuch hatte keinen Erfolg. Herr Smith kicherte böse vor sich hin und sagte: »Jonas! Das ist der Mann, den ein paar Matrosen über Bord geworfen haben. Mir scheint, es ist auf See recht leicht, einen Menschen loszuwerden, den man nicht mag. Die See gibt ihre Toten nicht wieder heraus, wie es die Erde tut.«

›Sie vergessen den Walfisch!‹ sagte Jung Powell.

Herr Smith fuhr auf: ›Wie? Welchen Walfisch? Oh, Jonas! Ich dachte nicht an Jonas. Ich dachte an diese Überfahrt, die Ihnen so schnell vorkommt. Aber bedenken Sie auch, was sie für mich ist? Es ist kein Leben, sich so auf den Meeren herumzutreiben. Und angenommen, man würde krank, dann ist nicht einmal ein Arzt da, der nach einem sehen könnte. Das ist trostlos. Es macht mich zuweilen ganz ängstlich.‹

›Fühlt sich Frau Anthony nicht wohl?‹ erkundigte sich Powell. Aber die Bemerkung des Herrn Smith hatte nicht auf Frau Anthony gezielt. Der ging es gut. Ihm selbst ging es auch gut. Der Gesundheitszustand des Kapitäns aber schien nicht ganz zufriedenstellend. Ob wohl Herr Powell dessen Aussehen beobachtet hätte?

Herr Powell kannte den Kapitän nicht gut genug, um urteilen zu können. Er konnte nichts dazu sagen, bemerkte aber nachdenklich, daß Herr Franklin die gleiche Beobachtung gemacht hatte. Und Franklin kannte den Kapitän seit Jahren. Der Erste Offizier war ganz bekümmert gewesen.

Diese Mitteilung regte Herrn Smith beträchtlich auf. ›Glaubt er, daß er in Lebensgefahr ist?‹ rief er aus, in einer Erregung, die an ihm ganz ungewöhnlich wirkte und Herrn Powell entsetzte.

›Großer Gott, Lebensgefahr! Nein! Regen Sie sich nicht auf, Herr! Ich habe von Herrn Franklin nie ein Wort darüber gehört.‹

›Gut, gut‹, seufzte Herr Smith und ging ziemlich unvermittelt vom Hüttendeck weg in die Kajüte.

Unterdessen war Herr Franklin schon geraume Zeit an Bord gewesen. Er war heraufgekommen, um Herrn Powell abzulösen. Da er ihn aber im Gespräch mit dem ›Feind‹ – mit einem der ›Feinde‹ – gefunden, so hatte er sich abseits gehalten, was durchaus nicht schwer war, denn das Hüttendeck der Ferndale war fast fünfundzwanzig Meter lang. Nun sah ihn Herr Powell in trübem Schweigen dastehen, den Ellbogen auf die Reling gestützt. ›Oh, hier sind Sie, Herr.‹

›Hier bin ich. Hier bin ich seit sechs Uhr. Wollte die schöne Unterhaltung nicht stören. Wenn es Ihnen Spaß macht, dem Gespräch mit Ihrem lieben Freunde Ihre halbe Freiwache zu opfern, so ist das nicht meine Sache. Ein komischer Geschmack allerdings.‹

›Er ist kein übler Mensch‹, sagte der unparteiische Powell.

Der Erste schnaufte ärgerlich und stampfte mit dem Fuß, dann meinte er: ›So, nicht? Nun, richten Sie ihm alles Schöne von mir aus, wenn Sie das nächste Mal zu einer netten Plauderstunde mit ihm zusammenkommen.‹

›Ich muß sagen, Herr Franklin, ich wundere mich, daß der Kapitän an Ihrem Benehmen keinen Anstoß nimmt.‹

›Der Kapitän! Ich wünschte bei Gott, er würde einen Streit mit mir anfangen, dann wüßte ich wenigstens, daß ich an Bord noch etwas bedeute! Ich würde es begrüßen, Herr Powell. Ich würde mich darüber freuen. Und verdammt will ich sein, wenn ich ihm nicht widersprechen wollte, bis er richtig außer sich wäre. Er ist nur ein Schatten seiner selbst. Er wandert auf seinem Schiff herum wie ein Gespenst. Er vergeht uns unter den Augen. Aber Sie natürlich sehen das nicht. Sie scheren sich keinen Pfifferling darum. Warum sollten Sie auch?‹

Herr Powell wartete das Weitere nicht ab und ging hinunter. Ohne das Gejammer des Ersten ernst zu nehmen, hielt er es doch mit den Worten des Herrn Smith zusammen. Er hatte Kapitän Anthony schon liebgewonnen. In dem Mann lag etwas nicht nur Anziehendes, sondern Bezwingendes. Es ist nur für die Jugend sehr schwer, an den drohenden Tod zu glauben. Nicht an die Tatsache an sich, sondern daran, daß er einem atmenden, regsamen, sprechenden, überlegenen Menschen, der keine Anzeichen von Krankheit aufweist, unmittelbar bevorstehen soll. Und Herr Powell hielt das ganze Gerede für Unsinn. Doch seine Neugier war erwacht. Es war etwas los, und jedenfalls konnten Umstände eintreten . . . Nein, er würde es nie herausbringen. Höchstwahrscheinlich war gar nichts herauszubringen. Herr Powell ging in seine Kabine und versuchte ein Buch zu lesen, das er schon einige Male durchgelesen hatte. Gleich darauf läutete die Glocke zum Abendessen für die Offiziere.«

 


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